Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1903 - Pierre Loti
Pracht und Elend in Jaipur

Eine Wüste folgt der anderen, auf der ganzen Erde scheint es wie ein Fluch zu lasten. Alles, was einstmals Dschungel, Dörfer oder Kulturen waren, hat die gleiche düstere Färbung angenommen, liegt unter derselben weißen Aschendecke begraben, die wie von einer ungeheuren vulkanischen Eruption darüber hin geschleudert scheint.
   Da taucht plötzlich nach all diesem Elend mitten in der Wüste eine Stadt in voller, reizender orientalischer Geschäftigkeit auf. Die Alleen, die an ihren hohen, mit Schießscharten versehenen Wällen münden, sind belebt von Reitern in weißen Kleidern, von Frauen in langen gelben oder roten Schleiern, von Ochsenwagen und langen Reihen festlich aufgezäumter Kamele, lauter Farben heitersten Lebens, wie in den Zeiten der Fülle.
   Abe was bedeuten denn diese entsetzlichen Haufen von Lumpen dort am Fuß der Wälle? Es sind menschliche Formen darunter verborgen … Aber was sollen denn alle diese Leute da am Boden? Sind es Betrunkene, sind es Kranke? Ach, es sind vertrocknete Wesen, Knochengerüste, Mumien! Doch nein, das bewegt sich ja noch, die Augenlider sind aufgeschlagen und die Augen blicken umher! Dort richten sich sogar welche auf, schwankend, auf langen Knochen, die Beine vorstellen sollen …
   Nachdem wir das erste Tor durchschritten haben, erscheint ein zweites in der inneren Mauer, die bis in die Zinnen hinauf ganz rosa gemalt ist - rosa Grund mit weißem, echt indischem Blumenflor. Auch hier liegen in dem dicken Staube dunkle Haufen von Menschen übereinander, und das sieht neben dieser schönen, rosa und weiß geblümten Mauer noch abschreckender aus. Man möchte sie für mit Leder überzogene Skelette halten, mit fürchterlicher Deutlichkeit prägt sich das ganze Knochengerüst aus. Die Kniescheiben und Ellenbogen bilden dicke Beulen, gleich Knoten an langen Stöcken, und die Oberschenkel, die nur einen Knochen haben, sind dünner als die Unterschenkel. In Gruppen liegen die Familien beieinander, während einzelne wieder ganz isoliert und verlassen erscheinen. Sterbende liegen ausgestreckt, mit ausgebreiteten Armen am Boden, wie gekreuzigt, andere hocken noch aufrecht; unbeweglich und halb blödsinnig starren sie mit fiebernden Augen umher, die Lippen haben sich schon über die langen Zähne emporgezogen. In einem Winkel sitzt eine alte, vollständig fleischlose Frau, die anscheinend ganz allein in der Welt steht, auf einem Haufen Lumpen weint sie still vor sich hin.
   Wir wir endlich die beiden Tore hinter uns haben, enthüllt sich das Innere der Stadt vor unseren Blicken, wir stehen überrascht und gleichsam verzaubert.
   Eine große rosenfarbene Stadt zu besitzen, vollständig gleichfarbig rosa und mit dem gleichen weißen Blumenmuster die Häuser, die Wälle, die Paläste, die Tempel, die Türme und Erker geschmückt, welch eigentümliche Laune eines Herrschers! Man könnte meinen, alle Mauern seien mit dem gleichen geblümten Kattun überzogen worden, fast glaubt man, eines jener einfarbigen Gemälde aus dem 18. Jahrhundert vor sich zu haben. Nein, dies Bild ist mit nichts zu vergleichen, was ich vorher gesehen habe, es macht durchaus den Eindruck einer entzückenden Unmöglichkeit.
