Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1907 - Fritz Kummer
In Jaffa [Tel Aviv] und Jerusalem

Nach zwölfstündiger Fahrt näherten wir uns der syrischen Küste. Sandgraues, ewiges Einerlei. Kein Baum, kein Strauch, kein Wasserlauf zu erspähen. In der Ferne winkt Jaffa. Die Hafenstadt Jerusalems macht vom Meere aus einen so üblen Eindruck nicht. Hart am Strande erheben sich weißgraue Steinbauten von orientalischer Bauart. Die Häuser bedecken einen Hügel. In der Niederung zeigen sich grüne Gärten. Weit vom Ufer wird Anker geworfen. Hier ist eine der gefährlichsten Landungsstellen der Welt. Der Seegang ist zeitweise so schwer, daß überhaupt nicht geankert werden kann. Ein Dutzend Boote kommt herangeschwommen; sehnige Gestalten führen die Ruder. Der Takt für den Ruderschlag wird durch Gesang gegeben. Mit einer günstigen Welle setzt der Bootsführer mit Gesang ein, seine Gesellen schlagen mit Ruder und Stimme nach. Der Kahn verschwindet hinter einem Wasserberg, taucht aber gleich wieder empor. Vom sicheren Schiffsboden sieht sich der Kampf zwischen Naturkraft und Menschenkraft nicht übel an. Unangenehmer wird die Sache schon, wenn man auf schwankender Schiffsleiter eine günstige Wellenbewegung für den Sprung ins Boot zu erhaschen trachtet. Aber wenn man 5 Schilling für die Landung allein bezahlt, muß man auch Seeabenteuer erleben wollen.
   Die Durchschlängelung durch die vielen Felsenriffe ist glücklich gelungen. Die Passagiere atmen erleichtert auf Langsam nähert sich die Landungsbrücke. Türkische Beamte stehen zum Empfang bereit: "Passeport! Passeport!" schrien sie aus vollem Halse.
   Eigentümlich, solange man den Reisepaß in der Tasche fühlt, fragt niemand danach. Auf meinen vielen Reisen bin ich auch nicht ein einziges Mal nach einem Paß gefragt worden, ausgenommen die paar Fälle, wo mich der Teufel in deutsche Konsulate ritt, und nun, wo ich keinen habe, soll ich einen vorweisen. Jetzt kann es noch kommen, daß mir, dem unschuldigen Pilger, bei dem sich die Erwartung eines halben Menschenlebens erfüllen soll, der Eintritt ins gelobte Land verwehrt wird.
   Doch die Sache sieht gefährlicher aus, als sie ist. Mit dem "großen amerikanischen Handschlag" ist auch hier drohendes Unheil zu beschwören. In der linken Hand halte ich einen mit mächtigen Siegellackfladen bedeckten Briefumschlag, mit der rechten drückte ich fünf große Piaster (1 Piaster = 20 PC) in die Polizeihand, worauf das erlösende Wort: "Passez!" ertönt. Zu allem Überfluß werde ich für die Piaster auch noch am Tisch des Zollhauses vorbeibalanciert. Da sage noch einer, das heidnische Türkenreich sei der christlichen Zivilisation nur schwer zugänglich.
   Den Hinaustritt auf die Straße begrüßt eine Horde zerlumpter Kinder mit: "Backschisch! Backschisch!" (Trinkgeld!) An meinem Handgepäck üben mehrere braune Gesellen ihre Muskelkraft. Auch diese hatten als Feldgeschrei: "Backschisch!" gewählt. Als Retter aus dieser verzwickten Lage erschienen andere Pilger auf der Schwelle des Zollhauses. Die armen Eingeborenen hatten ihre Stimm- und Muskelkraft doch wahrhaftig lange genug vergeblich an mir versucht, daß es ihnen hätte dämmern müssen, daß einem Distelstrauch nun einmal Feigen nicht abzuknöpfen sind. Ihre Einsicht wuchs erst, als ich verschiedene Male auf die Ankömmlinge hingewiesen hatte. Den aus dem Zollhaus kommenden Pilgern war augenscheinlich der Schädel noch ganz heiß von dem Streit mit den Zollmenschen, so konnte es ihnen auf ein bißchen mehr Streit füglich nicht ankommen. In sicherer Entfernung machte ich halt, um ein wirkliches, mit blutigem Ernst gespieltes Drama anzusehen. Beide Teile spielten den Kampf meisterhaft; die Eingeborenen geduldig, beharrlich, die Pilger fuchtig, ekelhaft kreischend. Das Spiel zwischen Pilgern und Bettlern war entschieden unchristlich und sehr ergötzlich auch.
