Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Januar 1855 - Ida Pfeiffer
Auf den Azoren

Die Insel St. Miguel ist sehr hübsch: Sie besitzt eine Fülle von Hügeln und Gebirgen, die mit frischem Grün bedeckt und in reizender Unordnung durcheinandergeworfen sind. Auf den ersten Blick sieht man, daß diese Insel vulkanischen Ursprungs ist; die Form der Gebirge, die dunklen Meeresgestade (Lava) hie und da bezeugen es. Aber kein rauchender Krater ist mehr vorhanden, und lange müssen die Vulkane ausgetobt haben, denn schon ist die Lava so verhärtet, daß sie wieder halb zu Stein wurde, und beinahe überall mit Erde so bedeckt, daß die herrlichsten Orangenhaine, die üppigsten Getreidefelder darauf wuchern.
   Die Insel hat achtzehn Leguas in der Länge, drei bis vier in der Breite und eine Bevölkerung von 90.000 Seelen. Ihr Handel ist bedeutender, als man ihrer Größe nach vermuten würde. Die Hauptausfuhr besteht in Orangen, jährlich zwischen 120.000 bis 140.000 Kisten, deren jede durchschnittlich 800 Stücke enthält, was die ungeheure Summe von mehr als hundert Millionen Orangen gibt. Über 200 englische Schiffe kommen jährlich vom Monat November bis gegen Ende März an, um die Frucht zu laden. Alle Orangen gehen nach England, ein einziges Schiff wird nach Hamburg, eines, höchstens zwei nach den Vereinigten Staaten gesendet.
   Den nächst bedeutenden Artikel bildet das Türkische Korn (Mais), und nebstdem werden noch viele Getreidearten und Bohnen ausgeführt. Im ganzen besuchen diese Insel jedes Jahr 450 Schiffe, und der Wert der jährlichen Ausfuhr beträgt an 500 Contos de Reis (90.000 L. St.).
   Trotz dieses großen Verkehrs ist doch das Volk sehr arm, was hauptsächlich davon herrührt, daß der Bauer nicht Eigentümer des Landes, sondern Pächter ist, und das nicht einmal für seine Lebenszeit, sondern nur für eine bestimmte kurze Anzahl von Jahren.
   Von dem Städtchen Punta del Gada (mit 12.000, die nahe Umgebung inbegriffen 16.000 Seelen) ist nicht viel zu sagen. Die Bauart ist der europäischen ähnlich, die Häuser sind meistens unansehnlich mit kleinen Balkons und abscheulich großen, umfangreichen Rauchfängen. Doch gibt es auch einige hübsche Gebäude. Den Nutzen der großen Rauchfänge konnte ich mir nicht erklären, um so weniger, als das Küchenfeuer das einzige im Hause ist. Kamine fand ich zu meinem Bedauern nicht im Gebrauch, obwohl die Wintermonate November bis März ziemlich rauh, regnerisch und stürmisch sind. Ich hatte das Unglück, einen, wie man mir sagte, außergewöhnlich strengen Winter zu finden und litt viel von der Kälte. Es gab zwar weder Schnee noch Eis, doch fehlten hiezu wenige Grade. Die fürchterlichsten Stürme hausten, und friedlichere Tage gehörten zu den Seltenheiten; selbst noch zu Anfang des Maimonats war die Wärme nicht viel bedeutender als in meinem Vaterlande. Daß dies jedoch nicht immer so ist, davon zeigen außer den Orangen noch viele Früchte der wärmeren Zone, von welchen besonders die Banane hier zur vollkommenen Reife gelangt, weniger der Custard-apple, der hart und unschmackhaft bleibt. Die Ananasfrucht gedeiht in Glashäusern ohne Beihilfe einer Heizung und erreicht einen außerordentlichen Umfang. Eine portugiesische Dame, die Gemahlin des Herrn Dr. Agostinho Mochado, sandte mir eine Ananas, die an Größe alle übertraf, die ich in Indien gesehen; doch stand sie ihnen an Süßigkeit nach. Die europäischen Gemüse, Rüben, Kohl, Erbsen usw., kommen ohne besondere Pflege fort.
