Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1895 - Kurt Boeck
Auf der Eisenbahn

Mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. im stolzen Bombay, sind die Bahnhöfe in Indien einfach, immer aber praktisch und den Landesbedürfnissen entsprechend gebaut. Wir treten in die Wartesäle. Riesige Panka-Fächer hängen von den Decken, und es sieht gerade so aus, als habe man dort oben lange, weiße Tischtücher in Rahmen aufgespannt und diese an Schnüren aufgehängt; außerhalb des Raumes hockende Kulis zerren diese Rahmen unablässig an einem Seil hin und her, um den darunter Weilenden Kühlung zuzufächeln, wobei sie sich mit Vorliebe auf den Rücken legen und die Knie übereinander schlagen, indem sie das Zugseil um den frei pendelnden Fuß binden und auf diese Weise das Luftmeer im Speisesaal bewegen.
   Ein wahrhaft beängstigendes Gedränge herrscht am Schalter für die letzte Wagenklasse, und fast unbegreiflich scheint es, dass diese scheinbar bettelarmen Burschen die allerdings erstaunlich billigen Fahrpreise für die Reise erschwingen können, um mit Weib und Kind weite Badewallfahrten nach heiligen Tempelteichen zu machen. So groß ist der Verkehr in dieser letzten Klasse, dass sein Ertrag, trotz der Billigkeit der Fahrkarten, die Einkünfte aus den oberen Klassen bei weitem übertrifft.
   Wir steigen ein; ah, wie geräumig, wie luftig sind diese Wagen mit ihren breiten Längssofas, unter denen sich unglaublich viel Handgepäck unterbringen lässt! Auf einer meiner Indienreisen stieg ich einmal mit wohl gezählten 35 Handgepäckstücken in einen bereits von zwei ähnlich ausgestatteten Kavalieren besetzten Wagen ein, und unsere Habseligkeiten vertrugen sich ganz gut miteinander. Was würde wohl ein Schaffner bei uns zu Lande, etwa nördlich von Meißen, wo die Herren Beamten in der Höflichkeit manchmal etwas zurückgeblieben sein sollen, dazu gesagt haben? Vermutlich: »Sie sind wohl brustkrank im Kopp, Männeken?« oder so etwas ähnliches. Ich darf übrigens nicht vergessen zu erwähnen, dass ich unter besagtem Handgepäck nicht weniger als sieben Hutschachteln mit mir führte, zumeist aus Blech. Man trägt nämlich einen luftdicht verschlossenen, unförmig großen und dicken, aber Nacken und Augen gründlich vor dem Sonnenstich schützenden Hut aus Kork oder Pflanzenmark auf dem Lande oder auf der Jagd in den Dschungeln, bei Besuchen in der Stadt dagegen einen etwas zierlicheren Sonnenhelm aus Leder, der peinlich sauber mit stets frisch geweißter Leinwand bezogen und der Lüftung wegen durch einen gewellten Lederreifen vom Kopf fern gehalten wird und der auch an der Spitze mit einer Ventilationseinrichtung versehen ist. Von fünf Uhr an ist dieser Sola Topi jedoch nicht mehr am Platze, dann tritt ein steifes, schwarzes Filzhütchen oder ein weicher »Knockabout« in seine Rechte, während bei allen Haupt- und Staatsaktionen natürlich die Angströhre des Zylinderhutes auf dem Haupt des gestrengen Sahib dem beturbanten Hindu einen heilsamen Begriff von der Überlegenheit des weißen Mannes beibringen soll. Im Wagen, Automobil, in der Eisenbahn oder auf dem Dampfschiff, ja selbst auf dem Weg zum Ballsaal wird aber baldigst jegliche Behutung gegen die »Smoking Cap« vertauscht, wobei es unserem deutschen Auge allerdings zuerst ungemein drollig vorkommt, solch niedrige Mütze als oberen Abschluss eines dick mit Orden behängten Fracks nebst weißer Binde zu erblicken.
   Für die Aufbewahrung des kleineren Gepäcks kann freilich mehr Platz zur Verfügung sein als bei uns, weil in Indien bei 35° C Durchschnittstemperatur wohl niemand Heizvorrichtungen unter den Sitzen verlangt. Nirgends fällt diese Hitze aber so lästig wie in den Bahnhöfen. Vor jeder Abfahrt aus einer Station erscheint deshalb ein Diener, um Roheis anzubieten, das dann zur besseren Kühlung des Wagens in Wandkästen gelegt wird. Auch die Lüftung der Wagen ist so vollkommen wie möglich; man kann die Fenster öffnen oder durch einen Vorhang, eine Holzjalousie, durch klares oder - weil in Indien fast jeder Europäer augenleidend wird - ganz nach Wahl durch blaues, grünes oder graues Glas verschließen. Der Waschraum bietet ausreichenden Platz zu einem gründlichen Bad, und die Federn der Wagen sind bester Art. Man rollte einfach sein Bündel Kopfkissen und Decken auseinander und schläft auf den fast meterbreiten Sofasitzen besser als in manchem engen Schlafwagen bei uns.
   An den Stationen stehen stets zweierlei Wasserträger zur Gratiserquickung der ärmeren Reisenden bereit, und zwar solche mit großen Ton- oder Bronzekrügen für die brahmanischen Hindus, denen das Wassertragen in Schläuchen aus Fell vom heiligen Rindvieh, wie dies von Seiten der mohammedanischen Inder geschieht, ein Greuel ist. Das Trinkgefäß wird jedoch nie mit den Lippen berührt, sondern das Wasser wird in den geöffneten Mund geschüttet, denn es könnte ja ein Mensch von niedriger Kaste aus diesem Gefäß getrunken haben! Zur Warnung für Strenggläubige legt auch der Wasserträger seine rote Gürtelbinde ab, wenn er nicht dafür bürgen kann, dass das Wasser des Tümpels, aus dem er schöpfte, vollkommen rein im brahmanischen, im religiösen Sinne war; ob es sonstwie verunreinigt oder ungesund ist, darauf kommt es nicht im mindesten an. Neuerdings soll jedoch nur noch filtriertes Wasser verabreicht werden, wie überhaupt in  hygienischer Hinsicht jeder mögliche Fortschritt versucht wird.
