1906-08 - Achton Friis
Auf dem Inlandeis
(Mylius-Erichsen-Expedition)
Als wir am Morgen davonzogen, blieben nur sechs Mann von der ganzen Expedition zurück. Dies waren Jarner, Jensen, Knud, Manniche, Lindhard und Weinschenck.
Uns Davonziehenden wurde der Abschied leicht; wir waren in glänzender Laune und nur ungeduldig, fortzukommen. Dann legten wir die Sielen über die Schultern, kehrten noch ein letztes Mal um und sahen das Schiff, den Danebrog, der in der funkelnden Sonne am Besanmast flatterte, die sechs Mann, die uns Lebewohl zuwinkten; und dann legten wir uns in die Sielen, mit einem Ruck kam der Schlitten lose und glitt in unserer Spur ostwärts über den Hafen.
Ein ödes, trauriges Land, verlassen von Göttern und Menschen! Mächtige graue Steinflächen, aus denen sich hin und wieder eine Erhöhung erhebt, die einem Schutthaufen gleicht. Hier und da ein einsamer Felsblock, der durch den Kies hervorragt, oder vielleicht ein paar vereinzelte Eskimoruinen, dicht am sandigen Strand, die das niederdrückende Bild des Todes und der Vernichtung noch unerträglicher machen - so sieht die Küste von Kap Bismarck bis zur Südseite des Skärfjords hinauf aus.
Diesem Lande muß Gott an jenem Tage den Rücken zugewandt haben, als er sich selbst applaudierte, nachdem er die Welt geschaffen hatte. Es sind die Abfallhaufen von seiner Werkstatt.
Aber dort, wo das Land ins Meer endet, wo das gewaltige Eis in seiner Allmacht mit Gepolter und Gekrach in aller Ewigkeit längs der Küste zieht, - da draußen ist es, als wenn eine gewaltige Schöpferphantasie mit dem Stoff gewirtschaftet und ihn aus ihrem Überfluß heraus geformt hat, als wenn ein Gott in seiner Laune einen Abglanz der Pracht hervorgezaubert hat, die er allein kennt und das Menschengesindel niemals schauen soll; - als wenn er nach der trägen, langweiligen Arbeit der Woche in einem genialen Einfall ausgeruht, nur zu seiner eigenen Freude geschaffen und schließlich mit dem gigantischen Wollen des Meisters gerufen hat: Es werde Licht!
Die Welt ist blendend wie der Gedanke in Dantes "Paradies"; sie ist eisig wie die Hölle der Eskimos; sie ist allmächtig und fürchterlich wie das Großeis.
Längs dieses Landes, auf der schmalen, glatteren Meeresfläche zwischen dem Strande und dem Schraubeneis, bewegen sich drei Schlitten hintereinander langsam nach Norden. Der dritte Marschtag geht seinem Ende entgegen, der Morgen ist herangebrochen. Trotz der harten Kälte der Nacht hat man sie längst statt des Tages als Reisezeit gewählt, da das Tageslicht in den Augen schmerzt und man außerdem das bißchen Wärme, das die Sonne mitten am Tage erzeugt, gut brauchen kann, um während der Rast die nassen Kleider und die übereisten Fellstiefel zu trocknen. In der Nacht ist zehn Stunden hindurch marschiert worden, aber noch ist eine Strecke Weges bis zum Ziel, noch schieben einige Landspitzen lange graue Zungen zwischen die Schlitten und den Endpunkt der Tagereise.
Trotz der Kälte von gut dreißig Grad haben die Männer die meisten Kleider abgeworfen und auf den Schlitten gelegt; der Dampf des Schweißes, der durch Wollhemd und Weste und durch die wollene Mütze dringt, verdichtet sich auf der Außenseite der Kleider zu einer dicken Reifschicht; das Gesicht ist überreift, der Bart so zu einem Kuchen zusammengefroren, daß man den Mund kaum noch öffnen kann. Die Kamikken hängen infolge der Wärme wie nasse Scheuerlappen an den Füßen, verwandeln sich aber, wenn man einen Augenblick stillsteht, zu Eisumschlägen.