   Die Einwohnerschaft Jaffas scheint wenig für die Belebung der Ortsgeschichte, die sehr wechselvoll ist, übrig zu haben. Noch nicht einmal eine Gedenktafel erinnert daran, daß es nahebei war, wo der Prophet Jonas von einem Seeungeheuer verschlungen wurde. Der christliche Teil der Bürgerschaft hält es auch nicht vonnöten, die Taten ihrer mit Feuer und Schwert für das Kreuz kämpfenden Vorfahren der Mitwelt ins Gedächtnis zu rufen, ansonsten sie dem Richard Löwenherz, der bei Jaffa die Sarazenen schlug, ein Denkmal hätte setzen müssen.
   Das Jaffa von heute scheint sich von dem Joppe der biblischen Zeit wenig zu unterscheiden. Das Aussehen der inneren Stadt kann nicht viel anders, die Gäßchen können nicht enger, die Einwohner nicht ärmer gewesen sein zu jener Zeit, wo die Apostel auf ihrer Reise nach Rom hindurchzogen. In den beängstigend schmalen Gassen treibt reges Leben. Hastig eilen Christen, Juden und Muselmänner mit Lasten vorüber. Kamele und Esel ziehen träge dahin, selbst Stock und Schimpf verfehlt bei ihnen die Wirkung. An den freien Plätzen sitzen auf niedrigen Schemeln Söhne Israels bei schreiender Unterhaltung, den Topf der Wasserpfeife im kühlenden Naß der Pfützen. Beim Gang zwischen den Häuserreihen steigt ein beklemmender Geruch in die Nase, wodurch einem die Ansicht aufgezwungen wird, daß hier die Abladestellen für natürlichen Dünger sehr zahlreich und zu wenig gehegt sein müssen. Wir sind eben im Orient.
   Der neue Teil der Stadt bietet ein angenehmeres Bild. Hier sind die Straßen breit, die Häuser sauber; gut gepflegte Gärten mit Palmen und Blumen erfreuen das Auge. Nicht weit davon ist die Haltestelle der Jerusalemer Bahn. Einige Beamte sprechen französisch. Die Bekanntmachungen in den Wagen sind in arabischer und französischer Sprache. Zweimal täglich kriecht ein Züglein hinauf in die heilige Stadt. Die 87 Kilometer lange Strecke kann, wenn Gott dem Gefährt seine Hand nicht ganz entzieht, in vier Stunden durchfahren werden. Die Hoffnung, daß für die fünfeinhalb Franken Fahrgeld auch Naturschönheiten geschaut werden können, erfüllt sich nur in geringem Maße.
   In Jaffas nächster Umgebung sind noch Pflanzungen und Gehöfte zu sehen; dann aber wird die Landschaft öde und leer. Rechts wie links nichts als Sandwüste. Durch das Sandmeer wandern Karawanen, für ihre unmittelbaren Nachfolger Fußstapfen als Wegweiser zurücklassend. Der Zug schleicht an Dörfchen von äußerster Armseligkeit vorüber. Die Behausungen sehen aus wie in Torf gestochen. Das Dach der Behausungen bilden mit Stroh, wenn nicht mit Mist bedeckte Stangen; die Türöffnungen sind gerade groß genug, das Durchschlüpfen zu gestatten. Hie und da Ölbäume, die von Mädchen ihrer Frucht entledigt werden.
   Nach und nach beginnt die Trostlosigkeit der Landschaft zu weichen. Nackt und ermüdend ist sie zwar immer noch, aber man begegnet doch immerhin noch Dörfern mit wohnlichen Häusern. An den luftigen Anhöhen des Tales des Wadi-es-Sarar stehen Häusergruppen, die durch Bauart und Lage an kleine Festungen gemahnen. Die Zunahme der Felder und Gärten läßt annehmen, daß hier ein fleißigerer Menschenschlag oder besserer Boden mit reicheren Wasserquellen ist. Die Flurscheiden sind durch klobige Mauern aus Feldsteinen kenntlich gemacht. Die Steinschichten sind manchmal so breit wie der Landstreifen, den sie umfrieden. Eine elend holprige Straße schlängelt der heiligen Stadt zu. Steine und Sand gibt's im gelobten Land in Fülle.