   Straßen von einem Kilometer Länge, in gerader Linie, wie mit der Schnur gezogen, zweimal so breit wie die Pariser Boulevards und an beiden Seiten von hohen Palästen begrenzt, deren Fassaden die Fantasie der Orientalen bis zur Unkenntlichkeit variiert hat. Nirgends gibt es eine unglaublichere Aufeinandertürmung von Kolonnaden, verzierten Bögen, Türmen, Balkonen und Erkern, alles vom gleichen Rosa, alles mit dem gleichen weißen Blumenmuster bedruckt. Und jeder Sims, jede kleinste Arabeske wird durch eine weiße Linie hervorgehoben; es sieht aus, als ob auf die Skulpturen weiße Posamenterien genagelt worden seien, während alle glatten Partien von dem gleichen Rosa und mit dem gleichen altmodischen Blumenmuster überzogen sind.
   Längs dieser Straßen bewegt sich eine Menge in unvergleichlicher, glühendster Farbenpracht. Tausende von Kaufleuten, die ihre Auslagen von Stoffen, von Kupfer und Waffen auf dem Boden umher liegen haben, versperren an beiden Seiten die Trottoirs, während Frauen mit den bunten, von fantastischen großen Mustern bedeckten Schleiern und den bloßen, mit kostbaren Ringen geschmückten Armen sich zwischen ihnen hindurchwinden.
   Auf dem Straßendamm ist ein fortwährendes Hin und Her von Reitern in silberner Rüstung, auf buntfarbigem Sattel, von schweren Karren, die von Zebus mit bunt gemalten Hörnern gezogen werden, lange Reihen von Kamelen kommen gezogen, Elefanten in goldenen Kleidern, deren Rüssel mit zahllosen Mustern bezogen sind. Dort kommen Kamele, auf denen zwei Männer, einer hinter dem anderen, sitzen, sie gehen in leichtem Trab, den Hals nach vorn gestreckt wie Strauße im Lauf; hier nahen nackte, von oben bis untern weiß gepuderte Fakire; Träger mit Palankins und Tragestühlen gehen vorüber; der ganze Orient der Feenmärchen bewegt sich in langer Prozession in dem unbeschreiblichen rosenfarbenen Rahmen.
   An einem Riemen werden, um sie an die Menschen zu gewöhnen, die dressierten Panther des Königs spazieren geführt, tückisch und zugleich doch komisch sehen sie aus, in ihren kleinen gestickten Häubchen, die mit einer Rosette unter dem Kinn befestigt werden; mit unglaublicher Vorsicht setzen sie ihre Samtpfoten eine vor die andere, als ob sie auf Eiern gingen. Zur größeren Sicherheit hält immer ein Mann den geringelten Schwanz fest, und vier Diener folgen im Zuge.
   Aber auch düstere Erscheinungen erblickt man, sie scheinen aus dem Grabe entsprungen; Wesen, die denen da draußen gleichen, vor den Toren der Stadt. Sie haben gewagt, die schöne farbenprächtige Stadt zu betreten, ihr Knochengerippe hier zu zeigen! Ihre Zahl ist sogar viel größer, als ich anfänglich glaubte. Die, die mit wankenden Schritten, scheu um sich blickend, umherirren, sind nicht die Einzigen; auf dem Straßenpflaster, zwischen den Kaufleuten und ihren heiteren Auslagen liegen entsetzliche Haufen von Lumpen und Gerippen und nötigen die Vorübergehenden, einen Bogen zu machen, um nicht auf sie zu treten …
   Und diese Gerippe, das sind die Landbewohner der Umgegend. Seit es nicht mehr regnet, haben sie gegen die Verödung des Bodens angekämpft, und jahrelange Leiden und Entbehrungen haben sie auf diese namenlose Magerkeit vorbereitet. Jetzt ist der Kampf zu Ende. Das Vieh ist gestorben, weil es kein Futter mehr hatte, und die Haut haben sie zu einem Spottpreis verkauft. Die einst fruchtbaren Felder sind öde Steppen geworden, die Erde ist ausgetrocknet und verbrannt, und nichts kann mehr auf ihr wachsen. Um zu essen, haben sie schließlich noch die wenigen Kleider verkauft, die ihre Blöße deckten, die silbernen Ringe, die sie an Armen und Knöcheln trugen. Seit Monaten sind sie immer mehr abgemagert, und dann kam trotzdem der Hunger, der qualvolle Hunger, und bald füllten sich die Dörfer mit fürchterlichem Leichengeruch.
