Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1842 - Ida Pfeiffer
Nazareth und Berg Karmel

Wir kamen schon um neun Uhr morgens zu Nazareth an und stiegen im Fremdenhaus des Klosters der Franziskaner ab, wo uns die Geistlichen sehr zuvorkommend empfingen. Kaum hatten wir unsere Gemächer ein wenig in Augenschein genommen und sie an Aussehen und Einrichtung jenen zu Jerusalem vollkommen ähnlich gefunden, so machten wir uns wieder auf den Weg, um alle merkwürdigen Plätze, vor allem aber die Kirche zu besuchen, in welcher sich die Grotte der Verkündigung befindet. Diese Kirche, in welche uns ein Geistlicher begleitete, ist ebenfalls von der heiligen Helena erbaut und nicht besonders groß. Im Hintergrund führt eine Treppe in die Grotte hinab, in welcher die heilige Maria durch den Engel die Botschaft des Herrn empfing. Drei kleine Granitsäulen sind in dieser Grotte noch sichtbar. Der untere Teil von einer derselben wurde durch die Türken zerstört, sie ist nur oben befestigt, daher behaupten viele, sie schwebe ganz frei in den Lüften. Hätten diese Menschen weiter gesehen, als ihre Nase reicht, und nur einen Blick in die Höhe geworfen, sie würden schwerlich ein Wunder behaupten, das nur in ihrer Einbildung existiert. - Ein ziemlich gutes Gemälde an der Wand stellt die Verkündigung vor. Die eigentliche Wohnung Marias ist hier nicht zu sehen, weil der Sage nach ein Engel sie nach Loreto in Italien trug. Seitwärts gelangt man über einige Stufen zu der Grotte, in welcher die Nachbarin Marias wohnte, die in Abwesenheit der letzteren die Aufsicht über deren Wohnung führte und ihre häuslichen Geschäfte besorgte.
   In der Stadt liegt auch die Grotte, wo Josefs Werkstätte war; man hat sie in ihrem ursprünglichen Zustand gelassen und nur einen ganz einfachen hölzernen Altar darin errichtet. Unweit davon findet man die Synagoge, wo Jesus das Volk belehrte und die Pharisäer dadurch so erbitterte, daß sie ihn von einem Berg, gleich außerhalb des Städtchens, herabstürzen wollten. Zum Schluß zeigte man uns noch einen ungeheuren Felsenblock, auf welchem Jesus das Abendmahl mit seinen Jüngern verzehrt haben soll.
   Des Nachmittags besuchten wir den Marienbrunnen, gleich außerhalb Nazareth am Weg nach Tabarieh, er ist mit Steinen ummauert und liefert reines frisches Wasser. Hieher ging die heilige Maria täglich mit dem Krug, auch heute noch drängen sich alle Weiber und Mädchen zu diesem Brunnen und wandeln mit Krügen auf der Achsel hin und zurück. Diejenigen, welche wir sahen, waren alle schmutzig und ärmlich gekleidet; viele gingen ohne Kopfbedeckung, was um so häßlicher ließ, da ihnen die Haare ganz struppig wegstanden. Die ziemlich lebhaften Augen waren das Hübscheste an ihnen. Auch hier tragen sie eingefaßte Silbermünzen vom Scheitel bis unter das Kinn.
