Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1884 - Joseph Alexander Graf von Hübner
Von Kalkutta nach Darjeeling

Ehemals brauchte eine Familie, die die frische Luft des Himalaya aufsuchte, im Palankin 15 bis 20 Tage, um Darjeeling zu erreichen. Jetzt wird diese Entfernung in weniger als 30 Stunden zurückgelegt.
    Ich verließ Kalkutta um die Mitte des Tages. Rasch durchflog der Zug eine unabsehbare, wohl bebaute, an vielen Stellen bewaldete Ebene. Unter diesem blendenden und glühenden Himmel wirkt der Anblick einiger Tamarinden oder indischer Feigenbäume wohltätig auf das Auge. Man glaubt, augenblicklich eine Kühlung der Atmosphäre zu fühlen. Allerdings nur eine Täuschung!
    Es war Nacht geworden, als wir am Ufer des Ganges anlangten. Man setzt über den Strom in einer Dampffähre, die gewöhnlich unterwegs im Schlamm stecken bleibt, was auch uns widerfuhr.
    Die erste Morgendämmerung ließ uns im Norden den Himalaya erraten. In Siliguri, an der Grenze von Britisch-Sikkim, wurden die Reisenden in zwei von einer Lokomotive gezogenen Char-à-bancs [offene Wagen mit Sitzbänken in Längsrichtung] verpackt. Die Eisenbahn hat sich in eine einfache, fortwährend steigende Tramway verwandelt. Auf dem Grat des Bergrückens, dessen Seiten beinahe senkrecht abfallen, während links und rechts der Abgrund gähnt, beschreiben wir haarsträubende Kurven und noch entsetzlichere Zickzacke. Aber je mehr wir uns erheben, desto frischer wird die Luft, desto freier atmen wir, desto mehr bekleidet sich das Bergland, anfangs mit niederem Gestrüpp, dann mit stattlichen Büschen, endlich mit prachtvollen Kastanienwäldern. Hinter uns, gegen Süden, steigt scheinbar die große Gangesebene am Himmel empor, einem ungeheuren grauen Teppich gleich, der, auf der Höhe unserer Gesichtslinie wie an eine Wand geheftet, sich nach unten entrollt, bis er den Fuß der Berge erreicht, die wir ersteigen. Von diesem dunklen Hintergrund reißen sich zwei große Silberbänder ab: die Nebenflüsse des Ganges und des Brahmaputra, der Mahananda und der Tista. Ersterer gleicht einer im Halbdunkel der Dämmerung leuchtenden Säule. Noch eine halbe Stunde, und die Nacht umfängt uns. Aber wir hören und riechen den Wald.
    Die Luft ist entschieden kalt geworden. Endlich hält der Zug bei der militärischen Gesundheitsstation Jallapur, worauf er, mit dämonischer Geschwindigkeit, nach Darjeeling hinabrast. Entfernung von Kalkutta: 364 Meilen [586 km].
    Ich steige in dem ganz guten kleinen Hotel eines Schotten ab, und nachdem ich einen Platz nahe am Feuer gewählt und mich sorgfältig in meinen Winterüberrock und einen Schal gehüllt habe, erwarte ich mit drei oder vier jungen Ehepaaren, die sich in ähnlicher Gemütsstimmung befinden, mit Ungeduld das Auftragen des Abendmahles.
    Darjeeling, erbaut auf einem der Strebepfeiler des Himalaya, 7.000 Fuß [2.100 m] über der Meeresfläche und 5.000 Fuß [1.500 m] über dem Flussbett des Ranjit, der Britisch-Sikkim von dem chinesischen Sikkim scheidet, ist während der heißen Jahreszeit das irdische Paradies der offiziellen Welt und (im nahen Jallapur) eine Gesundheitsstation der Armee von Bengalen. Zugleich ist es der der südlichen Himalayakette nächstgelegene Europäern zugängliche Punkt.
   Leider, leider dichter Nebel! Um mich zu trösten, sagten mir meine liebenswürdigen Nachbarinnen am Frühstückstische, dass der Schnee, the snows, nämlich der Kantsch, in dieser Jahreszeit niemals sichtbar ist. Welches Missgeschick! Der Kaukasus, mit Ausnahme einer halben Stunde, während der er mich alle Reize seiner ernsten Schönheit bewundern ließ, erwies sich als ebenso unhold.
    Darjeeling steht am Rande einer großen Schlucht. Gegen Süden verhüllt die Kuppe von Jallapur die Aussicht in die Gangesebene. Ringsum erheben sich Berge zu den Wolken. Der Kantsch allein nimmt, wenn es ihm beliebt sich zu zeigen, den ganzen nördlichen Horizont ein.