   Essen! Sie wollten essen, diese Ärmsten, deshalb kamen sie nach der Stadt. Sie glaubten, man würde Mitleid mit ihnen haben und sie nicht Hungers sterben lassen; sie hatten doch gehört, dass man Korn und Mehl hier aufspeichere wie für eine Belagerung, und dass alle Welt zu essen habe in diesen Mauern.
   Tatsächlich bringen auch die Ochsenwagen und die Kamele täglich große Ladungen von Reis und Gerste herein, die der König von weither kommen lässt, und diese werden in den Vorratskammern und selbst auf den Straßen aufgespeichert, aus Furcht vor der zunehmenden Hungersnot, die der schönen rosigen Stadt von allen Seiten droht. Aber das Korn muss gekauft werden, und dazu gehört Geld. Wohl lässt der König davon an die Armen der Stadt verteilen, aber für die Bauern, die zu Tausenden aus der Umgegend hierherkommen, reicht es nicht aus, da wendet man eben einfach den Kopf weg und lässt sie sterben. So irren sie denn in den Straßen umher, diese Unglücklichen; immer drängen sie nach den Orten, wo gegessen wird, in der Hoffnung, dass ihnen doch noch ein paar Körnchen Reis zugeworfen werden, und schließlich kommt auch für sie die Stunde, wo sie irgendwo umsinken, mit der Stirn auf das Pflaster, um zu sterben.
   Soeben handelt es sich darum, auf einem Trottoir vor den anscheinend schon überfüllten Speichern einige hundert Säcke mit Reis abzuladen, die eine Reihe von Kamelen angebracht haben, und drei kleine, zu Skeletten abgemagerte Kinder von fünf bis zehn Jahren müssen von den Plätzen, wo sie hingestreckt lagen, verjagt werden.
   Es sind drei Brüder, erklärt mir eine Frau, die Eltern, die mit denen sie hergekommen waren, sind gestorben (vor Hunger natürlich), nun sind sie da und bleiben auch hier, sie haben keinen Menschen mehr. Und sie scheint das ganz natürlich zu finden, diese Person, und dabei sieht sie nicht einmal bösartig aus! Mein Gott, was ist das denn bloß für ein Volk? Und wie sind eigentlich die Seelen dieser Leute beschaffen, die um nichts in der Welt einen Vogel töten würden, die sich aber nicht im geringsten aufregen, wenn vor ihrer Tür kleine Kinder Hungers sterben?
   Der kleinste von diesen Dreien scheint nahe am Verenden zu sein. Er bewegt sich nicht mehr, hat nicht mehr die Kraft, die Fliegen zu verjagen, die an seinen geschlossenen Lidern kleben; man meint, sein Leib wäre ausgenommen worden wie der eines Tieres, das gebraten werden soll, und die Knochen seines zarten Gesäßes haben die Haut wund gedrückt infolge des Liegens auf dem Straßenpflaster.
   Vorwärts! Sie müssen fort, um den Getreidesäcken Platz zu machen, die soeben ankommen. Der größte von ihnen erhebt sich, nimmt zärtlich den ganz kleinen auf den Arm und den andern, der noch gehen kann, an die Hand, und so gehen sie still weiter.
   Die Augen des Kleinsten haben sich einen Augenblick geöffnet. O Gott, dieser Blick unverschuldeten Martyriums! Dieser Ausdruck von Angst, Vorwurf und Verwunderung über so viel Elend, Jammer und Verlassenheit!
   Aber sie schließen sich gleich wieder, diese sterbenden Augen, die Fliegen setzen sich darauf, und das arme kleine Köpfchen fällt auf die magere Schulter des Bruders, der ihn fortträgt.
   Ein wenig schwankend, aber ohne Träne, ohne Murren, mit anbetungswürdiger Ergebung und kindlicher Würde stützt er seine Brüder, der kleine Älteste, der sich als Haupt der Familie fühlt. Dann, nachdem er gesehen hat, ob er weit genug entfernt ist, um niemandem mehr im Wege zu sein, legt er sie mit unendlicher Sorgfalt wieder auf das Steinpflaster nieder und sich selbst daneben.
