Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1833 - Jakob Philipp Fallmerayer
Aleppo

Aleppo auf der Stelle, wo es heute steht, ist nicht älter als etwa 740 Jahre. Früher lag es drei Stunden südöstlich an einem See, wo noch jetzt die Ruinen der alten Stadt zu sehen sind. Fünfzig Jahre lang durch Erdbeben geplagt, sei der alte Ort völlig eingefallen und für unbewohnbar und für unwiederherstellbar erklärt worden. Die übrig gebliebenen Einwohner wanderten fort und legten Neu-Haleb, größer und schöner als die verlassene Heimat, an.
   Was Schönheit betrifft, kann sich keine Stadt des Orients mit Aleppo messen. An Umfang steht sie im türkischen Reiche nur Konstantinopel und Kairo nach. Brusa, Adrianopel und Damascus mögen vielleicht ebenso viel, oder auch mehr Häuser zählen, einen größeren Flächenraum decken sie aber nicht. Der Boden auf anderthalb Stunden in der Runde ist steinig und uneben, mit einer Menge wellenartiger Schwellungen, deren Aleppo mit seinen Vorstädten etwa acht umschließt. Der bedeutendste dieser Hügel, ohne Zweifel durch Menschenhand künstlich zugerichtet, ragt abgesondert im Mittelpunkt der Stadt weit über die höchsten Gebäude empor, ein schön gerundeter, konisch zu laufender, oben kraterartig abgestumpfer Erdkegel von ungeheurer Dimension. Hoch auf der Plattform ist Raum für 250 Wohngebäude, jetzt großenteils durch Erdbeben eingefallen; am Rande herum eine Mauer mit Türmen, sämtlich aus gehauenem Stein. Zwei tiefe Brunnen, der eine mit süßem, der andere mit salzigem Wasser, sorgen wie Saladins Schöpfung auf der Citadelle von Kairo für das Bedürfnis der Burg. Man zeigt noch eine Rüstkammer mit eingestürzten Kuppeln, eisenbeschlagenen Toren und Vorhöfen, aus gewaltigen Quadern aufgebaut, darin Harnische, Beinschienen, Helme und anderes Waffenzeug aus Saladins Zeiten, wie der Hüter versichert. Um den Fuß des Bergkegels zieht sich ein breiter, tiefer, trockener, zu beiden Seiten schön ausgemauerter Graben mit Gebüsch, Pappeln und Platanen wohl besetzt. Die Oberfläche des Rundberges selbst, vom Graben bis hinauf zur Burgmauer, ist schachbrettförmig mit behauenem Stein ausgelegt, und ein einziger Pfad durch drei Tore, am Fuße, in der Mitte und oben verwahrt, führt in die Festung. Eine geräumige, am Rand des Grabens sich im Kreis herumziehende Straße trennt die Häuser vom Burghügel, dient als Promenade, ist mit Brunnen und einzelnen Bäumen geschmückt, aber auch durch den Schutt eingefallener Wohngebäude und Basare entstellt.
   Von der Burg herab sieht man am besten, wie sich das steinerne Häusermeer Aleppo's weit und breit nach allen Seiten ausdehnt, wellenförmig, ein Gewirr von Türmen, bleigedeckten Kuppeln, Terrassen und Höfen mit hohen, ewig grünen Bäumen, in der Ferne nicht unähnlich den schwebenden Gärten der Semiramis. Der Eindruck ist um so magischer, da Haleb, wie eine verzauberte Stadt, seine Herrlichkeit mitten in einer Steinwüste und einer wenigstens auf zehn Wegstunden in der Runde, wenn auch nicht unfruchtbaren, doch vollkommen baumlosen Steppe entfaltet. Gegen mohammedanische Sitte ist der Turm an der Hauptmoschee nicht schlank und rund, sondern wohlgenährt und viereckig mit Zimmer und Galerie für die Gebetausrufer, wie man es außer Haleb nur noch im nahen Sarmin und zu Tripolis in Phönizien sieht. Ostwärts über die Stadt hinaus schweift der Blick unabsehbar, trostlos, einförmig gegen die Euphrat-Wüste. Auf der Seite des Mittelmeers dagegen sieht man auf fünfzehn Stunden Entfernung die lange Bergwand des Libanon in scheinbar gerader Richtung, wie eine Mauer von Nord nach Süd streichen. Nördlich gegen Bir und Aintab entdeckt das Auge nur wie im Nebelflor den Höhenzug des Amanischen Gebirgs, von welchem letzthin das türkische Heer auf die große Verbindungslinie von Edessa nach Haleb herabgestiegen ist.