Die vier Männer vor jedem Schlitten gehen in einer Reihe nebeneinander; die langen Zugriemen führen von dem Vorderriemen des Schlittens zu über die Schultern gelegten Sielen. Sie sprechen nicht mehr miteinander, liegen nur weit vornüber in den Sielen und starren stumpfsinnig vor sich hin auf den Schnee herab. Sie wackeln ab und zu ein bißchen mit den Beinen, der Kopf nickt auf und ab, wie bei Pferden, die eine schwere Last ziehen.
Dann hält der vorderste Schlitten; die anderen, die hinterher folgen, bleiben auch mechanisch stehen. Die Leute bewegen sich langsam von ihrem Platz vor dem Schlitten zu diesem und werfen sich erschöpft auf ihn, um die wenigen Augenblicke auszuschnaufen, die die Kälte ihnen vergönnt, sich ruhig zu verhalten. Es sind nur Minuten, - dann erhebt man sich wieder, legt die Sielen auf die andere Schulter, obschon man weiß, daß diese nach fünf Minuten genau so schmerzt wie die, mit der man gezogen hat, und wirft sich vornüber. Nach drei, vier Rucken kommt der Schlitten plötzlich los und gleitet vorwärts; man strauchelt, hat kaum mehr Kräfte genug, sich auf den Beinen zuhalten. Bald darauf ist man wieder in dem gleichmäßigen Tempo, und der Schlitten gleitet, knarrend und kreischend und so hoffnungslos langsam, über die unendliche Fläche dahin.
Die Männer sehen jetzt, wie sie da gehen, nichts anderes als den Schnee vor sich. Aber dort vor ihren Füßen wimmelt es von Spuren, Spuren von Hunderten von Hundepfoten und Abdrücke vieler Männerfüße, die alle nach Norden zeigen. Drei Tage lang haben sie dasselbe gesehen, und sie wissen, daß es auch weiterhin so bleiben wird.
Es ist der Weg der anderen; der große Landweg, von dem niemand weiß, wo er endet.
Das Gewicht der Hunde und Menschen hat den Schnee in den Spuren fest zusammengedrückt, der Wind hat dann den loseren Schnee um sie herum fortgeführt, oder er ist in der Sonne verdampft, so daß sich jetzt alle Spuren stark über die Fläche rings um erheben. Die Spuren der Hundepfoten sind oben am breitesten und gleichen mit ihren dünnen Stengeln kleinen Pilzen, die Tausende durcheinander hervorgewachsen sind. Die Schlittenspuren liegen wie einander kreuzende Eisenbahnschienen dazwischen.
Von diesen Spuren erheben die Männer selten den Blick, aber sie denken auch nicht mehr darüber nach, woran diese Spuren das letzte Andenken sind. Sie denken überhaupt nur wenig, brauchen es auch nicht - nicht einmal, um den Weg zu finden; sie brauchen nur stumpfsinnig auf diese Spur herabzustarren und ihr zu folgen. Und tauchen dann und wann einmal Gedanken in ihnen auf, so sind sie von der allereinfachsten Art; die Sehnsucht nach Essen und Schlaf erfüllt sie und verdrängt alles andere. Diese Gedanken können am Schlusse des Marsches unwillkürlich das Tempo ein klein wenig beschleunigen und an einem für einen Augenblick sonderbare Ausrufe entlocken - Gedanken an Futter und Stall.
Erst wenn man ans Ziel gelangt ist und die letzte Willenskraft gebraucht hat, um die Schlitten abzuladen, die Zelte aufzuschlagen und in die Schlafsäcke zu kriechen, erwacht man einen Augenblick zum Bewußtsein als Mensch, während man liegend den Unglücklichen betrachtet, der das Amt als Koch hat und das Pemmikangericht des Tages herstellen soll. Inzwischen praktiziert man eine Shagpfeife zu sich in den Schlafsack hinein, taut ihren Jaucheninhalt in der Tasche auf, um Luft im Rohr zu kriegen, stopft sie und raucht, in sturer Erwartung daran denkend, wie man gierig essen will, wenn das Essen schließlich einmal fertig wird. Und endlich werden die dampfenden Teller mit ihrem schmutzigen Inhalt durch die dampferfüllte Atmosphäre an die Bewohner der Schlafsäcke herumgereicht, die mit vor Wohlsein halbgeschlossenen Augen den einen Löffelvoll nach dem anderen in sich hineinschaufeln, während er Kaffeekessel auf dem Lux bereits seinen herrlichen Geruch auszusenden anfängt. Und wenn dann der Kaffee, dieses Lieblingsgetränk aller Nomaden, in glühend heißen Wellen durch die Kehle herabströmt und für einen Augenblick den entsetzlichen Durst löscht, der einen Stunde auf Stunde während des lagen Marsches gequält hat, dann dünkt es einem, daß das Leben sich nie schöner gestaltet hat als gerade jetzt.