   Die Azorianer, von den Portugiesen abstammend, haben schöne dunkle Augen und Haare. Ich fand hier im Gegensatz zu allen Ländern, die ich bereist habe, das Volk hübscher als die höhere Klasse. Die Tracht der letzteren ist die französische, das Volk trägt sich auch nach europäischer Sitte, jedoch mit Ausnahme der Kopfbedeckung. Diese besteht bei den Männern aus steifen Tuchkappen mit einem weit hervorragenden, komisch ausgeschnittenen Schild und ringsherum mit einem acht bis zehn Zoll breiten Tuch- oder Samtstreifen, der über die Achsel herunterhängt und den Hals gegen Sonne und Regen schützt. Noch grotesker ist die Kopfbedeckung der Weiber, eine Art Kapuze von blauem Tuch, bei zehn Zoll hoch und gewiß einen und einen halben Fuß lang, welcher Tracht mittels eines starken Fischbeines ungefähr die Form eines mehr als riesenhaften Hahnenkammes gegeben ist. Außer diesem sinnreichen Kopfputze tragen sie über die europäischen Kleider auch noch einen langen schweren Männermantel, durchgehends von blauem Tuch, der bis auf die Erde reicht und nie, auch bei der größten Hitze, abgelegt wird. Diese lächerliche, geschmacklose Kleidung hat namentlich den Übelstand, daß eine Mutter ihre Tochter darin nicht erkennen würde, denn den großen Hahnenkamm, in welchem der Kopf steckt, ziehen sie nach vorne, so daß man von dem Gesicht beinahe nichts sieht, und die Mäntel gleichen einer dem andern. Kein Frauenzimmer aus dem Volke würde sich ohne Mantel und Kapuze auf die Straße begeben; jeder Pfennig wird emsig zusammengespart, sich diese Kleinodien zu verschaffen; die nicht so glücklich ist sie zu besitzen, sucht sie von Freundinnen oder gegen Bezahlung auszuborgen.
   Nicht minder sonderbar ist die Sitte hier, daß kein Mädchen, kein junges Weib allein ausgehen darf; keine Magd würde allein über die Straße gehen, viel weniger etwas holen oder einkaufen. In jedem Haus muß man einen Diener halten, die Einkäufe und Ausgänge zu besorgen. Ich bedauerte wirklich die armen Mägde, die hier wie in einem Gefängnis eingesperrt sind; wenn sie nicht irgendeine alte Verwandte haben, die sich ihrer erbarmt und sie von Zeit zu Zeit ein halbes Stündchen auf die Straße führt, können sie das ganze Jahr zu Hause sitzen bleiben, denn nicht einmal sonntags wagen sie es, allein nach der Kirche zu gehen.
   Überhaupt sollen auf dieser Insel, wie man mir erzählte, vor noch kaum vierzig Jahren selbst unter der sogenannten gebildeten Welt gar sonderbare Gebräuche geherrscht haben.
   So wurde zum Beispiel, wenn eine Frau einer anderen einen Staatsbesuch machen wollte, tags zuvor ein Diener zu der letzteren gesandt ihr anzumelden, daß die Besuchende zu einer bestimmten Stunde an dem Hause vorüberfahren würde. Sie kam dann zu dieser Zeit in großem Putze, jedoch in einer mit Vorhängen dicht verschlossenen Kutsche angefahren, die zu besuchende Frau saß schon bereit an dem ebenfalls wohlgeschlossenen Fenster. Vor dem Hause angelangt, hielt der Wagen einen Augenblick an, der Vorhang wurde auf die Seite geschoben, das Fenster geöffnet, die beiden Frauen begrüßten sich - und sogleich wurden Vorhang und Fenster wieder geschlossen, und der Wagen fuhr weiter.