   Der heutige Tag war für mich ein Tag des Leidens, denn schon des Morgens, als wir von Lagun fortritten, fühlte ich mich sehr unwohl. Ich bekam unterwegs heftige Kopfschmerzen, wiederholtes Erbrechen und starken Fieberschauer. Ich glaubte kaum Nazareth erreichen zu können. Das traurigste bei der Sache war, daß ich meine Unpäßlichkeit ebenfalls wieder, wie damals auf dem Weg nach Jerusalem, verbergen mußte, aus Furcht, zurückgelassen zu werden. Auch war der Wunsch, alle heiligen Orte in Nazareth zu besuchen, so lebhaft in mir, daß ich mit größter Anstrengung den ganzen Tag mit der Gesellschaft herumging, mich aber alle Augenblicke wegstahl, damit mein Zustand nicht offenbar werde. Als wir zu Tisch gingen, erregte mir der Geruch der Speisen einen solchen Ekel und solche Übelkeit, daß ich mir schnell das Sacktuch vor die Nase hielt und ein plötzliches Nasenbluten vorgab, um hinauseilen zu können. Nur meiner braunen Gesichtsfarbe, die die Blässe meines Aussehens nicht durchschimmern ließ, verdankte ich es, daß mein Übelbefinden nicht bemerkt wurde. - Ich genoß den ganzen Tag über nichts; erst des Abends erholte ich mich ein wenig. Nun stellte sich auch die Eßlust ein, aber leider war nichts zu bekommen als eine schlechte Hammelsuppe und eine Omelette in ranzigem Öl gebacken. Ach, es ist schon bitter, in gesundem Zustand auf einen solchen Imbiß angewiesen zu sein, um wieviel mehr erst, wenn man krank ist. Ich ließ daher um etwas Wein und Brot bitten und suchte mich dadurch ein bißchen zu stärken.

15. Juni 1842. Heute war mir Gott sei Dank ziemlich wohl. Um zehn Uhr morgens saß ich schon wieder zu Pferd, um an dem Ausflug teilzunehmen, welcher für heute nach Tabarieh bestimmt war.
   An der Marienquelle und einem Berg, auf welchem einige Ruinen, Überreste von Kanaa, stehen, vorbei, ritten wir gegen anderthalb Stunden bis an den Fuß des Berges Tabor, dessen höchste Spitze man erst nach länger als einer Stunde erreicht. Von einem Weg war keine Spur zu entdecken, wir mußten über Stock und Stein setzen, wobei sich unsere Pferde so stark ermüdeten, daß sie nach einer halben Stunden nicht mehr weiter konnten und wir genötigt waren, zu Fuß zu gehen. Nach vielen Beschwerden, sowohl des Kletterns als der Hitze wegen, gelangten wir auf den Gipfel des Berges, und in der Tat, nicht nur die geschichtliche Begebenheit, welche sich hier zutrug, lohnt die Mühe des Ersteigens, sondern auch die schöne Aussicht, deren man sich hier erfreut. Diese ist wirklich großartig. Man überblickt das ganze Tal Safed, bis an den Galiläischen See. Der Berg Tabor ist auch unter dem Namen "Berg der Seligkeit" bekannt; hier oben hielt Jesus die berühmte Bergpredigt. Von allen Bergen, die ich bisher in Syrien sah, ist der Tabor allein bis zur Spitze mit Eichen- und Johannisbrotbäumen bewachsen. Auch in den Tälern sieht man statt des früheren Gesteins die herrlichste Erde.
   Dessenungeachtet ist die Bevölkerung gering, die wenigen Dörfer sind klein und elend. Die armen Bewohner Syriens werden aber auch zu sehr gedrückt, sie können, da die Steuern für die Erzeugnisse des Landes zu hoch sind, unmöglich mehr bauen, als sie zum nötigsten Lebensbedarf brauchen. So sind zum Beispiel die Fruchtbäume nicht im ganzen, sondern stückweise besteuert. Da zahlt ein Olivenbaum ein bis eineinhalb Piaster, ein Orangen- oder Zitronenbaum ebensoviel. Trotz alledem kann der arme Bauer nie mit Sicherheit sagen: dies oder jenes gehört mir. Der Pascha darf ihn nach Belieben versetzen oder wohl gar vertreiben, denn er hat in seiner Provinz so große Macht wie der Sultan in Konstantinopel. - Auf dem Berg Tabor halten sich Stachelschweine auf; wir fanden einige schöne hornene Stacheln derselben.
   Wir stiegen am jenseitigen Abhang des Berges hinab in das schöne, große Tal Safed, wo Jesus viertausend Menschen mit einigen Broten und Fischen speiste, und ritten noch fünfthalb Stunden bis nach Tabarieh [Tiberias].