   Auch der Ungeduld wird schließlich Sieg. Gemächlich kriecht der Zug in den Jerusalemer Bahnhof. Noch ehe das Gefährt ganz zum Stillstand gekommen ist, fliegen die Wagentüren ungewohnt schnell auf. Vier halb koschere Gesellen drängten sich durch die Öffnung. "Mister, das bestellte Zimmer ist in Ordnung! Das Essen wird bei der Ankunft im Hotel bereit sein!" tönt es von allen vier Mäulern zugleich. Im ersten Augenblick wußte ich nicht, worüber ich mehr erstaunt sein sollte, ob über meine Bekanntschaft im heiligen Lande oder über die Unverschämtheit dieser Burschen. Ein Zimmer hatte der einmal Gewitzigte sicherlich nicht bestellt. Aber woher wußten die Burschen meinen Namen? Wer hatte ihnen gesagt, daß ich englisch spreche? Wie hatten sie Wagen und Klasse, worin ich fuhr, ausfindig gemacht? Alles Fragen, worauf ich erst später, auf der Fahrt nach Kairo, Antwort erhalten sollte. Erst dort erfuhr ich, daß die Hotelmenschen die Abkehr und Zahlungswilligkeit der Gäste ihren Geschäftsfreunden zu leichterem Vollzuge des Kundenfanges auf telegraphischem Wege mitteilen. Diesen Geschäftskniff konnte ich in Jerusalem noch nicht einmal ahnen. Was Wunder, wenn ich erstaunt, verblüfft war.
   Die vier Burschen standen mauerfest vor dem Ausgang. Weder ließen sie das Raufen um mein Gepäck, noch gaben sie den Weg frei. Anstatt jeder Antwort wurde der Versuch mit einer Armbewegung gemacht, wie sie dem Boxer eigen ist. Das brachte endlich freie Tür. Ihr höllisches Gekreisch war diesmal für taube Ohren. Auf dem Bahnsteig kam mir ein anderer Hotelmensch entgegen. Gemessen war seine Bewegung, christliche Bescheidenheit sprach aus seiner Rede, fromme Einfalt lag auf seinem Gesicht. Der Name seines Hotels war die Heiligkeit selbst. Das alles stand in angenehmem Gegensatz zur Gerissenheit seiner vier Kollegen. Ihm vertraute ich mich an. Und nicht nur aus dem Namen seines Hauses, auch von dessen Wänden sprach diese Frömmigkeit durch Bibelsprüche; in der Zimmerluft lag kirchliche Ruhe; die Gespräche wurden in salbungsvollem Tone geführt. In einem so göttlich-ruhigen, christlich-frommen Hause mußte man vor Übervorteilung sicher sein. So nahm ich gläubiger Mensch wenigstens an. Allein, wie kann der Mensch sich trügen!
   Der Ärger über die freche Aufdringlichkeit der Hotelknechte hielt nicht lange an. Jetzt, wo den Erwartungen vieler Jahre Erfüllung in nächster Aussicht stand, durfte ich mich mit kleinen Verdrießlichkeiten nicht lange aufhalten. In wenigen Minuten sollte der Einzug in die heilige Stadt vor sich gehen, wenn auch nicht auf einem weißen Roß wie ein deutscher Fürst, auch nicht auf einem Esel wie einst der Nazarener, so doch nicht weniger feierlich, so wie es einem schlichten Pilger geziemt. Die Erregung stieg fühlbar. Die Ungeduld, die Stätte zu schauen, worauf sich die Verehrung dreier Weltreligionen richtet, ließ sich nicht mehr bezähmen. Irgendwo in der Nähe mußte sich die heilige Stadt befinden. Links vom Bahnhof war nichts zu sehen als Häuser, die ihrem Äußern nach Europäern gehörten, rechts verdeckte ein Hügel die Aussicht.
   Das Gefährt steigt über einen Hügel. Eine schwere Staubwolke schlägt uns ins Gesicht. Der Wagen rollt auf einer verwahrlosten Landstraße. Wir werden von einer Ecke in die andere geschleudert, die Achsen drohen zu bersten. Kamele mit ihren Treibern sowie kleine, mit Reitern oder Säcken beladene Esel, die nicht viel größer als ausgewachsene Bernhardinerhunde sind, ziehen gemächlich vorüber. Von Pflanzenwuchs nirgends ein Zeichen. Die Landschaft ist kahl, nackt, tot, von einer dicken Kalkschicht überzogen. Der Weg geht bergan. Das verstaubte Auge gewahrt rechts oben starke Festungsmauern: die Zionsfeste, die der alte David noch gebaut haben soll. Noch ein paar Minuten, und wir ziehen durchs Jaffator hinein in die heilige Stadt.