   In der Stadt selbst sind die Straßen, wie es morgenländische Architektur erheischt, der Mehrzahl nach eng, aber meistens gerade und ohne Ausnahme mit gleichförmig behauenen Steinwürfeln kunstreich gepflastert, reinlich gehalten und häufig sogar mit Hochpfaden für Fußgänger versehen, mit einer Sorgfalt und Eleganz, die man gewiß in keiner andern Stadt des türkischen Reiches, selbst Stambul nicht ausgenommen, finden wird. Die Gebäude, sowohl private, als öffentliche, sind ohne Ausnahme aus Quadern erbaut und mit Plattdächern versehen, nicht von Holz und gedörrten Sandkuchen zusammengeklebt, wie in dem paradiesischen Damascus, auch nicht enge, nicht schmutzig und regellos wie gewöhnlich im Orient, sondern geräumig, mit hohen Gemächern, oft leicht, oft mit gesprengten Bogen dauerhaft hergestellt und sorglich unterhalten. Fast jedes Haus hat einen zierlich gepflasterten, mit Wasserbecken, Springbrunnen und einigen Cypressen oder Citronenbäumen gezierten Hof, teilweise mit Mosaik buntfarbig ausgelegt, einen Bogen-Divan dem Brunnen gegenüber, und eine weite helldunkle, mit Kuppeldach und Marmorbrünnlein versehene Halle als Zuflucht in der heißen Jahreszeit. Das ganze ist vorsichtig mit Mauer und doppeltem Tore gegen die Gasse hin verschlossen.
   Ein weißer Sandstein, in unerschöpflichen Lagerungen zunächst an der Stadt, weich bei der Arbeit und in der Luft nach und nach sich verhärtend, liefert den Aleppinern das Baumaterial. Für Tore, Pfeiler und Pflaster der bessern Gebäude dient ein gleichfalls in der Nachbarschaft gebrochener gelber Marmor, der gute Politur annimmt, und des Schmuckes wegen künstliche Färbung erhält.
   Um um die Stadt und alle ihre Vorstädte herumzugehen, braucht man in gewöhnlichem Schritte nicht weniger als drei Stunden. Die Zahl der Gebäude, verfallene und unversehrte zusammengerechnet, schätzt man auf ungefähr 14.000, in welchen vor sechzig Jahren noch an dritthalbhunderttausend Menschen wohnten, lauter gewerbfleißige, ehrbare und wohlhabende Leute, nach dem Ausdrucke des mehr als fünfundsiebzigjährigen Aleppiners Nasri, der die gute alte Zeit des Flores noch gesehen hat. Durch schlechtes Regiment, durch verlorenen Handel, durch Pest, Erdbeben und Cholera sei die Einwohnerzahl jetzt unter 100.000 herabgesunken. Nicht weniger als 15.000 Menschen wurden beim großen Erdbeben im Jahre 1822 unter den zusammenstürzenden Gebäuden erschlagen; 8.000 raffte etliche Jahre nachher die Pest und 10.000 im Sommer von 1832 die Cholera weg. Wie allezeit und überall trugen auch in Aleppo die Handelsrevolutionen am meisten zur Verarmung und Entvölkerung der Stadt bei. Besonders schwer wird der Verlust des Shawlhandels empfunden, dessen Hauptniederlage zwischen Persien und dem ganzen Occident früher Aleppo war. Der neue Handelsweg über Trapezunt, behaupten sie, habe die meiste Schuld an ihrem Ruin. Man kann leicht denken, daß das englische Projekt, den indischen Handel mittels Dampfschiffen auf dem Euphrat aus dem persischen Golf über Aleppo in das Mittelmeer zu lenken, in keiner andern Stadt des Orients wärmere Verteidiger findet als hier.