   Sehr überraschend ist der Anblick, welcher sich in der Höhe des letzten Berges vor Tabarieh darbietet. Mit einem Male entfaltet sich eine der herrlichsten Landschaften vor unsern Augen. Tief senkt sich das Tal bis zum Spiegel des Galiläischen Meeres, um dessen Ufer die schönsten Gebirge sich wahrhaft malerisch mit den verschiedenartigsten Staffagen ziehen. Besonders pittoresk erscheint der kolossale Rücken des Antilibanon, der, mit Schnee bedeckt, herrlich im Sonnenglanze schimmernd, sich nebst seiner Umgebung getreu in der klaren Fläche des Sees spiegelt. Tief unten liegt das Städtchen Tabarieh, überschattet von einigen Palmen, beschützt von einem etwas höher liegenden Kastell. - Dieser unerwartet schöne Anblick überraschte uns so sehr, daß wir von den Pferden stiegen und über eine halbe Stunde auf der Spitze des Berges verweilten, um das wundervolle Bild recht nach Lust betrachten zu können. Graf S. entwarf in Eile eine recht wohlgelungene Skizze der Landschaft - die wir alle so schön fanden, obgleich die sie umgebenden Berge alle kahl und öde sind. Dies ist der eigentümliche Charakter dieser Länder - Matten, Alpen und Wälder in unserem Weltteil zeigen uns wieder eine ganz andere Fülle von Naturschönheiten. In einem europäischen Gebirgsland würde uns dieser Anblick wohl nicht halb so entzückt haben, aber hier in diesen an Natur und Menschen armen Gegenden ist man mit wenigem befriedigt, von wenigem entzückt. Würde uns zum Beispiel auf unserer Reise ein ganz einfach gekochtes Stück Rindfleisch nicht besser geschmeckt haben als in der Heimat die leckersten Gerichte? So erging es uns auch mit der Natur.
   Als wir das Städtchen betraten, befiel uns eine unbeschreibliche Wehmut. Es lag noch halb im Schutt nach einem der furchtbarsten Erdbeben, welches im Jahre 1839 hier besonders zerstörend gewütet hatte. Wie mag es damals ausgesehen haben, da es noch jetzt, wo überall nachgeholfen und gebaut wird, einem halben Schutthaufen gleicht? Wir sahen ganz eingestürzte Häuser, viele sehr beschädigt, ganze Risse und Spalten in den Mauern, zusammengefallene Terrassen und Türme - kurz, wir wandelten allenthalben auf Ruinen. Bei diesem Erdbeben sollen gegen viertausend Menschen, mehr als die halbe Bevölkerung, ihren Tod gefunden haben.
   Wir stiegen bei einem jüdischen Arzt ab, welcher hier in Ermangelung eines Gasthofes die Fremden aufnimmt. Ich war ganz erstaunt, bei diesem Manne alles sehr nett und rein zu finden. Seine Zimmerchen waren einfach, aber bequem eingerichtet, der kleine Vorhof mit großen Steinplatten gepflastert, und in der Vorhalle standen rings an den Wänden weich gepolsterte, sehr schmale Bänke. So sehr wir durch diese schöne Ordnung und Reinlichkeit überrascht waren, so stieg unsere Verwunderung noch mehr, als wir die Juden, deren es so viele in Tabarieh gibt, weder türkisch noch griechisch, sondern ganz so gekleidet fanden wie bei uns in Polen und Galizien. Auch sprachen die meisten unter ihnen deutsch. Ich erkundigte mich gleich nach der Ursache dieser Eigentümlichkeit und erfuhr, daß alle hier ansässigen Judenfamilien aus Rußland und Polen gekommen seien, um im Gelobten Land wenigstens zu sterben. Überhaupt nähren alle Juden eine große Sehnsucht, die letzten Tage ihres Lebens in der Heimat ihrer Voreltern zuzubringen, um da wenigstens begraben zu werden.