   Wir stehen, das Jaffator im Rücken, auf einem Platz. Rechts die Zionsfeste, wo türkische Soldaten wachen und lungern; links europäische Läden und Hotels, geradeaus Öffnungen, Gassen, die allmählich, mitunter auch treppenartig, bergab gehen. In diesen engen, oft weniger als zwei Meter breiten Verkehrsadern, wovon ein guter Teil überwölbt ist, drängt sich Mensch und Tier in altgewohnter Vertraulichkeit. Die lebendigen Knäuel schieben sich auf und nieder. Vor den steinernen Behausungen sind auf Tischen oder auf dem Boden Säcke, Hausgegenstände und Eßwaren aufgestapelt. Christen, Juden, Mohammedaner feilschen in gleich schreiender Lebhaftigkeit.
   Allenthalben muffige Armut. Die Gassen sehen allen Glauben, alle Rassen, alle Hautfarben, Menschen von höchster und ureinfachster Kultur. Neben dem lässigen, mit Kamera, Fernrohr und Baedeker beladenen Angelsachsen läuft der verschmitzt schmunzelnde arabische Wasserhöker, die mit dem dort so wertvollen Wasser vollgefüllte Schweinshaut auf dem Buckel. Wollte man nach Kleidungen urteilen, so könnte man glauben, in einer Ausstellung von Trachten aller Zeiten zu sein. Den Gassenlärm versucht der Kameltreiber zu übertönen. Nicht so grell, aber doch noch betäubend genug sind die Schreie der Eseljungen, Zurufe, die dem vierbeinigen Freunde gelten, der nicht durch Anschub von hinten, noch mit dem Knüppel vorwärts zu bringen ist. Geschickt und nicht ohne Anmut balancieren die Beduinenfrauen ihre Kopflast durch das Gewühl. Auf den schlanken, biegsamen Körpern sitzen hübsch geformte Köpfe mit angenehmen Gesichtern. An den braunen Fußknöcheln schlappem "Armbänder" aus Eisen oder Nickel. Sie sind alle etwas sehr schmutzig, es ist wahr, aber doch ganz lieblich anzuschauen. Sauberer schon sind die Türkinnen. Die vollen Gestalten sind mit reinen, zumeist schwarzen Kleidern angetan, ihre Schleier dünn genug, die wohlgeformten Gesichtszüge erkennen zu lassen. Leider läßt sich das von den Mohammedanerinnen nicht sagen. Deren schwarze, vollständig undurchsichtige Gesichtsbedeckung, die auf dem Nasenbein durch ein goldig glänzendes Röhrchen mit der Kopfhaube verbunden ist, erlaubt nicht zu erraten, mit welcher Alters- oder Schönheitsklasse man es zu tun hat. Eine betrübende Tatsache.
   Manche Stellen der heiligen Stadt durchgehen die Europäer mit zugehaltener Nase in schleunigster Eile. Der üble Geruch bereitet ihnen schweren Verdruß. Die Warenverkäufer haben ähnliche Verdrießlichkeiten zu überstehen, die ihnen Kamele und Esel verursachen. Diese sind oft ungezogen genug , ihre tierischen Bedürfnisse zwischen Kornsäcken und Warentischen zu verrichten. Daß durch solch eine scheußliche Ortsverirrung die Ästhetik der Straßen der heiligen Stadt noch mehr entheiligt wird, versteht sich.