   Aleppo, wie es heute ist, kann einem feindlichen Angriff mit Artillerie nicht mehr widerstehen. Die Citadelle auf dem Kegelplateau ist eine Ruine, die Ringmauer um die Stadt samt den runden, fünfzig Schritte von einander stehenden Türmchen hat weiße Risse und ist seit dem letzten Erdbeben an mehreren Stellen ganz eingefallen. Das Übel scheint aber nicht überall neu zu sein, da man in vielen Mauerspalten alteinheimische Schlingpflanzen und sogar Gestrüpp und verkrüppelte Bäumchen festgewurzelt sieht. Überdies wird Aleppo auf der Nordseite, das ist auf der Straße gegen Bir und Aintab, von einer Hochebene beherrscht, auf deren schönstem Punkt, luftig mit Schatten und Brunnen, Derwische ihr Kloster und die arabischen Soldaten Ibrahims ihren Übungsplatz errichtet haben. Wassermangel wäre auch zu fürchten, da der einzige Süßwasserkanal, der aus einer Entfernung von zwei Stunden auf derselben Seite Trink- und Kochwasser zuführt, indem er, unter der Stadt fortlaufend, alle öffentlichen und die meisten Privatbrunnen nährt, und Haus- und Hochgärten wässert, leicht abzuschneiden ist, und der außerhalb der Ringmauer vorüberstreichende kleine Koweik im Angesicht eines feindlichen Heeres von keinem Belang wäre. Das große Haleb hat keinen Fluß, wie Damascus und Antiochia. Der Euphrat ist mehr als dreißig, der Orontos wenigstens fünfzehn Stunden entfernt, und alle Glückseligkeit der Einwohner hängt von benanntem Bächlein ab, welches etwa eine Tagereise nördlich von der Stadt entspringt, und drei Stunden südlich sich schon im See von Merdsch Ahmar (d. i. rote Wiese) verliert. Durch die Vorstadt an der Abendseite rinnt es vorüber und befruchtet, wohltätig in zwei Arme geteilt, einen zwar schmalen, aber langen Streifen an beiden Ufern mit wunderbarer Kraft. Auf mehr als zwei Wegstunden sieht man nichts als Gärten mit dicht beraubten, breitästigen, hohen, dunklen Baumgruppen, und in ihrem Schatten Gebüsche, Gartenfrüchte und Blumen in üppigster Pracht. Dieser grüne Gürtel ist um so entzückender, als der Boden in nächster Umgebung aus weißlicher, unfruchtbarer Erde voll öden Gesteins besteht und, so weit das Auge reicht, kein grüner Ruhepunkt gefunden wird. Außer mehreren dem Lande eigentümlichen Bäumen mit ewig warmem Grün stehen Platanen, großblätterige Weißpappeln, Eschen, Eichen, Lotus, Tamarisken, Mispeln, Terebinthen, Holunder, Cypressen, Rosen-, Granaten-, Kirsch-, Orangen-, Citronen-, Walnuß-, Feigen-, Mandel- und Ölbäume mit vielen Sorten Stein- und Kernobst, bald als Dickicht, bald als Randeinfassung breiter Gartenbeete in lieblichster Unordnung unter einander. Die höheren Uferteile, wohin das fließende Wasser nicht mehr dringt, sind mit Weingärten bekränzt, Feigen-, Öl-, Pistazienbäume zwischen den Reben. Melonen von wunderbarer Größe, Kukumern süß wie Äpfel, Gemüse von ausgesuchtem Geschmack, besonders aber eine große, saftvolle, honigsüße weiße Traube mit wenig Kernen und mit zarter Haut gehen in ungemessener Menge aus diesem Paradies hervor.
