Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Januar 1897 - Mark Twain
Im Bahnhof Victoria Terminus

Vor Abgang des Zuges bot der Bahnhof ein merkwürdiges Schauspiel. Das Gebäude ist sehr groß, aber es war, als hätte sich dort die ganze Welt versammelt: eine Hälfte drinnen, die andere draußen, alle mit berghohen Bettstücken und anderm Gepäck beladen. Beide Hälften versuchten zu gleicher Zeit aneinander vorbei durch eine enge Tür zu kommen. Diese zwei Menschenströme bestanden aus sanften, geduldigen, langmütigen Eingeborenen, unter denen sehr wenige Weiße verstreut waren. Nur die Hindu-Diener der Europäer legten zeitweise ihre natürliche Sanftmut ab und maaßten sich das Vorrecht der Weißen an, alle Farbigen beiseite zu schieben, um rascher für sich Bahn zu machen. Es war eine Schande, wie herrisch und unverschämt sich zum Beispiel unser Satan dabei benahm. Vermutlich ist er auf einer früheren Stufe der Seelenwanderung ein fanatischer Thug gewesen.
   Drinnen im Bahnhof fluteten Massen von Eingeborenen, in sämtliche Farben des Regenbogens gekleidet, nach allen Seiten wirr durcheinander. Voll Eifer und Hast, in der Angst sich zu verspäten, strömten sie nach den langen Wagenreihen hin, wo sie im Innern mit ihren Packen und Bündeln verschwanden, von immer neuen Menschenfluten gefolgt. Und mitten in diesem Wirrwarr und Getöse saßen - anscheinend in voller Gemütsruhe - zahlreiche Gruppen von Farbigen auf den nackten Steinfliesen: schlanke, braue Mädchen, alte, graue, runzlige Weiber, kleine Kinder mit weichen Gliedern, alte und junge Männer und braune Knaben; lauter arme Leute, aber der weibliche Teil, sowohl groß wie klein, mit billigen, glänzenden Ringen an Nase, Zehen, Armen und Beinen geschmückt, die vermutlich ihren einzigen Reichtum ausmachten. Schweigend und geduldig saßen sie da mit ihren armseligen Bündeln, Körben und Hausgeräten und warteten auf ihren Zug, der zu irgendeiner Stunde des Tages oder der Nacht abfahren würde. Sie hatten die Zeit nicht gut berechnet, aber was schadete das - vom Schicksal war es so über sie verhängt, wozu sich da beunruhigen? Zeit hatten sie vollauf, endlose Stunden lagen vor ihnen, und was geschehen sollte, würde geschehen - keine Macht der Erde konnte es beschleunigen.
   Die Eingeborenen reisten dritter Klasse für ein unglaublich billiges Fahrgeld. Man packte sie eng zusammen in Wagen, von denen jeder etwa fünfzig Personen fassen konnte. So geschah es oft, daß Brahminen der höchsten Kaste in persönliche Berührung mit Leuten aus der niedrigsten Kaste gebracht und folglich verunreinigt wurden, was natürlich jedem in die Verhältnisse Eingeweihten höchst anstößig vorkam. Es konnte sich leicht ereignen, daß ein Brahmine, der keine Rupie besaß, dicht neben den reichen Erbherrn aus einer niedern Kaste zu stehen kam, welcher Inhaber eines alten, mehrere Ellen langen Titels war. Trotz seiner erhabenen Würde muß der arme Brahmine sich darein ergeben, denn falls einer von beiden Erlaubnis erhielt, bei den geheiligten Weißen Platz zu nehmen, so war es sicherlich nicht er, sondern der unwürdige Reiche. Der Zug hatte eine endlose Reihe solcher Wagen dritter Klasse, denn die Hindus reisen in ganzen Horden. Was für eine erbärmliche Nacht mögen sie da drinnen verlebt haben.