   Wir sind nach und nach an die Tempelstätten gekommen, woraus Jesus die Wucherer vertrieb. Sie sind unbewohnt und ganz verwahrlost. Noch eine kurze Strecke Weg und wir stehen am Felsendom. Dieser achteckige, prächtige Steinbau, der sich inmitten eines mit Steinplatten bedeckten Platzes erhebt, soll zwischen dem siebenten und achten Jahrhundert erbaut worden sein. Er überdacht den heiligen Felsen, worauf Abraham den Isaak hat schlachten wollen, wo die Bundeslade gestanden, den der Jakob gesalbt, der der Mittelpunkt der Welt ist. Von hier aus ist Mohammed gen Himmel gefahren. Als untrügliche Beweise für diese nicht alltägliche Begebenheit stehen die Eindrücke von den Füßen Mohammeds in den marmornen Bodenplatten des Tempels. In diesen Vertiefungen befinden sich noch Nägel, die von den Schuhen des Propheten herrühren. Wird der letzte dieser Nägel herausgezogen, ist der jüngste Tag angebrochen. Diese Einzelheiten und noch wundersamere verdanke ich dem Tempeldiener. Mit: "Backschisch! Backschisch!" schloß er die ergreifende Erzählung, dabei die geöffnete Hand ausstreckend.
   Tief ergriffen wenden wir uns der Via Dolorosa, dem Leidensweg, zu. Das ist die Strecke, die der mit dem Kreuz beladene Jesus auf seinem Gang nach Golgatha durchschnitt. Der Weg ist in vierzehn Abschnitte eingeteilt. Dort, wo das Gerichtsgebäude gestanden hat, worin Christus das Urteil gesprochen wurde, steht jetzt ein Kloster französischer Schwestern. Die gesprächige Oberin empfängt uns in geschäftsmäßiger Weise. Nachdem sie die Sammelbüchsen auffällig abgestaubt und geräuschvoll nebeneinander gereiht hat, führt sie uns in den Keller. Dort unten liegt noch ein Stück von dem Straßenpflaster, worauf der Heiland bei seinem letzten Gang schritt. Die technisch genaue Zusammenfügung der Steinplatten könnte fast Zweifel an der Wahrheit des von frommem Munde Berichteten aufkommen lassen, befänden sich dafür nicht untrügliche Beweise, die Fußstapfen des Heilandes, in den Platten. Wir übergeben den Büchsen einige Münzen und wandern weiter.
   Auf der linken Seite des Leidensweges werden wir angeschrien. Eine französische Schwester ladet mit Gebärde und Worten zum Eintritt ein. Auch sie will ihre Heiligtümer besichtigt haben. Der Führer warnt: Alles, was wir bis jetzt gesehen hätten, sei echt, aber an die Wunderdinge, die diese Nonne zeige, könne man nicht glauben. Als wir uns zum Weitergehen anschickten, flogen recht garstige Worte aus dem Munde des frommen Schwesterchens hinter uns her. Nach dem, was aufgeschnappt werden konnte, schien es weniger die Unechtheit der Heiligtümer zu sein, was unseren Führer vor dem Eintritt warnen ließ, sondern eher ein Streit über nicht bezahlte Gebühren, die den Führern für das Zuschleppen von Pilgern gegeben werden müssen.
   Die fünfte Station des Leidensweges ist die Stelle, wo Simon von Kyrene Jesus das Kreuz abnahm. Jesus, unter der Last zusammengebrochen, fiel an ein Haus, berührte dabei mit der Hand die Wand. Der Eindruck, der durch die Berührung in den Stein gemacht wurde, ist heute noch zu sehen. Die schützende Kraft des Himmels ist auch dieser Stelle wie vielen anderen, womit Jesus in Berührung gekommen ist, teilhaftig geworden. Obwohl Jerusalem seit jener Zeit mehrere Male derart zerstört wurde, daß "kein Stein auf dem andern blieb", sind alle diese Erinnerungsstätten wie durch ein Wunder erhalten geblieben.
   Wir kommen auf Golgatha, in die Grabeskirche. Wie ganz anders hatte ich mir diesen Bau gedacht, der das Heiligtum der Heiligtümer der gesamten Christenheit birgt. Als einen mächtigen, eindrucksvoll himmelwärts strebenden, lichten Dom hatte ich ihn mir vorgestellt, dem heilige Stille, Ordnung, Reinlichkeit sowie Einigkeit seiner Besitzer nicht mangele, woraus Geschäft und Beutelschneiderei verbannt seien. Und was sollte ich statt dessen finden? Einen eindruckslosen, widerwärtigen Haufen verwittertes Gemäuer, um das sich zweifelhafte Gestalten und schmutzige Krämer herumtreiben. Das Innere der Kirche bilden Gänge, Winkel, Kellereien, denen Licht und Sauberkeit fehlen. Den muffigen Geruch wird man erst dann wieder los, wenn man außerhalb der Stätte steht.