   Wir ersuchten die junge Hausfrau (ihr Mann war abwesend), uns eine tüchtige Portion Pilaw nebst einigen Hühnern recht bald zu bereiten, währenddessen wurden wir die Stadt und die nahen Bäder am See Genesareth besuchen und längstens in anderthalb Stunden zurückkehren.
   Wir gingen an den See Genesareth, der süßes Wasser enthält, setzten uns in eine Fischerbarke, um auch da zu schiffen, wo Jesus einst den Sturm beschwichtigt hatte, und ließen uns bis an die warmen Quellen führen, welche, einige hundert Schritte außerhalb der Stadt, ganz nahe am Gestade entspringen. Auf dem See hatten wir, Gott sei Dank, keinen Sturm, allein kaum ans Land getreten, ging es mit den Fischern stürmisch her. Wenn man hierzulande mit den Führern, Trägern usw. nicht jeden Schritt und Tritt im vorhinein genau aushandelt, so sind sie hintendrein mit ihren Forderungen über alle Maßen überspannt. So geschah es auch bei dieser kleinen Partie, welche höchstens eine halbe Stunde dauerte. Wir setzten uns in die Barke, ohne den Fahrpreis zu besprechen, beim Aussteigen aber wurde ihnen eine sehr gute Belohnung gereicht. Allein sie warfen das Geld hin und begehrten dreißig Piaster, während sie bei einer Unterhandlung gewiß nicht zehn verlangt hätten. Man gab ihnen fünfzehn, um sie loszuwerden; es war ihnen noch nicht genug, sie schrien und lärmten vielmehr dergestalt, daß die Diener der Grafen schon mit den Stöcken Ruhe und Ordnung herzustellen drohten. Dies brachte sie endlich insoweit zur Vernunft, daß sie wenigstens gingen, jedoch beständig zankend und schreiend.
   Wir fanden bei den warmen Quellen ein Badehaus in runder Form erbaut und mit einer Kuppel gedeckt und trafen da eine ziemlich bedeutende Pilgerschar, meistens Griechen und Armenier aus der nahen Umgebung, die nach Nazareth und Jerusalem wallten. Sie hatten an dem Badehaus ihr Lager aufgeschlagen.
   Die Hälfte dieser Leute befand sich im Vollbad, worin es höchst lebhaft zuging. Wir wollten auch hinein, nicht um zu baden, sondern nur, um die innere Schönheit und Einrichtung, worüber so manches in Büchern geschrieben steht, in Augenschein zu nehmen; allein ein solcher Dunst und Qualm strömte uns entgegen, daß wir nicht ganz hineinzudringen vermochten. Doch sah ich genug, um mich auch hier wieder zu überzeugen, daß Übertreibung oder Poesie so manche Feder weit über die Wahrheit hinaus leitet. Sowohl das Äußere dieses Bades als auch das Vorgemach und der Blick in das Innere erregte nicht sehr mein Erstaunen oder meine Neugierde. Von außen gleicht es einem sehr mittelmäßigen kleinen Gebäude, an dem wir durchaus nichts Schönes entdecken konnten. Im Innern war viel Marmor angebracht, zum Beispiel die Täfelung des Bodens, die Einfassung des Bades. Marmor ist hierzulande nichts so Seltenes, um seinetwegen ein Wunder aus diesem Badekiosk zu machen - und desselben mehr als vorübergehend zu erwähnen. Ich sehe alles, wie es wirklich ist, und gebe es wieder ungeschmückt und naturgetreu in dem einfachen Tagebuch meiner Reisen.