   Die Frauen scheinen zu dieser Zeit eine solche Scheu vor Herren gehabt zu haben, daß diese bei den Besuchen der Frauen nicht zugegen sein durften. Kam eine Frau eine andere besuchen und es war zufällig ein Herr, selbst ein Verwandter, zugegen, so fuhr sie wieder fort, oder die Frau des Hauses ersuchte die Herren fortzugehen.
   Noch lächerlicher ging es bei Hausbällen zu (öffentliche Bälle wurden gar nicht gegeben). Die weiblichen Gäste nahmen an dem Tanze selbst gar keinen Anteil, sondern saßen mit den Frauen und Töchtern des Hauses in einem an den Tanzsaal stoßenden Zimmer, und zwar im Finstern, um von den Herren nicht gesehen zu werden. Die Herren tanzten mit den Dienerinnen des Hauses und anderen von der Ballgeberin geladenen Dienerinnen!
   Ich verweilte einige Monate auf St. Miguel und machte außer einigen Spaziergängen in die nahe Umgebung auch einen Ausflug nach dem Badeort Furnas (neun Leguas von Punta-del-Gada), berühmt durch seine heißen Quellen. Die vornehme Welt der Insel geht jedes Jahr auf einige Wochen oder Monate dahin, weniger um zu baden, als sich zu ergötzen, wie dies überhaupt in den meisten Badeorten der Fall ist.
   Wir machten die kleine Reise, wie es in diesem Lande Sitte ist, zu Esel und nahmen unsern Weg über Villa Franca (fünf Leguas), längs der Seeküste. Villa Franca ist ein kleines Städtchen mit derselben reizenden Lage wie Punta-del-Gada. Wir blieben hier die Nacht in dem Hause des Herrn Gago, wo alles freundlich zu unserer Aufnahme bereit war.
   Am folgenden Morgen fuhren wir in einem Boot nach dem kaum zwei- bis dreihundert Schritte von dem Lande gelegenen "Ilheo", einer winzig kleinen Insel oder vielmehr Bai, von einem Felsengipfel umschlossen, in welchem nur eine ganz schmale Öffnung frei geblieben, kaum breit genug, ein kleines Fruchtschiff einzulassen. Augenscheinlich stand hier unmittelbar in der See einst ein kleiner Vulkan, der ausgetobt hat und eingestürzt ist. Mit wenig Kosten könnte man aus dieser Miniaturbai einen herrlichen Dock zur Ausbesserung der Schiffe machen; doch für dergleichen Sachen hat man hier keinen Sinn.
   Gegen Mittag setzten wir die Reise fort und langten nach einem angenehmen Ritt schon frühnachmittags in Furnas an. Ungefähr eine Viertelstunde vor dem Ort liegt ein artiger See, von schön geformten Gebirgen umgürtet, an dessen nordöstlichem Ende gleichfalls heiße Quellen aufbrodeln, die wir aber nicht besahen, da uns gerade ein kleiner Regen überfiel.
   Furnas selbst liegt in einem wunderlieblichen, freundlichen Tal, eingeschlossen von übereinander aufsteigenden Gebirgen; schöne Waldungen, üppige Felder, Wiesen und Triften im frischesten Grün decken Berge, Hügel und Tal - ich sah mich ganz in eines jener schönen Gebirgstäler versetzt, an welchen Steiermark, Kärnten und Tirol so reich sind. Aufsteigende Rauchwolken verkünden die unweit des Dorfes gelegenen heißen Quellen (Caldeiras), und begierig eilt der Fremdling dahin, eine Erscheinung zu sehen, von welcher die ganze Bevölkerung St. Miguels mit Entzücken und zugleich mit Grausen spricht.