    Nach einem Besuch bei dem Stellvertreter des Kommissars, Mr. Wace, einsamer Spaziergang in der Nähe der Stadt. Überall Wolken! Über mir, unter mir, neben mir. Sie kommen und gehen, und, was ich früher nie sah, steigen und sinken nebeneinander in senkrechter Richtung. Zu meinen Füssen öffnet sich die Schlucht, aber eine dichte Luftschicht verhüllt sie. Ein kleiner buddhistischer Tempel, der gerade unter mir an der Brüstung des Abfalls hängt, scheint auf der glatten Oberfläche eines Sees zu schwimmen. Da steigt plötzlich aus diesem eine weiße Nebelsäule empor, auf ihrem Weg nach oben erst das Heiligtum umgehend, dann mich. Noch höher angelangt, verwandelt sie sich in einen Baldachin. Endlich zerrinnt das Luftgebilde und mit ihm auch der vermeintliche See, und nichts hindert mich mehr, den Blick in die Tiefe zu senken. Andere Male dringen Sonnenstrahlen durch das Chaos von Fels und Wolken. Da kommen plötzlich einzelne Bruchstücke der Stadt Darjeeling zum Vorschein. Gärten und Villen und wieder Gärten und zierliche Häuser, erst noch durch dicke Nebelballen verhangen und nun in all ihrer Schönheit in vollem Sonnenglanze. Die Stadt, auf der Kuppe eines in die große Kluft vorspringenden Bergrückens erbaut - ich möchte ihn ein Promontorium nennen - kriecht von Terrasse zu Terrasse, und alle diese Terrassen schweben zwischen Himmel und Abgrund. Von den am höchsten Grate stehenden Häusern hinab blickend, sieht man in den Hof meines Hotels. Von letzterem, in fast senkrechter Richtung gleichfalls nach unten, beherrscht man den öffentlichen Platz mit seinen Baumgruppen und dem großen Hindutempel, und in einiger Entfernung eine Heilanstalt, deren Architektur an Grosvenor Gardens oder Alexandra Hotel in London erinnert. Die nahen Höhen sind mit Häusern und Cottages, mit kleineren und größeren Gärten besät. Die sie verbindenden, trefflich gehaltenen Fahrwege und Reitpfade schlängeln sich den Vorsprüngen und Einschnitten des Berges entlang. Es ist einer der bevorzugten Orte unseres Erdballs, dieses Darjeeling! Wohlstand und Behaglichkeit stehen ihm auf die Stirn geschrieben.
    In den späteren Nachmittagsstunden füllen sich die Wege mit Reitern und Amazonen, mit Ladies, die im Dandy [einer Hängematte mit Tragstange] getragen werden, und selbst mit Fußgängern, denn hier gestattet sich der Anglo-Inder den Gebrauch seiner Beine.
    Neben dieser eleganten Welt drängen sich Ghurka, Lepcha und Tibeter, die alle mehr oder weniger den tatarischen oder chinesischen Typus zeigen, aber nicht die geringste Stammesähnlichkeit mit den wenigen Hindus, die ihren englischen Herren hierher gefolgt sind. Die Ghurka oder Nepalesen sind ein kräftiger Menschenschlag von mittlerem oder kleinem Wuchs und stark entwickelten Muskeln. Sie kleiden sich wie die Tataren in Peking, tragen eine aufgestülpte Pelzmütze auf dem Kopf und einen tüchtigen Stock in der Hand. Ihr Anblick versetzt mich, weit über den Himalaya hinweg, nach Zentralasien und an die Chinesische Mauer. Männer von Stand tragen mit Ausnahme des Zopfes die chinesische Tracht. Ihre Kasaks sowohl wie die Beinkleider scheinen aus den Werkstätten chinesischer Schneider hervorgegangen zu sein. Die Frauen, und man sieht deren in großer Anzahl, gehen unverschleiert aus und machen sich durch ihre freies Benehmen bemerkbar. Die Leute von tatarischer Abkunft sind leicht zu erkennen an der Stumpfnase, dem breiten Gesicht und dem von einem Ohr zum anderen reichenden Mund mit Haifischzähnen und fleischigen Lippen. Dies Volk schwatzt mit Stentorstimmen und lacht ohne Unterlass, was gegen das verdrossene und melancholische Wesen der Hindus angenehm absticht. Vor einem geräumigen Filzzelt hatte ich die Ehre einer Dame von hohem Stande vorgestellt zu werden. Sie lebt hier mit ihren fünf legitimen Gatten.
    Alles in allem war der heutige ein guter und angenehmer Tag. Nur eins hat gefehlt, der Kantsch.
    Um fünf Uhr morgens stürzt Mr Doyle, der Eigentümer des Hotels, in mein Schlafzimmer und führt mich eiligst auf die Veranda. Es ist noch Nacht, und eine bitterkalte Nacht, aber im Norden glänzt eine himmlische Vision. Man stelle sich das sturmgepeitschte Meer vor, mit einer sich bäumenden, alle andern überragenden ungeheuren Woge; und man stelle sich vor, dieser Ozean sei in seinem Zorn plötzlich zu Stein, oder besser, ein schneebedecktes, mit rosigen Lichtern und violetten Schatten umflossenes Eismeer geworden. Dies Zauberbild nimmt den ganzen nördlichen Himmel ein: Es ist der Kantsch.

Hübner, Alexander Freiherr von
Durch das Britische Reich
Band 2, Leipzig 1886

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Indien seit 326 v. Chr.
Wien 2007

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!