   An der Kreuzung im Mittelpunkt der Stadt, wo die schönsten Straßen zusammentreffen, erreicht der eigentümliche Luxus seine wunderbarsten Effekte. Rosa bis in die äußersten Spitzen, bilden die Pyramiden der brahmanischen Tempel eine Art großer Rosabäume mit weißen Blüten, die sich zwischen Schwärmen schwarzer Vögel hoch in die staubige Luft hinein erheben. Rosa mit weißen Blumen ist die Fassade des Königspalastes, der an Höhe unsere Kathedralen überragt, und der eine Wiederholung, eine Übereinandertürmung einiger hundert ganz gleicher Säulenhallen bildet. Immer die gleichen Säulen, das gleiche Gitterwerk, dieselben kleinen komplizierten Türmchen - auf deren Spitze fortwährend Oriflammen [Fahnen] in den Farben des Reiches brennen, die laut in dem trockenen Winde knistern. Rosa mit weißen Blumen leuchten die Paläste und die Häuser, die sich nach allen Seiten in der staubigen Ferne der Straßen verlieren.
   Die Leute sind hier noch schöner geschmückt, noch angeregter an diesem Kreuzungspunkt, noch üppiger ist die Mannigfaltigkeit dieses Farbenfestes. Zahlreicher aber sind auch die Hungernden, die hier umherirren - die armen kleinen Kinder hauptsächlich, denn mitten auf diesem Platz werden im Freien Reiskuchen gebacken, eine Art Zwieback mit Honig und Zucker, und der Geruch dieses Backwerks zieht sie an. Selbstverständlich bekommen sie nichts davon, aber trotzdem bleiben sie dabei stehen, zitternd vor Schwäche auf ihren kleinen Beinchen und die Augen weit geöffnet vor fieberhaftem Verlangen.
   Das Eindringen der Hungernden in die Stadt nimmt stündlich zu, das ist wie eine Flut des Todes, die vom flachen Lande her die Stadt überschwemmt, und die Wege draußen vor den Toren sind überfüllt mit denen, die sterben, ehe sie die Stadt erreichen.
   Bei einem mit Schmucksachen handelnden Kaufmann, der soeben ganz heiße Krapfen verzehrt, bleibt eine Frau bettelnd stehen, sie gleicht einem Gespenst und rückt einen zum Skelett abgemagerten Säugling an ihre Brust, an die Brustknochen vielmehr. Nein, er gibt ihr nichts, der Kaufmann, er wendet sich sogar weg, um sie nicht zu sehen. Da wird sie fast wahnsinnig, die Mutter mit dem ausgetrockneten Busen, und ihre Zähne öffnen sich zu einem verzweifelten Schrei, der dem einer hungernden Wölfin gleicht. Sie ist noch jung, zweifellos war sie einmal hübsch, ihre Jugend lässt sich noch an den eingefallenen Wangen erkennen, sechzehn Jahre mag sie alt sein, fast selbst noch ein Kind! Sie beginnt zu verstehen, dass niemand Mitleid mit ihr haben wird, und dass sie zum Hungertode verdammt ist, und so dehnt sich ihr Verzweiflungsschrei aus, sie hat das Bedürfnis, zu heulen wie die Tiere im Todeskampf - und neben ihr gehen schwerfällig die wohlgenährten Elefanten vorüber, die jetzt das Futter fressen, das man für teures Geld von weit her für sie kommen lässt.
   Und über all diesen Szenen tönt immer das Geschrei der Tausende von Raben. Dieses ewige Gekrächze beherrscht  in Indien alle anderen irdischen Töne, es schwillt hier zum Crescendo und endet in einem wahren Delirium. Die Zeiten des Hungers, wenn man überall den Geruch des Todes zu spüren beginnt, das sind die Zeiten des Überflusses und der Fülle für Raben, Geier und Fliegen.
   
Loti, Pierre
Indien (ohne die Engländer)
Berlin/Leipzig/Paris 1905

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Indien seit 326 v. Chr.
Wien 2007

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!