Aber leider, - dieses Gefühl währt nur so kurze Zeit. Der Rückschlag stellt sich geschwind ein - und man sinkt in einen todähnlichen Schlaf, aus dem man, wenn die Rast ihrem Ende entgegengeht, dann und wann aufwacht, indem man in dem schon triefend nassen Schlafsack vor Kälte zusammenschauert. Schließlich wird dies so unerträglich daß man nur den einen Wunsch hat, auf- und hinauszukommen und sich abzumarachen, um warm zu werden, obwohl man bei weitem noch nicht ausgeruht hat und die Müdigkeit überall im Körper schmerzt. Sobald die erste Mahlzeit eingenommen ist, steht man auf, zieht das steifgefrorene Zeug an, wringt und bricht die Eisklumpen, die wir unsere Stiefel nennen, so lange zwischen den Fingern, bis man imstande ist, die Füße in sie hineinzupressen, und fängt dann mit schmerzenden Gliedern den Tag an - eine Wiederholung des gestrigen!
Als wir am Morgen des 11. April bei dem Depot auf dem Kap-Marie-Valdemar lagerten, hatten wir zehn dänische Meilen zurückgelegt, zum größten Teil auf entsetzlicher Schlittenbahn. Auf einer großen Strecke reicht nämlich das Schraubeneis so dicht an die Küste heran, daß wir mit den Schlitten durch dieses hindurch mußten, um vorwärts zukommen. Diese schlugen einmal über das andere um, schließlich mußte einer von uns neben dem Schlitten hergehen, um ihn zu stützen. Auf diese Weise wurde die Zugkraft erheblich vermindert, und wir waren ziemlich erschöpft und mitgenommen, als wir das Depot erreichten. Wir beschlossen daher, ein paar Tage Rast zu machen, um auszuruhen und unsere nassen Kleider zu trocknen.
Wir wußten, daß wir jetzt für den Rest der Reise keine Eisschraubungen mehr zu erwarten hatten, da diese sich vom Kap Marie-Valdemar schräg über das Meer in einer Linie nach Nordosten zogen. Vor uns lag, so weit wir sehen konnten, glattes Eis auf dem fünf Meilen breiten "Stärfjord" bis zum Kap Amélie; also konnten wir hinsichtlich der Schlittenbahn der Zukunft vertrauensvoll entgegensehen.
Obwohl wir nachts 32 Grad unter Null hatten, war tagsüber die Sonnenstrahlung so stark, daß wir all unser Zeug vollständig trocken bekamen. Am Abend des 13. April verließen wir nach einer ausgezeichneten Rast mit frischen Kräften das Depot und marschierten auf den Fjord hinaus.
Die Sonne verschwindet jetzt nur eine Stunde lang im Norden unter dem Horizont, Tag und Nacht ist es strahlend hell. Die Landschaft um uns herum verändert plötzlich den Charakter; während wir bisher das graue, traurige Land an der einen und die mächtigen Eisschraubungen auf der anderen Seite hatten, ziehen wir jetzt über eine beständig ebene, weiße Fläche dahin, die in weiter Ferne von hohen, prachtvollen Felskolossen begrenzt wird, gerade im Norden von dem mächtigen, breiten Kap Amélie, unserem vorläufigen Ziel, und im Westen von dem strahlend schönen, scharfgezeichneten Kap Recamier, das mit Glanz seinen anspruchsvollen Namen trägt. Hier ist es wunderbar schön; hätten wir hier auf einem leicht dahinfliegenden leeren Hundeschlitten sitzen und über diese ebene glatte Fläche dahinfliegen können, dann hätten wir wohl in dieser märchenhaften Umgebung den Gipfel des Glücks erreichen können. Und selbst jetzt war dieser Anblick ein Reizmittel, obgleich wir bald wieder mitten in den ungeheuren Anstrengungen steckten, die wir von den vorhergehenden Tagen kannten. Das Meereis war hier draußen auf der Bucht allerdings glatt, aber es war überall mit einer dicken Schicht losen Schnees bedeckt, die noch kein Sturm festgefegt hatte. Die Füße traten tief durch diese weiche Kruste, die die Oberfläche bedeckte; bei jedem Schritt brach diese Decke, und wir sanken mit einer Erschütterung hindurch. Die Schlittenkufen schnitten so tief ein, daß die Querhölzer jeden Augenblick die Oberfläche des Schnees berührten und bremsten. Aber trotz der Anstrengungen konnten wir uns nicht der Einwirkung dieser wunderbaren Landschaft verschließen. Und bald kam noch etwas anderes dazu, daß uns wach und aufmerksam erhielt.