   Abends um acht Uhr kehrten wir ganz müde und voll Eßlust in unsere freundliche Wohnung zurück und schmeichelten uns, das einfache Mahl, das wir vor mehreren Stunden bestellt hatten, rauchend und dampfend auf dem gedeckten Tisch zu finden. Ach, wir fanden weder in der Vorhalle noch in einem der Zimmerchen einen ungedeckten Tisch, viel weniger etwas anderes. Halb erschöpft lagerten wir uns auf Stühle und Bänke und sahen mit ungestillter Sehnsucht dem Mahl und der darauf folgenden Ruhe entgegen. Ein Bote nach dem andern wurde in die Küche gesendet, um zu forschen, ob die gekochten Hühner noch immer nicht in eßbarem Zustand seien. Wir wurden von einer Viertelstunde auf die andere vertröstet und - es kam nichts. Endlich, um zehn Uhr, ward ein Tisch gebracht, dann ein Stuhl, dann wieder einer und endlich ein reines Tischtuch, und so ging es fort bis elf Uhr. Da erschien der Herr des Hauses, welcher eben erst von einer kleinen Landreise heimgekommen war, und mit ihm ein gekochtes Hühnchen. - Ach, es trug sich bei unserer Mahlzeit kein Wunder zu wie in Safeds Ebene, wo viertausend Menschen mit einigen Broten und Fischen gespeist wurden - wir waren doch nur sieben Personen, da hätte sich dies Hühnchen nur siebenmal vermehren dürfen, und wir wären gesättigt gewesen; so aber erhielt jeder nur ein Rippchen und damit Punktum. Freilich kam dann ein Gericht nach dem andern, das wußten wir aber nicht, ebensowenig die Anzahl der bereiteten Speisen, sonst hätten wir uns das Ding schon eingeteilt, und ein jeder hätte ein Gericht ganz für sich behalten, denn im Laufe von fünf Viertelstunden kamen neun bis zehn Tellerchen zum Vorschein; aber mit lauter winzigen Portionen, so daß man im eigentlichen Sinne des Wortes nur überall kosten konnte. Wir hätten zwei derbe Speisen all diesem Firlefanz vorgezogen. Die Gerichte bestanden aus einem gekochten, einem gebratenen und einem eingemachten Hühnchen, aus einem Tellerchen gefüllter Gurken, aus einem solchen roher Gurken, aus ein bißchen Pilaw und einigen Stückchen Schöpsenfleisch.
   Für die Unterhaltung bei Tisch sorgte unser Wirt, indem er eine greuliche Szene aus der Zeit des Erdbebens nach der andern erzählte. Auch er hatte dabei sein Weib und seine Kinder verloren, und nur weil er gerade auf einem Krankenbesuch in der Umgebung war, entkam er selbst diesem Schicksal.
   Eine halbe Stunde nach Mitternacht suchten wir unsere Schlafstellen. Der Arzt räumte uns sehr gefällig seine drei Kämmerchen ein, da war aber die Hitze so drückend, daß wir es vorzogen, im Hof auf den Steinen unser Lager aufzuschlagen. Ein hartes Lager, dagegen eine leichte Verdauung des großen Mahles.

16. Juni 1842. Um fünf Uhr früh empfahlen wir uns und kehrten auf demselben Weg, nur nicht zum zweiten Mal über den Berg Tabor, sondern längs desselben, in sechs Stunden nach Nazareth zurück. Ich besuchte heute noch einmal all die Orte, die ich zwei Tage früher halb tot besehen hatte, und brachte auf diese Art einige Stunden recht angenehm zu.

17. Juni 1842. Morgens um halb sechs Uhr sagten wir den würdigen Priestern zu Nazareth für immer Lebewohl und ritten unausgesetzt bis zwei Uhr, also neunthalb Stunden - bis zum Kloster auf dem Berge [Karmel].