   Reisende Hindus machen sich diese Wasserspende eifrig zu Nutze. Der eine wäscht zuerst sich und hierauf seinen Turban damit und hält diesen dann wie einen hellfarbigen, nachflatternden Wimpel zum Trocknen aus dem Fenster des Eilwagens; andere kommen gar auf die Idee, ihre Wasserration über ihre dürren, nackten Lerchenwaden zu gießen und sie dann zu erquicklicher Abkühlung aus den Wagenfenstern zu hängen, doch weiß ich nicht, ob es Warnungstafeln gibt, auf den steht: »Man bittet, Köpfe, Beine und Hände nicht aus dem Fenster zu stecken«, da Tunnels auf den Bahnen der indischen Ebene nicht vorkommen. Die rot beturbanten, blauröckigen Polizisten auf den Stationen scheinen gegen dieses uns befremdende Aushängen der Beine nicht viel einzuwenden; wahrscheinlich machen sie es bei ihren Reisen auch nicht anders.
   Die Einfahrt in eine größere Station ist für den Neuling einigermaßen aufregend, namentlich, wenn er den Zug wechseln muss. In dichten Schwärmen kommen die Gepäckträger, die Kulis, dem Zuge entgegen und hängen sich wie die Kletten an den Wagen, vorzugsweise an die der ersten Klasse. Ein Lendentüchlein und ein riesiger Turban bilden die Bekleidung dieser gewöhnlich vor Hunger und Aufregung zitternden, zähneklappernden Kulis; nur in großen Stationen scheint darauf gesehen zu werden, das ein lumpiges, mit einer großen roten Nummer gezeichnetes Jäckchen den mit Senföl eingesalbten Oberkörper des Kulis bedeckt.
   Der Zug hält.
   Dutzende solcher exotisch duftenden Gestalten klettern hastig in die geräumige Wagenabteilung; jeder erreift, was er gerade erwischen kann, der einen dünnen Spazierstock, der andere die poröse Reistonflasche mit filtriertem Wasser, ein weniger schlauer einen schweren stählernen Handkoffer. Mit seiner Beute beladen hastet jeder wieder hinaus; ohne sich umzusehen, ohne zu fragen, rennt jeder blindlings in irgendeine Richtung davon, nicht etwa in der Absicht zu stehlen, nein, nur aus Aufregung und Dummheit.
   Wie hilft sich in diesem Tohuwabohu der erfahrene Praktikus? Ganz einfach. Er lehnt sich bei der Einfahrt aus dem Fenster und klopft jedem Kuli, der sich an den Wagengriffen anhängen will, mit seiner Reitgerte auf die Finger. Beim Halten steigt er aus, postiert sich vor der Wagentür und lässt dann nur seinen, in einer niedrigen Wagenklasse mitreisenden Diener oder einen einzigen Kuli hinein. Von diesem lässt er die Gepäckstücke durch die Wagenfenster den draußen mit den Armen zappelnden Kulis stückweise herausreichen, gelassen behängt und bepackt er zuerst den einen, dann einen zweiten und dritten Kuli so gründlich von oben bis unten mit Kopf, Schulter-, Rücken- und Handlasten, dass dem armen Kerlchen jedes Davonlaufen zur Unmöglichkeit wird. Schließlich wendet sich der gestrenge Sahib um und schreitet ruhig zum Stationsmaster, um sich aus dem Wirrwarr bereit stehender Züge seinen Wagen zeigen zu lassen; mit schlotternden Knien folgt die überladene Trägerkolonne ihrem Sahib, der sie keines Blickes würdigt, denn er weiß, dass die Kulis ihres Lohnes wegen an seine Sohlen geheftet sind. Beim Einsteigen lässt er wiederum keinen der Bande in den Wagen; sein Diener zieht die Gepäckstücke einzeln in den Wagen hinein und verstaut sie sorglich darin. Dann erst geht es ans Auszahlen. Der Sahib wirft jedem ein winziges Kupferstückchen, einen Viertelanna, aus dem Fenster in die zusammengehaltenen, abgemergelten, bebenden Hände. Winselnd und um reichlicheren Lohn bettelnd stürzt die dürftige Gesellschaft zu Boden, der Sahib lässt sie wimmern, heulen und zanken und steckt sich ruhig seine Birmazigarre an, die außer  durch ihre Größe auch dadurch von den unsrigen ausgezeichnet ist, dass zwischen den Blätterlagen Kümmelkörner eingewickelt zu sein pflegen; so erwartet er das Zeichen zur Abfahrt, das gewöhnlich durch einen Hammerschlag gegen ein hängendes Stück Eisenbahnschiene gegeben wird. Nun erst wirft er gnädigst der Kulihorde noch ein paar Kupfermünzen aus dem Wagenfenster zu und ergötzt sich an der darum ausbrechenden Balgerei. So offenbaren sich auch hier die beiden obersten Grundsätze, mit denen die Engländer glauben, diese indischen Volksmassen meistern zu können; der eine lautet »Familiarity breeds contempt« und der andere, wichtigere »Gib und lass den Eingeborenen so wenig Geld wie möglich, denn Geld ist Macht«!

Boeck, Kurt
Durch Indien ins verschlossene Land Nepal
Leipzig 1903

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