Als die Sonne an diese Tage über den Horizont stieg, stieg feiner, flimmernder Nebel vom Meere auf und legte sich, nur ein paar Meter hoch, über die ganze weite Fläche um uns herum, - und im nächsten Augenblick waren wir auf allen Seiten von den prachtvollsten, phantastischsten Luftspiegelungen umgeben, die wir bisher gesehen hatten. Inseln standen oben über sich selbst auf dem Kopfe, mächtige Vorgebirge des Festlandes machten sich gegenseitig über dem Nebel von Norden nach Süden lange Nasen zu; die kleinen Eisblöcke hoben sich und verlängerten sich nach oben, so daß sie unendlichen Gliedern von Soldaten glichen, Schützenketten, die sich in größter Hast nach den Seiten entfalteten und hin und wieder bewegten; und weiter draußen, gegen die offenen Waken, hoben sich die mächtigen Schraubeneiskolosse übereinander, gleich großen Städten mit hohen Fabrikschornsteinen, Türmen und mächtigen Kasernen. Eine einzelne Stelle erinnerte mich in der Form auffallend an die äußersten Quartiere auf Nörrebro (Stadtteil von Kopenhagen). Und alle Farben des Prismas spielten in der Luft, im Nebel und im Schnee über und um uns herum.
Plötzlich sahen wir von unserem Schlitten aus durch den feinen Nebel einen dunklen Punkt. Schlitten Nummer zwei, der den Zeltplatz eine halbe Stunde vor uns verlassen hatte, war längst in jener Richtung entschwunden. Daher konnte er es kaum sein; er mußte viel weiter fort sein. Der Nebel, der andauernd nur ein paar Meter über der Meeresfläche lag, flimmerte im Sonnenlicht. Durch diesen Nebel zeigte sich die Erscheinung zuerst als ein großer, dunkler Körper, länglich in senkrechter Richtung, der langsam der Fahrt unsres Schlittens folgte und weder näher kam noch sich entfernte. Aber plötzlich dehnte die Erscheinung sich nach oben aus, schoß noch einen Stamm von sich aus, der senkrecht über dem untersten stand und genau dieselbe Größe wie dieser hatte. - Na, dachten wir, selbstverständlich eine Luftspiegelung; aber wovon? Die Erscheinung glich am meisten einem einzelnen Manne, der den Schlitten da vorne verlassen haben mochte und uns mit irgendeinem Bescheid entgegenkam. Aber dann mußte er doch näher kommen!
Aber die Erscheinung hielt sich, mehr oder weniger deutlich, in derselben Entfernung, und plötzlich teilte sie sich in drei Teile, indem sich zu jeder Seite der Doppelfigur eine neue bildete, so daß sechs Gestalten von derselben Form und Größe wie die erste zu sehen waren. Aber das Merkwürdigste bei dem Ganzen war, daß die Erscheinung sich schüttelnd hin und her bewegte und sich im Takt mit unseren Schritten auf und nieder schob; schon das schwache Heben und Senken des Kopfes, das unser vornübergebeugter Gang mit sich führte, war bei jedem Schritt, den wir machten, vom Anwachsen neuer Glieder oder ihrem Verschwinden begleitet. Als wie einmal haltmachten, entdeckten wir, daß, wenn wir uns auf die Zehenspitzen hoben, nur eine Reihe Figuren da war - die unterste; kauerten wir uns aber nieder, so kam sofort die oberste Reihe hinzu. Nach der Seite hin vermochten wir dagegen nicht die Anzahl der Figuren im Bilde zu verändern. Von jetzt ab waren es beständig drei in der Reihe, bis das Bild plötzlich zusammenschrumpfte, undeutlich wurde und schließlich verschwand, als die Sonne höher am Himmel heraufkam.