   Selbst Bilder, Redensart und Ideenkreis entlehnen die Aleppiner großenteils von der Herrlichkeit dieses schmalen Gartenwaldes. Wie man sich anderswo um Thermometerstand, Politik, Kurse und Marktpreise erkundigt, ist hier die tägliche Sorg' und Frage der Doppelbach vor der Stadt. Fülle, Durchsichtigkeit, Süße, Plätschern, Wachsen und Schwinden des Wasserspiegels, der Blumenschmelz, das dunkle Baumgewölbe, Rosen- und Pistazienblüte sind Dinge, um die sich in Haleb jedermann bekümmert. Man kennt sozusagen jeden Baum mit Namen und Gestalt, geht zu ihnen auf Besuch, und weidet das Auge an ihrem Flor und ihrem saftigen Stamm, wie man sich am schlanken Wuchs des menschlichen Körpers erfreut. Alle Aleppiner sind gleichsam in das Bächlein und seine Uferbäume verliebt. Aber auch welche Teilnahme, welcher Schmerz, wenn zuweilen nach langer Trockenheit und regenlosem Winter das rinnende Wasser versiegt! Hätte Ibraham wirklich, wie die Sage geht, den Wald am Bache umgehauen, um Palisaden zum Schirm der Stadt zu zimmern, so wäre der Verlust unersetzlich, die Trauer allgemein. Leichter würde man Schaden an Geld und Menschenleben ertragen als den Untergang der Bäume, des schönsten, langsam wachsenden, von den Vorfahren ererbten Schmucks der Heimat.
   Die Gemütsart der Halebiner ist als freundlich überall bekannt. Gewiß sind sie die höflichsten und duldsamsten Mohammedaner des Orients. Ihr Verkehr mit Fremden kann diese Wirkung nicht allein hervorbringen, es muß im Blut und Sinn dieser Leute liegen. Fanatische Szenen, wie sie bis auf die letzten große Siege der Russen in den meisten islamitischen Städten vorfielen, sind in Haleb seit lange verschwunden, oder waren vielmehr niemals in gleichem Grade üblich. Nur die Derwische bei ihren freitäglichen Umzügen schreien zuweilen den europäisch gekleideten Fremdling rauh an, wenn er ihnen mit neugierigem Blick in den Weg tritt. In Haleb will man leben und genießen und folglich will jedermann um jeden Preis Verkehr, Ordnung und Frieden. Überall legt der Islam die Waffen aus der Hand und läßt seine Festungen verfallen; in Haleb geht man um einen Schritt weiter und verwandelt, wie in Europa, Vorwerke und Festungsgräben in Baum- und Gemüsegarten.
   Das Äußere der Aleppiner hat etwas Einnehmendes; sie sind in der Regel mittlern Wuchses, schlank, dunkelhaarig, mit großen schwarzen Augen, weißer Hautfarbe und schönen Gesichtszügen - Eigenschaften, die unter ihnen vielleicht etwas zu viel gelten mögen. Die jungen Leute wetteifern mit ihren Altersgenossen in Damascus und Hama in zierlicher Kleidung, kokettem Gang und leichtem Sinn. Haleb ist beinahe das asiatische Wien, gewerbsam, friedlich, und dem Vergnügen hold. Selbst den Reiz einer melodischen Stimme, wofür man in Asien sonst keinen Sinn hat, versteht man dort zu beurteilen. Nirgend in der Türkei werden die Gebetausrufer, die unsere Glocken und Orgeln ersetzen, mit so viel Sorgfalt bestellt, wie hier. "Betet! Betet! Die Zeit geht schnell, das Gericht ist nahe", klingt es in die Abendstille durch die heitere dünne Luft von der Höhe des viereckigen Moscheeturms auf die Terrassen und Gärten herab, mit einem Wohllaut und einem Schmelz, den man wohl empfinden, aber nicht beschreiben kann.
   Das größte Unglück für eine solche Stadt ist der Krieg. Leider ist aber Haleb an der Grenzscheide gelegen, wo sich zwei verschiedene Sprachen die Herrschaft streitig machen, und folglich war es seit Jahrhunderten bei jedem Zusammenstoß der türkisch und arabisch redenden Völker das erste Opfer.

Fallmerayer, Jakob Philipp
Neue Fragmente aus dem Orient
Leipzig 1861

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