   Meine Neugierde, meine Erwartung, ich gestehe es, waren eben nicht sehr groß, ich hatte in dieser Art das Vollkommenste, was die bekannte Welt bietet, auf Island gesehen. Aber gerade weil ich mir nicht zu viel versprach, ward ich überrascht. Eine der kochenden Quellen brodelt reich und gewaltig zu einer Höhe von vier bis sechs Fuß auf, eine zweite minder hoch, andere nicht mehr als gewöhnlich kochendes Wasser. Am merkwürdigsten unter allen ist die Schlammquelle "Pedro Botelko" genannt. Schon ihre Umgebung ist pittoresk: Sie ist von finsteren Felsen eingefaßt, in welchem das Getöse widerhallt, und gleicht einem wahren Höllenschlund; ein großer Fels neigt sich weit über sie und hindert ihr senkrechtes Aufsteigen. Ihre Kraft schleudert den kochenden Schlamm nach allen Seiten in eine Weite von zwölf bis fünfzehn Fuß. Unbedeutende, kleine Quellen gibt es in der Umgebung viele; einige davon brodeln sogar in der Mitte eines kalten Bächleins auf. Auch eisenhaltige Quellen und ein Sauerbrunnen (Aqua azeda) kommen vor.
   An einer glücklich gewählten Stelle des reizenden Tales hat Herr Vicomte da Praia, einer der größten Grundbesitzer der Insel, ein Landhaus gebaut und einen Garten angelegt. Beide waren noch nicht ganz vollendet. Das zierliche Gebäude steht auf einem kleinen Hügel und bietet von jedem Fenster die herrlichsten Ansichten des Tales und der es umgebenden Gebirgswelt; der Garten, in großem Stil angelegt, mit Teichen, dunklen Baumpartien und freundlichen Blumenbosketten, zeigt schon jetzt von dem guten Geschmack seines Gründers.
   Wir machten von Furnas aus auch noch eine kleine Partie auf eine der Bergkuppen, ungefähr 2.000 Fuß über der Meeresfläche. Wir sahen hier Gebirge über Gebirge vor uns aufsteigen, darunter den höchsten Berg der Insel, den "Pico de Vara" (4.000 Fuß); zu unsern Füßen lag das liebliche Tal von Furnas mit seinen Caldeiras, dem See sowie auch einige andere Täler mit freundlichen Ortschaften, und auf beiden Seiten der Insel breitete sich das Meer ins Unermeßliche aus. Auf der Südseite entdeckt man auch die Insel Santa Maria, ungefähr vierzig Meilen von St. Miguel gelegen.
   Den Rückweg nach Punta-del-Gada nahmen wir längs der Nordküste über Ribeira-Grande. Als Weg ist er besser als der längs der Südküste, aber an schönen Ansichten weniger reich und abwechselnd.
   Die Karnevalszeit ging auf St. Miguel ganz unbeachtet vorüber. Nur in den letzten drei Tagen herrscht hier wie in Brasilien die alberne Gewohnheit, sich gegenseitig mit Wasser zu übergießen. Statt sich während dieser drei Tage zu unterhalten, muß man sich in sein Zimmer einschließen und kann nicht einmal an das offene Fenster treten, denn sogleich ist man der Gefahr ausgesetzt, von des Nachbars Fenster, von der Straße eine Ladung des nassen Elements zu erhalten. Die Leute blasen Eier aus oder verfertigen von Wachs Orangen, Zitronen, füllen sie mit Wasser und bewerfen sich damit, ja aus den Häusern schütten sie ganze Töpfe voll auf die Vorübergehenden. Keine Frau ist in diesen Tagen auf der Straße zu sehen, und die wenigen Herren, die auszugehen wagen, suchen sich durch aufgespannte Regenschirme zu schützen.
   Erst am 21. Mai verließ ich St. Miguel. Die Fruchtschiffe für England hatten schon gegen Ende März aufgehört; ich war daher gezwungen, über Lissabon nach London zu gehen.

Pfeiffer, Ida
Reise in die Neue Welt
Amerika im Jahre 1853
Hg. von Gabriele Habinger
Wien 1994

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