Als der Nebel ganz vor der Sonne verschwunden war und wir etwa eine halbe Meile vor uns die zweite Schlittenabteilung als einen ganz kleinen, feinen Punkt auf dem Eise erblickten, wurde es uns klar, daß sie es doch gewesen sein mußten, die sich uns, von der Spiegelung so viel näher gerückt, in sechsfacher Gestalt gezeigt hatten.
Wir wußten da noch nicht, daß man von jenem Schlitten aus uns ungefähr in derselben Weise beobachtet hatte. Als man dort auf die Erscheinung aufmerksam geworden war, hatte man im ersten Augenblick geglaubt, es wär ein großer Bär, der nicht sehr weit vom Schlitten wäre. Man hatte daher schleunigst gehalten und die Büchsen zu seinem Empfang schußfertig gemacht. Aber bald darauf erkannten auch sie die Ursache des Blendwerks und marschierten ruhig weiter. Dies erfuhren wir, sobald wir den Zeltplatz erreichten.
Die anderen hatten schon längst Zelte aufgeschlagen, als wir zu ihnen gelangten. Schon aus der Ferne hatten wir gesehen, daß Fest im Lager war. Eine kleine Danebrogflagge war an einer Stange vor einem Zelt angebracht - es war Bendix-Thorstrups Geburtstag. Er kochte Kakao und bewirtete uns alle damit. Rings herum auf unseren Schlittenkisten im Schnee sitzend, genossen wir den wunderbaren Trank und hielten die hier oben gewöhnliche Geburtstagsrede, die in ihrer ganzen Knappheit lautete: Herzlichen Glückwunsch!
Obgleich wir von dem langen Marsch in dem tiefen Schnee todmüde waren, wurde es uns schwer, uns von dem prachtvollen Anblick des Landes um uns herum loszureißen, das jetzt wie ein strahlendes Panorama die Bucht umgab. Aber um acht Uhr krochen wir endlich in die Schlafsäcke.
Wir hatten schon einige Zeit gelegen, ich war kurz vorm Einschlafen, da hörte ich plötzlich Koefoed mit jemand vor dem Zelt reden.
"Hallo da draußen! Wer ist es?"
Keine Antwort, und Koefoed rief noch einmal, mit demselben Ergebnis. Dann hörten wir schwerfällige Schritte draußen im Schnee, und Koefoed, der aus dem Schlafsack gesprungen war und zur Zeltöffnung hinausguckte, stieß ein fürchterliches Gebrüll aus.
"Friis! Hier gerade beim Schlitten steht ein großer Bär! Beeilen Sie sich! Kommen Sie und sehen Sie!"
Ich fuhr in die Höhe, ging zu ihm hin und guckte auch hinaus.
Ja, Tod und Teufel, da war er! Und er stand ganz ruhig da und beschnupperte unsere Kamikken, die an den Läufen der beiden einzigen Büchsen, die unsere Abteilung bei sich hatte, zum Trocknen aufgehängt waren. Die Büchsen waren mit den Kolben in den Schnee gesteckt und dienten als Zeugstangen. Da saßen wir!
Programmgemäß hätten wir nun wohl erschrecken müssen, aber wir kamen nicht so weit. Der Anblick, der sich uns bot, war so schön, daß wir nur zur Bewunderung Zeit hatten. Vorsichtig und flüsternd weckten wir die beiden anderen, so still wie möglich, damit wir den Bären nicht verjagten, sondern lange bei uns behielten und anschauen konnten.