   Über den Vorhof, an dem Stein vorüber, worauf der tote Jesus gesalbt wurde, gelangt man in das Hauptschiff der Grabeskirche. In der Mitte, unter der Kuppel, steht das heilige Grab in einem marmornen Überbau von zehn Meter Länge und fünf Meter Breite. Dieses Grabgebäude schließt die Engelskapelle, die eigentliche Grabesstätte, ein. Nachdem der Durchschlupf durch eine niedrige Öffnung gelungen ist, steht man in einem beängstigend kleinen Raum, der durch Laternen erhellt ist. Hier haben die Gläubigen viel glitzernde Gaben abgeladen. Rechts ein Altar: das heilige Grab. Zwei Priester lesen die Messe. Beim Hinausgehen betrachten wir noch den Stein, den die Engel einst von dem heiligen Grab wegwälzten. Vor der Kapelle stehend, gewahren wir die gut verräucherte ovale Öffnung, woraus am Osterheiligabend an einem genau festgesetzten Zeitpunkt das vom Himmel gesandte Licht, das heilige Feuer, herauskommt. Dieses Feuer hat die jedenfalls wunderbare Eigenschaft, nicht zu brennen. Die Gläubigen lassen damit ihre Körperteile belecken oder sammeln es auf einem Kerzendocht, um es mit in die Heimat zu nehmen.
   Wir steigen mit Kerzen versehen auf einer glitschigen Treppe hinab in den Keller. Der Führer kriecht in ein finstres, modriges Loch; wir hintendrein. Auf dem Boden hockend erzählt er uns, daß hier die Überreste von diesen oder jenen Heiligen gebettet gewesen seien. Wir kriechen wieder zurück, wandern durch düstere Gänge, an sehr verkommenen Kapellen und Grotten vorüber. Man seufzt auf, wenn man wieder unter der Kuppel der Grabeskirehe steht. Daß ich nach diesem Leidenswege noch in andachtsvoller Stimmung gewesen wäre, möchte ich nicht sicher behaupten.
   Über eine knarrende Treppe gelangt man zum eigentlichen Golgatha, also zu der Stätte, wo die Kreuzigung stattfand. Ein Loch zeigt die Stelle an, wo das Kreuz steckte. Knapp daneben sind die Kreuzzeichen der beiden mit hingerichteten Verbrecher. Die Kreuze müssen hart nebeneinander gestanden haben, denn die bezeichneten Punkte sind kaum mehr als anderthalb Meter voneinander. Oder sollten die römischen Kriegsknechte schon damals an den beschränkten Raum der Kapelle gedacht haben? Gleich neben der Kreuzstelle ist der Felsspalt, der sich beim Verscheiden Jesus öffnete; er reicht bis zum Mittelpunkt der Erde. Wer sich von Thomasscher Ungläubigkeit nicht ganz frei fühlt, kann mit dem Arm hineinlangen und sich überzeugen.
   Was mir schon beim Eintritt in die Grabeskirche wie auch vorher beim Besuche der Geburtskirche in Bethlehem besonders auffiel, war die Anwesenheit türkischer Soldaten. Selbst Waffen trugen sie. Sollte es an den Stätten der Brüder in Christo nicht immer liebreich zugehen? Der Führer berichtete: Bei den christlichen Sekten, die Teile von den heiligen Plätzen haben, geht es oft recht unchristlich zu. Die Fehde zwischen ihnen schläft nie ganz ein. Mitunter versuchen sie, sich gegenseitig die Überlegenheit ihres Glaubens und die Echtheit ihrer Heiligtümer durch Fluch und Hieb einzuprägen. Am heiligen Osterfest gibt es in der Grabeskirche oft häßliche Auftritte, die für Beteiligte mit einer Schädigung der Gesundheit enden. Einigen ist dabei die Möglichkeit zum Atmen und zum Beten für immer genommen worden. Die heidnischen Soldaten sind nun dazu da, den Christen die Freiheit zum Übertreten ihrer Gebote einzuschränken. Auch Schlüssel und Bewachung der Grabeskirche sind Mohammedanern anvertraut.
