326 v. Chr. - Arrian
Alexander kehrt um
Am Beas
Nun aber erhielt Alexander vom Lande jenseits des Hyphasis [Beas] die Meldung, dass es wohlhabend sei und seine Bewohner mit gleicher Tüchtigkeit ihr Feld bestellten wie sie die Waffen führten, und dass ihre inneren Staatseinrichtungen wohl geordnet seien. Das Volk stehe nämlich unter der Herrschaft der Besten, die es nicht ungebührlich führten. Dabei besitzen die Einwohner eine weit größere Menge an Elefanten als die übrigen Inder, und diese Tiere zeichnen sich ebenso sehr durch ihre Größe wie ihre Streitbarkeit aus. Solche Nachrichten erhöhten freilich Alexanders Leidenschaft, noch weiter vorzudringen, dagegen verloren seine Makedonier immer mehr Lust und Mut, weil sie sahen, mit welchem Wohlgefallen ihr König Beschwernisse an Beschwernisse, Kämpfe an Kämpfe reihte. Im Lager fanden Zusammenrottungen statt, wobei die einen, und das waren die Gemäßigten, ihr Geschick bejammerten, die anderen rundheraus erklärten, dass sie, selbst wenn Alexander an ihre Spitze träte, ihm nicht mehr folgen würden. Sobald dies Alexander innegeworden war, entbot er, bevor Aufregung und Mutlosigkeit bei seinen Kriegern noch weiter um sich griffen, die Befehlshaber der Abteilungen zu sich, und redete sie also an:
»Makedonier und Verbündete! Da ich sehe, dass Ihr mir nicht mehr mit der alten Bereitwilligkeit in die Gefahren folgt, habe ich Euch hier versammelt, entweder um Euch zum Weiterziehen zu bewegen, oder mich von Euch zum Rückzug bewegen zu lassen. Habt Ihr Euch über die bisher bestandenen Mühseligkeiten und über meine Führung zu beschweren, so ist es überflüssig, noch ein Wort darüber zu verlieren. Verdanken wir aber eben diesen Mühseligkeiten den Besitz von Ionien [dem griechischen Festland und Städten an der türkischen Westküste], dem Hellespont [den Dardanellen], von beiden Phrygien, von Kappadokien, Paphlagonien, Lydien, Karien, Libyen und Pamphylien [der heutigen Türkei]; verdanken wir ihnen den Besitz von Phönizien [der Ostküste des Mittelmeeres], Ägypten samt dem griechischen Libyen [der Cyrenaika], von einigen Teilen Arabiens, von Syrien im Tal [Syrien und Libanon] wie auch zwischen den Flüssen [Nordirak], von Babylon und dem Gebiete von Susa, von Persis und Medien, [Iran und Afghanistan], und von allem, was zum Perser- und Mederreich gehörte und nicht gehörte; verdanken wir ihnen den Besitz von den Ländern jenseits der kaspischen Pforten [nordöstlich von Teheran] und jenseits des Kaukasus, vom Tanais [Don] und von dem, was noch über dem Tanais liegt, von Baktrien [Usbekistan und Tadschikistan], Hyrkanien [Südküste des Kaspischen Meeres] und dem hyrkanischen [Kaspischen] Meer; haben wir ferner die Skythen in ihre Wüste zurückgedrängt, ja fließt überdies der Indus jetzt durch unser Gebiet und ebenso [dessen westliche Zuflüsse] der Akesines [Chenab], der Hydaspes [Jhelum], der Hydraotes [Ravi]: Was nehmt Ihr da Anstand, auch noch den Hyphasis [Beas] Eurer, der makedonischen, Herrschaft z u unterwerfen? Oder fürchtet Ihr, andere Barbaren möchten Eurem Angriff noch standhalten, von denen doch die einen sich freiwillig unterwerfen, die anderen auf der Flucht ergriffen werden, wiederum andere fliehend ihr verödetes Land preisgeben als Zuwachs, der dann unseren Verbündeten und denen, die sich freiwillig ergeben haben, zum Besitz eingeräumt wird.