Zum erstenmal sahen wir in solcher Nähe einen Eisbären. Ich rechne die armen schwindsüchtigen Exemplare nicht mit, die man in den zoologischen Gärten findet. Mit denen haben diese prächtigen Kerle nicht viel anderes als den Namen gemeinsam. Er stand ungefähr gerade zwischen der Sonne und uns und war eine einzige Lichtquelle. Büschel von Sonnenstrahlen wurden von seinem wunderbaren Pelz zurückgeworfen, durch den der Morgenwind hindurchblies, so daß die Haare beinahe einen Glorienschein um seinen mächtigen Rumpf bildeten. Seine kohlschwarze, feuchte Schnauze schnupperte prüfend auf unseren Kamikken herum und an den Büchsen hinab bis zum Schlitten hin; seine Augen blinzelten vor Freude. Er war nahe daran, vor Neugierde und Erstaunen zu bersten. Stoßweise holte er Luft und stieß sie in Explosionen wieder aus. Seine Flanken bebten vor Eifer, und die kleinen Ohren waren flach an den Kopf gedrückt. Durch die große, empfindliche Schnauze nahm er Eindrücke in sich auf, fremdartige und merkwürdige; das eine ungeheure Rätsel nach dem andern hielt durch sie seinen Einzug und fuhr in seinem Kopf herum, so daß er schwindlig wurde. Ein Rausch war im Anzuge; im nächsten Augenblick würde er vor Vergnügen sich auf die Hinterbeine erheben --
Aber auf einmal machte seine Schnauze auf eigene Faust eine schnelle Wendung um 45 Grad nach unserem Zelt hin, ein plötzliches Aufblinken in den Augen sagte, daß er 'verstanden hatte', er sank aufs Hinterteil, drehte sich dann herum und setzte dann in langen Sprüngen davon, aufs Eis hinaus.
Wir stürzten ganz mechanisch hinaus und ergriffen unsere Büchsen; aber ehe wir sie schußfertig hatten, war er glücklicherweise so weit weg, daß wir es verantworten konnten, nicht zu schießen. Es würde außerdem mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden gewesen sein, ihn von hier draußen ans Land zu bringen, um ihn dort zu deponieren.
Wir ließen ihn laufen. Ab und zu blieb er stehen, drehte sich halb um und witterte. Und das, was er roch, brachte ihn jedesmal dazu, seinen Lauf noch zu beschleunigen, bis er im Galopp aufs Meer hinaus verschwand, dorthin, wo über den großen offenen Waken der Meernebel in der Sonne flimmert.
Hier lagerten alle drei Abteilungen zum letzten Mal zusammen. Als wir am folgenden Tage nach dem beschwerlichen Marsche der ganzen Reise Kap Amélie erreichten, trennt sich die zweite Schlittenabteilung von uns und kehrte nach dem Kap Marie-Valdemar zurück, von wo sie, wie bestimmt war, die Richtung nach Isle de France einschlug.
Die beiden andern Abteilungen wurden jetzt auch voneinander getrennt, da unsere Abteilung beim Kap Amélie einen Tag länger Rast hielt als die andere, damit Lundager botanisieren und ich eine Skizze des Landes malen konnte. Wir marschierten nun nicht mehr zusammen, doch zogen wir noch ein paarmal auf den Zeltplätzen aneinander vorbei, bis unsere Abteilung auf dem Heimwege aus den obengenannten Gründen wider ein paar Tage länger Rast hielt als die andere, worauf wir uns ganz aus den Augen verloren.
Wir vier Mann, die jetzt allein an der Küste entlang trabten, wurden allmählich ein ausgezeichnet eingefahrenes Gespann. Wenn wir nach den ochsigen Anstrengungen der Nacht zum Lagerplatz gelangt waren und unser Zelt in der strahlenden Morgensonne aufgeschlagen hatten, wenn Kamikken und Fellkleider umgekrempelt und zum Trocken an die Zelttaue gehängt waren und wir todmüde, aber mit überladenem Magen, mit einer qualmenden Shagpfeife im Munde, in dem warmen Schlafsack begraben lagen - dann waren wir mit uns selbst und mit der ganzen Welt um uns herum so unendlich zufrieden. Uns beschlich dann solch ein molliges Wohlsein, wie wir es nie vorher gekannt hatten. Wenn sie Sonne sich draußen in all ihrer Macht langsam erhob und auf die Seiten der mächtigen Berge herabglühte, wenn das schöne Kap Recamier seine Nacktheit in den herabwallenden Sonnenstrahlen badete, als wären diese allein um seinetwillen da - und wenn die Sonne sogar unsere elende Zeltwand zu vergolden und zu erwärmen vermochte, die langsam in die klare Luft hinaufdampfte, - dann schliefen wir drinnen und waren dem Zustand des Glücklichseins wohl so nahe, wie es Menschen in dieser Welt überhaupt sein können.