   Lange hatten wir keine so guten Wege gehabt wie an dem heutigen Tag. Nur hin und wieder, vermutlich um uns der Gefahren und Strapazen nicht gänzlich zu entwöhnen, kam eine Strecke echt syrischen Weges zum Vorschein. Dazu kam auch noch die Annehmlichkeit, daß wir keinen Durst zu leiden brauchten, denn einige Male durchschnitten unsere Pferde Bächelchen mit gutem klarem Wasser. Ja, wir durchzogen sogar ein Stückchen Eichenhain, in Syrien eine fast unerhörte Erscheinung. Freilich fand sich kein einziger Baum darunter, der für einen Maler ein würdiges Studium gegeben hätte; alle waren klein und verkrüppelt. So schön belaubte Bäume wie in unseren Gegenden sah ich in diesen Ländern höchst selten. Der einzige Johannisbrotbaum, der hier sehr häufig wächst, ist ein hübscher Baum und sein Blatt sehr schön, es ist nicht größer als ein mittleres Rosenblatt, etwas länglich rund, einen Messerrücken dick und von schöner, glänzend grüner Farbe.
   Der Berg Karmel liegt hart am Meer. Er ist nicht hoch, in einer guten halben Stunde erreicht man seinen Rücken, auf welchem ein schönes und großes Kloster steht. Wohl in ganz Syrien mag dieses das schönste sein, selbst die Klöster zu Jerusalem und Nazareth nicht ausgenommen. Eine Reihe von sechs oder sieben großen, herrlichen Zimmern mit Doppeltüren und großen, regelmäßigen Fenstern bildet die Hauptfront des Gebäudes. Diese Zimmer und noch mehrere in den Seitenflügeln sind zur Aufnahme der Reisenden bestimmt. Sie sind nach europäischer Art eingerichtet, mit sauberen Möbeln, wobei weder Kanapees noch gute Kommoden-Kästen fehlen.
   Ungefähr eine Stunde nach unserer Ankunft bewirteten uns die geistlichen Herren mit einem so köstlichen Mahl, wie mir seit dem Aufenthalt zu Konstantinopel nicht zuteil geworden war.
   So mittelmäßig die Kost und so einfach die Zimmer und deren Einrichtung zu Jerusalem und Nazareth waren, so überaus schön und gut fanden wir hier alles. In einem eleganten Speisesaal stand ein großer Tisch mit feinem weißem Tischzeug belegt, geschliffene Gläser blinkten uns freundlich entgegen, reinliche Eßbestecke und Porzellanteller fehlten nirgends, ein europäisch gekleideter Diener trug die besten Fastengerichte (es war Freitag) auf, und ein artiger Geistlicher leistete uns Gesellschaft, aber nicht im Essen, denn das, dachte er mit Recht, würde eine so ausgehungerte Kompanie auch ohne seine Hilfe treffen.
   Auf der ganzen syrischen Reise war dieses Kloster ein wahrer Glanzpunkt für Seele und Körper. Wie wohl wurde es uns bekommen haben, wenn hier einige Tage Rast gemacht worden wäre. Allein die Herren hatten noch ein gar weites Ziel vor sich und da ging es nur immer fort und fort.
   Nach dem Essen stiegen wir hinab an das Gestade und besuchten die große Grotte, die sogenannte Prophetenschule. Diese Grotte gleicht wirklich einem hohen, sehr geräumigen Saal, wo eine Menge Zöglinge Raum fänden, sich die Lehren der Propheten anzueignen.
   Die Grotte, in welcher der heilige Elias lebte, befindet sich oben auf dem Berg in der Kirche. Der Berg Karmel ist ganz öde und nur hin und wieder mit Gestrüpp bedeckt. Die Aussicht ist aber wirklich himmlisch. Das Auge kann im Vordergrund über den unbegrenzten Meeresspiegel gleiten, während es wieder unten am Fuße des Berges einen Anhaltspunkt findet an dem nicht unbedeutenden Ort Haifa, der sich freundlich in einem schönen, fruchtbaren Tal ausbreitet, welches sich bis an die hohen Gebirge zieht, deren Schlußgrenzen der Antilibanon und in weiterer Ferne der Libanon bilden. Längs der Meeresküste fällt der Blick auf Acre (Ptolemais), Sur (Tyrus), und Saida (Sidon).

Pfeiffer, Ida
Reise in das Heilige Land
Wien 1995; Originalausgabe Wien 1844

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