Das Ziel seiner Beschwernisse liegt nach meiner Ansicht für einen edlen Mann nur in den Beschwernissen selbst, soweit diese ihn zu rühmlichen Taten führen. Verlangt aber jemand das letzte Ziel unserer Kriege selbst zu erfahren, so wisse er, dass für uns nicht mehr viel Land übrig ist bis zum Gangesstrom und dem Ostmeer; mit diesem aber, sage ich, werdet Ihr das hyrkanische Meer zusammenhängend finden; denn das große Meer umgibt die ganze Erde. Auch werde ich es den Makedoniern und ihren Verbündeten nachweisen, wie der indische Meerbusen mit dem persischen, und das hyrkanische Meer mit dem indischen Meerbusen in Verbindung steht. Vom persischen Meerbusen aus wollen wir durch unsere Flotte Libyen [gemeint ist Afrika] umschiffen lassen bis zu den Säulen der Herakles [Gibraltar], und von den Säulen an wird das ganze innere Libyen und somit denn ganz Asien unser, und die Grenzen der Herrschaft werden dann hier mit denjenigen zusammenfallen, die die Gottheit auch der Erde gesetzt hat. Kehren wir aber jetzt um, so bleiben noch viele streitbare Stämme jenseits des Hyphasis bis ans Ostmeer übrig, und hinter diesen noch viele nördlich nach dem hyrkanischen Meer zu, desgleichen die skythischen Stämme nicht fern von diesen, so dass zu befürchten steht, es werden, wenn wir den Rückzug antreten, die bereits unterworfenen Völker, deren Besitz nicht gehörig gesichert ist, sich von den noch nicht unterworfenen zum Abfall verführen lassen. Und dann werden eben unsere vielen Beschwernisse für uns nutzlos sein, oder wir müssen mit anderen Beschwernissen und Gefahren wieder von vorn anfangen. So harret denn aus, Makedonier und Verbündete! Werden ja doch nur unter Beschwerden und Kämpfen rühmliche Taten verrichtet, und süß wie das Leben des Tapferen ist auch sein Tod, da er unsterblichen Nachruhm hinterlässt. Oder wisst Ihr nicht, dass unser Ahnherr nicht in Tiryns, noch in Argos, auch nicht im Peloponnes oder in Theben stille gesessen, um zu solcher Höhe des Ruhmes zu gelangen, dass er aus einem Menschen zu einem Gott geworden ist, oder doch wenigstens dafür gehalten wird? [Gemeint ist Herakles, den Alexander zu seinen Vorfahren zählte.] Hatte doch fürwahr auch Dionysos, ein ohne Vergleich erhabenerer Gott als Herakles, nicht weniger Beschwernisse. Wir aber, wir sind noch über Nysa [einem Ort an der Grenze von Afghanistan und Pakistan, dessen Einwohner bei Alexanders Einzug behaupteten, sie seien Anhänger des Gottes Dionysos] hinaus gekommen, und der Aornosfelsen [Tashkurgan in Afghanistan], der für Herakles uneinnehmbar war, ist in unserem Besitz. So fügt denn, was von Asien noch übrig ist, dem Gewonnenen bei, das Wenige dem Vielen. Denn was hätten wir selbst Großes und Rühmliches vollbracht, wenn wir in Makedonien sitzen geblieben wären und uns damit begnügt hätten, ohne Beschwernis unsere Heimat zu beschirmen, und unsere Grenznachbarn, die Thrakier, oder die Illyrer oder die Triballer oder auch die unserer Sache nicht holden Griechen abzuwehren? Ja hätte ich Euch zu Beschwernissen und Kämpfen geführt, mich selbst aber Beschwernissen und Kämpfen entzogen, so würdet Ihr nicht ohne Grund im Voraus den Mut sinken lassen, weil dann die Beschwernisse Euch allein zufielen, während Ihr den Kampfpreis dafür anderen erringen müsstet. Nun aber sind uns die Beschwernisse gemeinschaftlich, an den Kämpfen haben wir gleichen Anteil, der Kampfpreis aber liegt für alle in der Mitte. Denn Euer ist das Land und Ihr seid seine Verwalter. Auch von seinen Schätzen fällt nun der größte Teil Euch zu; und haben wir vollends ganz Asien durchzogen, dann werde ich, beim Zeus, nicht nur die schönen Hoffnungen eines jeden erfüllen, sondern sogar übertreffen. Die, die nach Hause zurückkehren wollen, werde ich in ihre Heimat entlassen oder sie selbst dahin zurück führen; diejenigen aber, die hier bleiben, zum Gegenstand des Neides für die Abgehenden machen.«