Während der Einförmigkeit des Marsches sprachen wir natürlich nicht viel miteinander; es blieb einem nicht Luft genug übrig, um ein Gespräch zu führen, und die einzelnen Sätze, die fielen, vermochten im allgemeinen nicht, den Zuhörern Leben einzublasen, - es sei denn, daß sie sich am Schluß des Marsches um Essen und Trinken drehten. Aber wir befanden uns wohl in unserer Gesellschaft und bei unserer gegenseitigen Schweigsamkeit. Und wir gewöhnten uns daran, in ganz bestimmter Ordnung, die niemals durchbrochen wurde, zu gehen und zu schlafen. Wenn ich strauchelte und ein wenig nach links taumelte, stieß ich immer gegen dieselben soliden Schultern, nämlich Lundagers; machte ich zu lange Schritte, karambolierte ich mit Freuchens Rücken. Freuchens Zugriemen war nämlich eine Elle länger als die unsrigen, warum, das wußte niemand von uns; aber als wir eine Woche so gegangen waren, ohne daß es verändert worden war, fanden wir es praktisch und ließen es aus demselben Grunde so, wie es war, aus dem man die meisten Traditionen aufrecht erhält. Von Koefoed sah ich nie etwas, solange wir auf dem Marsche waren; aber ich wußte, daß er auf der anderen Seite von Lundager ging.
Wenn ich mich darüber äußern soll, was für mich der sicherste, unauslöschliche Eindruck von diesen Wanderungen ist, der Eindruck von dieser ganzen Reise, den ich zuletzt vergessen werde, so muß ich antworten: Freuchens Hosenboden. Ich hatte ihn während des Marsches immer wieder vor mir, etwa drei Striche Backbord, und ich konnte es nicht vermeiden, ihn immer wieder zu sehen; ich kenne ihn aus und ein. Er gab, von meinem Platz aus gesehen, auf dem Marsche Freuchen Physiognomie. Er hing länger herunter, als es im allgemeinen dem Körperteil vergönnt ist, den er diskret so markieren sollte, daß man seine Formen ahnen kann, und dann hatte er eine Falte, die sich wie ein breites, entstellendes Lächeln von der einen Seite schräg nach der anderen hinüber zog. Wenn wir uns in Bewegung setzten, begann Freuchen immer mit dem rechten Bein - dies paßte zu dem ihm innewohnenden Drange, anders zu sein als andere Menschen, - und in demselben Augenblick fuhr das Lächeln über seinen Hosenboden, von der südöstlichen nach der nordwestlichen Ecke. Beim nächsten Schritt wechselte die Richtung; es flog hin und her und winkte und lockte da vor mir. und ich folgte, wenn auch widerstrebend. Nach Verlauf von vier bis fünf Tagen hätte ich diese Aufmunterung nicht mehr entbehren mögen.
Wenn der Marsch seinem Ende entgegenging, kam noch am ersten ein kurzes Gespräch zustande. Sehr oft wurde dies dadurch hervorgerufen, daß die fürchterlichen Phantasien über Essen und Trinken uns immer so heftig plagten. Kamen sie erst, so ließen sie uns nicht in Frieden. Je mehr wir ihrer bedurften, desto deutlicher sahen oder rochen wir solche unerreichbaren Herrlichkeiten, an die wir uns von der Heimat her erinnerten, und die schließlich alle Vorstellungen von etwas anderem aus dem Gehirn verdrängten. Bei mir kehrte namentlich eine Illusion beständig wieder; wenn ich stundenlang mit vor Durst brennender Kehle gegangen war, tauchte das Bild eines kühlen, schattigen Gartens vor mir auf, in dem unaufhörlich vor meiner Nase helles Bier vom Faß verschenkt wurde. Unaufhörlich schäumte das kalte Bier in reißenden Strömen aus den Hähnen in viele klare Gläser, die infolge seiner Kälte beschlugen, während Myriaden von Perlen vom Boden aufstiegen und an der Oberfläche zersprangen; Mädchen mit bloßen Armen trugen in unendlicher Zahl Gläser fort, aber kamen nie zu mir. Es brannte tiefer und tiefer in meinem Schlund, während die Phantasien an Deutlichkeit zunahmen. Schließlich bückte ich mich dann, sammelte einen Klumpen Eis oder Schnee auf und steckte ihn in den Mund; das wirkte für den Augenblick lindernd, unterbrach jedenfalls die Illusionen, so daß ich wieder fünf Minuten lang ungestört Freuchens hintere Partie beobachten konnte.