   Als wir bei unserm Wagen anlangten, fanden wir Satan und Barney mit ihrem Gefolge von Hindus, welche Bettstücke, Sonnenschirme und Zigarrenkisten trugen, schon in voller Thätigkeit. Barney war eine Abkürzung; unsern zweiten Diener bei seinem eigentlichen Namen zu nennen hätte zuviel Zeit gekostet. Wir fanden die innere Einrichtung des Coupés keineswegs unbehaglich, aber von einer Einfachheit, wie man sie selbst in Frankreich oder Italien nicht kennt. Die Wände aus billigem, zum Teil rohen Brettern gezimmert, mit dunkler Farbe angestrichen ohne alle Verzierung. Der Boden war ohne Decke, aber nur zu bald sollte fingerdicker Staub darauf liegen. An einer Seite des Coupés befand sich ein Netz zur Aufnahme des Handgepäcks, auf der entgegengesetzten eine Thür, die immer wieder aufsprang, man mochte sie schließen so oft man wollte; sie führte in einen kleinen Toilettenraum, wo man sein Handtuch aufhängen konnte, falls man eins hatte. Man kauft die Handtücher mit den Betten, auf der Eisenbahn werden keine geliefert. An jeder Seite der Wand lief der ganzen Länge nach ein Ledersofa hin, und über demselben hing an Riemen ein flaches Schlafbrett mit ledernem Überzug; es wird nachts heruntergelassen und bei Tage an der Wand festgemacht, wo es niemand im Wege ist. So bleibt der große Mittelraum frei und man kann sich ungehindert darin ausbreiten. Eine so bequeme Einrichtung habe ich noch in keinem Lande gefunden, auch ist man ganz ungestört, weil meistens nur zwei Fahrgäste in einem Coupé sitzen; aber selbst vier Personen haben hinreichend Platz, ohne einander im geringsten zu beengen. Sogar auf unsern amerikanischen Eisenbahnen, die sonst besser sind als alle andern, fühlt man sich nicht so gemütlich wie hier, weil zu viele Reisende in einem Wagen fahren.
   Über den Sofas befanden sich längs des ganzen Coupés große blaugefärbte Fensterscheiben. Das blaue Licht sollte die Augen vor dem blendenden Sonnenschein schützen, und wer Luft haben wollte, ließ die Fenster herunter. Zwei Öllampen an der Decke brannten so hell, daß man lesen konnte, wollte man es dunkel haben, so zog man einen Schirm aus grünem Stoff davor.
   Während wir vor der Abfahrt draußen noch mit Freunden sprachen, ordneten Barney und Satan drinnen unser Handgepäck, samt Büchern, Früchten und Sodawasserflaschen in den Netzen; die Bettsäcke und das schwere Gepäck schafften sie in das Waschkabinett, hingen Mäntel, Sonnenhelme und Handtücher auf die Haken und befestigten die beiden Schlafbretter an der Wand, dann nahmen sie ihre eigenen Betten und begaben sich nach der dritten Klasse.
   So waren wir nun in dem hübschen, großen, hellen, luftigen und behaglichen Raum ganz für uns, konnten nach Belieben auf und ab gehen, uns hinsetzen und schreiben oder bequem ausgestreckt lesen und rauchen. Die Mitteltür am vorderen Ende des Coupés führte in ein zweites, genau ebenso eingerichtetes, das meine Frau und Tochter innehatten. Als wir gegen neun Uhr abends an einer Station hielten, fanden sich Barney und Satan wieder ein; sie schnallten die großen Bettsäcke auf und ordneten die Matratzen, Bettücher, bunten wollenen Decken und Kopfkissen auf den Sofas beider Coupés zu einem vollständigen Lager. Zimmermädchen gibt es in Indien nicht, offenbar ist weibliche Bedienung dort ganz unbekannt. Zuletzt schlossen die Diener die Verbindungsthür, räumten flink bei uns auf, legten unsere Nachthemden aufs Bett, stellten die Pantoffeln zurecht und zogen sich wieder in ihr Quartier zurück.

Twain, Mark
Meine Reise um die Welt
Stuttgart 1898

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!