Nachdem Alexander dies und anderes gesprochen, waltete lange Zeit Stillschweigen, weil man es nicht wagte, geradezu dem König zu widersprechen, aber auch nicht geneigt war, ihm beizustimmen. Indessen forderte Alexander wiederholt jeden zum Sprechen auf, falls jemand entgegengesetzte Ansichten haben sollte. Aber trotzdem dauerte das Stillschweigen noch geraume Zeit fort, bis endlich Koinos, Polemokrates' Sohn, sich ein Herz fasste und etwa Folgendes sprach:
»Du selbst, mein König, willst nicht als Gebieter die Makedonier befehligen, sondern erklärst, sie nur dann weiter führen zu wollen, wenn Du sie überzeugst, nicht aber Zwang anzuwenden, wenn Du überstimmt wirst. Deshalb werde ich jetzt nicht für uns, die wir vor den anderen geehrt und mit dem Ehrenpreis für die überstandenen Beschwernisse größtenteils schon bedacht und mit dem Heerbefehl vor anderen betraut, Dir in allem zu folgen bereit sind, nicht für uns werde ich also sprechen, sondern vielmehr im Namen des gesamten Heeres. Jedoch auch im Namen des Heeres werde ich nicht aussprechen, was es am liebsten hören würde, sondern das, wovon ich glaube, dass es für Dich in Bezug auf die Gegenwart am ersprießlichsten, in Bezug auf die Zukunft am sichersten sein wird. Das Recht aber, mit dem nicht zurückzuhalten, was mir das Beste zu sein dünkt, verleiht mir mein Alter und die mir von Dir beigelegte Bedeutung vor den anderen und mein bisher stets bereitwilliger Mut in allen Beschwernissen und Gefahren. Denn je zahlreicher und größer die Taten sind, die Du als Feldherr und die mit Dir aus der Heimat gezogenen vollbracht, desto ratsamer erscheint es mir, den Beschwernissen und Kämpfen endlich ein Ziel zu setzen. Siehst Du es ja doch selbst, wie viele von unseren Makedoniern und Griechen, die mit Dir ausgezogen sind, noch übrig sind. Von diesen hast Du die Thessalier gleich von Bactra [Balkh in Afghanistan] aus nach Hause entlassen, weil Du sie zu weiteren Beschwernissen nicht mehr bereitwillig fandest, und hast wohl daran getan. Von den übrigen Griechen sind die einen in den vor Dir erbauten Städten angesiedelt, und selbst von diesen bleiben nicht alle gern; die anderen und das makedonische Heer teilen noch jetzt mit Dir Beschwernisse und Kämpfe und haben einen Teil ihrer Mannschaft in den Schlachten eingebüßt; ein anderer Teil, durch Wunden kampfunfähig geworden, musste in verschiedenen Gegenden Asiens zurückgelassen werden; die Mehrzahl wurde durch Krankheiten aufgerieben, nur wenige von vielen sind noch am Leben, und diese körperlich nicht mehr so rüstig und geistig noch mehr entkräftet. Sie alle haben Sehnsucht nach ihren Eltern, sofern diese noch leben, die Sehnsucht nach ihren Frauen und Kindern, ja die Sehnsucht nach dem bloßen heimatlichen Boden und diesen wieder zu sehen, heimkehrend in dem von Dir verliehenen Glanze, einst klein, jetzt groß, einst arm, jetzt reich - das ist doch wohl eine bei ihnen verzeihliche Sehnsucht. Darum führe sie jetzt nicht gegen ihren Willen weiter; denn Du wirst in Gefahren an ihnen nicht mehr dieselben haben, da ihnen die Bereitwilligkeit zum Kampf abgeht. Kehre vielmehr selbst, wenn es Dir beliebt, in die Heimat zurück; sieh Deine Mutter wieder, bringe die Angelegenheiten der Griechen in Ordnung; trage erst diese zahlreichen und großartigen Siege in Dein Vaterhaus, und dann magst Du von Neuem einen Zug antreten, sei es nun, wenn Du willst, gegen dieselben nach Osten zu wohnenden Stämme der Inder, oder nach dem Euxinischen [Schwarzen] Meer, oder gegen Karthago und das hinter Karthago gelegene Libyen. Das Ziel anzugeben ist Deine Sache, und andere Makedonier und andere Griechen werden Dir folgen, junge statt der alten, frische statt der entkräfteten, für die die Wechselfälle des Krieges, aus eigener Erfahrung ihnen noch unbekannt, für den Augenblick nichts abschreckendes, vielmehr bei der Aussicht auf eine frohe Zukunft etwas Anziehendes haben. Sie werden Dir natürlich auch deswegen noch williger folgen, wenn sie sehen dürfen, dass die früheren Genossen Deiner Beschwernisse und Kämpfe in ihre heimatlichen Sitze zurückgekehrt sind, reich, die einst arm, berühmt, die einst unbekannt waren. Schön ist, mein König, wenn sonst etwas, zumal die Mäßigung im Glück. Du freilich hast als Feldherr und der Spitze eines solchen Heeres von Feinden nichts zu fürchten; aber was von der Gottheit kommt, kommt unerwartet und ist deshalb unvermeidlich für den Menschen.«
Also sprach Koinos, und mit lautem Beifall sollen seine Worte von den Anwesenden begrüßt worden sein, ja vielen entstürzten auch Tränen, und diese bezeugten noch deutlicher ihre Abneigung gegen weitere Gefahren so wie ihre Freude an der Heimkehr.
Alexander, im Augenblick ärgerlich sowohl über die Freimütigkeit des Koinos als auch über die Bedenken der übrigen Anführer, löste die Versammlung auf, rief sie jedoch für den folgenden Tag im Zorn wieder zusammen und erklärte: Er selbst werde weiter ziehen, wolle aber keinen Makedonier zwingen, ihm unfreiwillig zu folgen; denn er werde schon noch Leute finden, die ihren König freiwillig begleiten würden. Wer nach Hause gehen wolle, dem stehe es frei, heimzuziehen und seinen Angehörigen zu erzählen, dass er um den Preis der Heimkehr seinen König mitten unter den Feinden verlassen habe. Mit diesen Worten zog er sich in sein Zelt zurück und ließ an jenem Tag und an den zwei folgenden nicht einmal einen seiner Vertrauten vor sich kommen, sondern wartete ab, ob nicht vielleicht, wie dies bei einem Soldatenhaufen meist zu geschehen pflegt, bei den Makedoniern und den Verbündeten eine Sinnesänderung einträte und sie so zur Folgsamkeit geneigter machen würde. Als aber im Lager wiederum tiefe Stille herrschte und es sich zeigte, dass man zwar über seinen Zorn betrübt sei, sich jedoch hierdurch nicht umstimmen lasse, da opferte er dann aber nach Angabe des Lagiden Ptolemäus wegen des Überganges, erhielt aber keine günstigen Opferzeichen. Jetzt erst, als ihn alles auf die Heimkehr hinwies, versammelte er die ältesten seiner Vertrauten und hauptsächlich die ihm ergebendsten wieder um sich und ließ unter dem Heer bekannt machen, dass die Heimkehr beschlossen sei.
Darüber erhob sich ein Geschrei, wie es ein gemischter Haufen vor Freude erheben kann, und die meisten vergossen Tränen; manche näherten sich auch dem königlichen Zelt und wünschten Alexander alles Gute, weil er sich durch sie allein habe besiegen lassen.
Nun schied er sein Heer in Abteilungen und befahl, zwölf Altäre zu errichten, so hoch wie die höchsten Türme, aber mit noch mehr als Turmesweite, zum Zeichen seines Dankes an die Götter, die ihn siegreich bis hierher geführt, und als Denkmal seiner Beschwernisse. Sobald die Altäre errichtet waren, brachte er auf ihnen die üblichen Opfer dar und stellte Wettkämpfe in Leibesübungen und zu Pferde an. Das Land bis an den Hyphasis fügte er noch zu dem Gebiete des Poros [ein einheimischer Fürst] an und trat dann den Rückweg zum Hydraotes an.
Arrians Werke, übersetzt und erläutert von Dr. C. Cleß;
Anabasis oder Feldzüge Alexanders, Erstes Bändchen, Stuttgart 1862
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Indien seit 326 v. Chr.
Wien 2007