1799 - Alexander von Humboldt
Über die Guanchen
Teneriffa
Auf Teneriffa fragt man sich, was aus den Guanchen geworden ist, deren in Höhlen versteckte, vertrocknete Mumien ganz allein der Vernichtung entgangen sind. Im 15. Jahrhundert holten fast alle Handelsvölker, besonders aber die Spanier und Portugiesen, Sklaven von den Kanarischen Inseln, wie man sie jetzt von der Küste von Guinea holt. Die christliche Religion, die in ihren Anfängen die menschliche Freiheit so mächtig förderte, musste der europäischen Habsucht als Vorwand dienen. Jedes Individuum, das gefangen wurde, ehe es getauft war, verfiel der Sklaverei. Zu jener Zeit hatte man noch nicht zu beweisen gesucht, dass der Neger ein Mittelding zwischen Mensch und Tier sei; der gebräunte Guanche und der afrikanische Neger wurden auf dem Markt zu Sevilla miteinander verkauft, und man stritt nicht über die Frage, ob nur Menschen mit schwarzer Haut und Wollhaar der Sklaverei verfallen sollen.
Auf dem Archipel der Kanarien bestanden mehrere kleine, einander feindlich gegenüberstehende Staaten. Oft war dieselbe Insel zwei unabhängigen Fürsten unterworfen, wie in der Südsee und überall, wo die Kultur noch auf niedriger Stufe steht. Die Handelsvölker befolgten damals hier dieselbe arglistige Politik wie jetzt an den Küsten von Afrika: sie leisteten den Bürgerkriegen Vorschub. So wurde ein Guanche Eigentum des anderen, und dieser verkaufte jenen den Europäern; manche zogen den Tod der Sklaverei vor und töteten sich und ihre Kinder. So hatte die Bevölkerung der Kanarien durch den Sklavenhandel, durch die Menschenräuberei der Piraten, besonders aber durch lange blutige Zwiste bereits starke Verluste erlitten, als Alonso de Lugo sie vollends eroberte. Den Überrest der Guanchen raffte im Jahre 1494 größtenteils die berühmte Pest hin, die sogenannte Modorra, die man den vielen Leichen zuschrieb, die die Spanier nach der Schlacht bei Laguna hatten frei liegen lassen. Wenn ein halbwildes Volk, das man um sein Eigentum gebracht hat, im selben Land neben einer zivilisierten Nation leben muss, so sucht es sich in den Gebirgen und Wäldern zu isolieren. Inselbewohner haben keine andere Zuflucht. Und so war denn das herrliche Volk der Guanchen zu Anfang des 17. Jahrhunderts so gut wie ausgerottet; außer ein paar alten Männern in Candelaria und Guimar gab es keine mehr.
Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass die Weißen es nicht immer verschmäht haben, sich mit den Eingeborenen zu vermischen; aber die heutigen Kanarier, die bei den Spaniern schlichtweg Isleños heißen, haben triftige Gründe, eine solche Mischung in Abrede zu ziehen. In einer langen Geschlechterfolge verwischen sich die charakteristischen Merkmale der Rassen, und da die Nachkommen der Andalusier, die sich auf Teneriffa niedergelassen, selbst von ziemlich dunkler Gesichtsfarbe sind, so kann die Hautfarbe der Weißen durch die Kreuzung der Rassen nicht merkbar verändert worden sein. Es ist Tatsache, dass gegenwärtig kein Eingeborener von reiner Rasse mehr lebt, und sonst ganz wahrheitsliebende Reisende sind im Irrtum, wenn sie glauben, bei der Besteigung des Piks schlanke, schnellfüßige Guanchen zu Führern gehabt zu haben. Allerdings wollen einige kanarische Familien vom letzten Hirtenkönig von Guimar abstammen, aber diese Ansprüche haben wenig Grund, sie werden von Zeit zu Zeit wieder laut, wenn einer aus dem Volk, der brauner ist als seine Landsleute, Lust bekommt, sich um eine Offiziersstelle im Dienst des Königs von Spanien umzutun.
Kurz nach der Entdeckung von Amerika, als Spanien den Gipfel seines Ruhms erstiegen hatte, war es Brauch, die sanfte Gemütsart der Guanchen zu rühmen, wie man in unserer Zeit die Unschuld der Bewohner von Tahiti gepriesen hat. Bei beiden Bildern ist das Kolorit glänzender als wahr.
Die Einwohner der Inseln des Stillen Ozeans, die man wohl zu stark gepriesen hat und die einst Menschenfresser waren, haben in mehr als einer Hinsicht Ähnlichkeit mit den Guanchen von Teneriffa. Beide sehen wir unter dem Joch eines feudalen Regiments seufzen, und bei den Guanchen war diese Staatsform, welche so leicht Kriege herbeiführt und sie nicht enden lässt, durch Religion geheiligt. Die Priester sprachen zum Volk: »Achaman, der große Geist, hat zuerst die Edlen geschaffen und ihnen alle Ziegen der Weit zugeteilt. Nach den Edlen hat Achaman das gemeine Volk geschaffen, die Achicaxnas; dieses jüngere Geschlecht nahm sich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen; aber das höchste Wesen erwiderte, das Volk sei dazu da, den Edlen dienstbar zu sein. und habe kein Eigentum nötig«. Eine solche Überlieferung musste den reichen Vasallen der Hirtenkönige ungemein behagen, auch stand dem Oberpriester das Recht zu, in den Adelsstand zu erheben, und ein Gesetz verordnete, dass jeder Edle, der sich herbeiließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, seines Adels verlustig sein sollte. Es befremdet, wenn man schon bei den Anfängen der Kultur die nützliche Beschäftigung mit Ackerbau und Viehzucht durch Verachtung gebrandmarkt sieht.
Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs; sie erschienen als die Patagonen der Alten Welt und die Geschichtsschreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man von Bougainvilles und Cordobas Reisen dem Volksstamm am Südende von Amerika eine kolossale Körpergröße zuschrieb. Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäischen Kabinetten gesehen; zur Zeit meiner Reise waren sie auf Teneriffa sehr selten; man müsste sie aber in Menge finden, wenn man die Grabhöhlen, die am östlichen Abhang des Piks zwischen Arico und Guimar in den Fels gehauen sind, bergmännisch aufbrechen ließe.
Das Volk, das die Guanchen verdrängt hat, stammt von Spaniern und zu einem sehr kleinen Teil von Normannen ab. Obgleich diese beiden Volksstämme drei Jahrhunderte lang demselben Klima ausgesetzt gewesen sind, zeichnet sich dennoch der letztere durch weißere Haut aus. Die Nachkommen der Normannen wohnen im Tal Teganana zwischen Punta da Naga und Punta da Hidalgo. Die Namen Grandville und Dampierre kommen in diesem Bezirk noch ziemlich häufig vor.
Die Kanarier sind ein redliches, mäßiges und religiöses Volk; zu Hause zeigen sie aber weniger Betriebsamkeit als in fremden Ländern. Ein unruhiger Unternehmungsgeist treibt diese Insulaner, wie die Biscayer und Catalanen, auf die Philippinen, auf die Marianen und in Amerika überall hin, wo es spanische Kolonien gibt, Von Chile dem la Plata bis nach Neu-Mexiko. Ihnen verdankt man größtenteils die Fortschritte des Ackerbaus in den Kolonien. Der ganze Archipel hat kaum 160 000 Einwohner, und der Isleños sind vielleicht in der Neuen Welt mehr als in der alten Heimat.
Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 1, Stuttgart 1861