   Übrigens gibt es in Jerusalem zwei Gräber Christi. Die Gläubigen strömen vorläufig nur zu dem einen in der Grabeskirche und halten dieses für das richtige. Das andere Grab liegt draußen vor dem Damaskustor und ist im Besitz einer englischen Gesellschaft. Welches von beiden das richtige Golgatha ist, muß den Gläubigen zu entscheiden überlassen werden. Auf die Schädelstätte vor dem Tor scheinen eher die biblischen Beschreibungen zu passen. Die Einbildung kann, auch wenn sie nicht von Glaubenseifer bewegt wird, an der Form des Hügels etwas wie eine Schädelgestalt entdecken, und unten in der Steinwand ist auch ein Felsengrab gefunden worden, das dem Nikodemus gehört haben soll. Ob die Engländer auf dem noch unbebauten Ort auch eine Grabeskirche errichten wollen, um den Strom der Gläubigen dorthin zu lenken, ist noch nicht bekannt.
   Der Ölberg ist von der Stadt durch das Kidrontal getrennt. Kommt man vom Stephanstor, geht's an dem Stein vorüber, worauf der heilige Stephan gesteinigt worden ist. Im Talgrund liegt zur Linken ein verwitterter Steinbau, der das Grab der Heiligen Jungfrau und ihres Mannes überdacht. Am Eingang lungern Dutzende von Aussätzigen, die durch ihre unverschämt zur Schau gehaltenen Gebrechen sowie durch ihre kreischende Bettelei des Pilgers fröhlichfromme Stimmung in eine wütende verwandeln können.
   Am Fuße des Ölberges liegt, von einer lichten Mauer umsäumt, der Garten von Gethsemane. An der Innenseite der Gartenmauer ist die Leidensgeschichte des Heilandes bildlich dargestellt. Dort ist auch der Stein, worauf Jesus den verräterischen Kuß erhielt. Der Eindruck an der Höhe der Vorderseite soll von der Anlehnung des heiligen Kopfes herrühren.
   Auf gewundenem, mit Steingeröll reichlich bedecktem Wege gelangt man auf des Ölbergs Höhe, dorthin, wo die Himmelfahrt ihren Anfang nahm. Der Kamm des Berges erlaubt den herrlichsten Ausblick auf die Stadt. Von hier aus macht sie einen würdevollen Eindruck, der sich leider verflüchtigt, sobald man mit dem Straßenleben, mit den Eingeborenen und den Tempelchristen in Berührung kommt. Nach dem Westen hin gewährt der Ölberg Aussichten von seltener Größe. Jenseits eines kahlen Gebirgsrückens schillert eine lange, nach oben spitz zulaufende Wasserader: der Jordan mit dem Toten Meer; weit im Hintergrund ragt eine mächtige Bergkette, das Abarimgebirge, empor. Von dort oben hat Moses zum ersten Male das gelobte Land erblickt, "darinnen Milch und Honig fließt".
   Wenn das wahr ist, dann muß das gelobte Land damals viel, viel fruchtbarer gewesen sein, denn Palästina ist heute eines der kahlsten und armseligsten Länder der Erde, wenigstens soweit ich es sehen konnte.
   Der Besuch der heiligen Stadt muß dem wirklich frommen Pilger herbe Enttäuschungen bringen. In andachtsvoller Stimmung zieht er gen Jerusalem, um sich dort zu erbauen. Unterwegs steigen die biblischen Beschreibungen der Heilandsstadt sowie die Erzählungen seiner Religionslehrer von der in Zions Mauern herrschenden Friedfertigkeit und Glückseligkeit in seinem Geiste auf. Nach alledem hofft er doch, wenigstens in der Davidstadt, in der Heilandsstadt, in der Stadt Mohammeds edle Hingabe an Gott und seine Gebote zu finden; er erwartet, daß dort bei den Heiligtümern der drei Weltreligionen, dort, wo für ihn jeder Stein eine Erinnerung an die göttliche Offenbarung darstellt, sich alle Gläubigen unterschiedslos beim Dienst für den Einzigen Gott zusammenfinden. Und was trifft er statt alles dessen? Die Eingeborenen schmutzig, träge, gleichgültig, geistig über alle Maßen rückständig und verkommen, die meisten andern in Einfältigkeit oder mit Gerissenheit dabei, aus der Religion ein möglichst gutes Geschäft zu machen. Mohammedaner, Juden und Christen in ärgster Feindschaft; selbst die christlichen Sekten an den Erinnerungsstätten dessen, der da eindringlich gepredigt hat: Liebet euch untereinander! stets bereit, sich gegenseitig zu erwürgen.
   Wahrlich, einen solchen Geschäftsneid wird der gute Pilger in ganz Israel nicht wieder finden.
   
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

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