Aber bald kehrten die Qualen mit verstärkter Heftigkeit wieder, und nach und nach wurde man so stumpfsinnig, daß man an nichts anderes als Essen und Trinken zu denken vermochte. Man sehnt sich nicht mehr nach irgend etwas anderem; Heimat und Freunde verschwinden uns aus dem Bewußtsein und melden sich nur als gleichgültige Dinge, - alles ist Tand und eitler Kram außer dem einen: warmes, gutes, fettes Essen und viel, ungeheuer viel Getränk - und dann ein Bett.
Gespräche dieser Art können stundenlang dauern und werden oft durch reine Zufälligkeiten eingeleitet. Eines Tages sahen wir einen seltsamen Berg, der in Form und Farbe auffallend an einen mächtigen, mit Zucker bestreuten Napfkuchen erinnerte. Sobald einer die anderen darauf aufmerksam gemacht hatte, war schon das Gespräch im Gange, und sie redeten sich nach und nach in eine wahre Raserei hinein, die nicht aufhörte, bevor wir zum Zelt gekommen waren und den Hunger gestillt hatten.
Wenn dann Lundager zufällig Koch war und allein in voller arktischer Kriegsbemalung beim Lux saß und alle seine Künste entfaltete, dann freuten wir uns im Innern unserer Seele; denn wir wußten, hier war er auf seinem Platz: Bald ergossen sich aus den Kochtöpfen lukullische Einfälle; und wir sahen die sonderbarsten Kombinationen der fünf bis sechs Gerichte, die uns zu Verfügung standen. Während und nach einer solchen Mahlzeit sanken wir in einen Zustand des Entzückens, in den uns daheim kein Raffinement auf dem Gebiet der Gastronomie je bringen wird.
Am 19. April erreichten wir etwa 10 Kilometer südlich von "Hagens Insel", dem Endziel unserer Reise, unseren nördlichsten Lagerplatz. Auf dem letzten Tagesmarsch hatten wir das Zelt der ersten Abteilung passiert; aber während wir jetzt Rast hielten, zogen sie mit ihrem Proviantteil für das Depot an uns vorbei und passierten uns wieder am Nachmittag auf dem Rückweg mit leeren Schlitten. Bevor sie jedoch nach ihrem Zeltplatz weiterzogen, nahmen sie erst eine Mahlzeit bei uns ein, was ihnen in hohem Grade not tat.
Auf unserer letzten Tagesreise waren wir mehrere Stunden lang einer frischen Bärenfährte nachgegangen, die der Spur der Hundeschlitten eine lange Strecke folgte. An einer Stelle war der Bär ein kleines Stück nach der Seite hin ausgebrochen und unter einen Eisberg gegangen, wo er ein breites, tiefes Loch gegraben hatte, das zuerst schräg hinein auf den Eisfuß zuführte und dann in ungefähr waagerechter Richtung verschwand.
An der oberen Wand dieser Höhle hingen lange Reifzotteln. Da diese durch die Wärme des Tieratems entstehen, hatte sich also der Bär wahrscheinlich eine Zeitlang in der Höhle aufgehalten. Es führte nur eine Spur zu und von dem Loche.
Es handelte sich hier wohl um einen der gewöhnlichen Versuche des Bären, den Seehund bei seinen Luftlöchern zu fangen, die dieser im Winter häufig in der Nähe der Küste am Rande festgefrorener gestrandeter Eisblöcke hat, bei denen die Gezeiten andauernd das Eis aufbrechen. Wir hatten keine auffallend große Lust, hinunterzusteigen und zu untersuchen, ob sich am Boden dieser Höhle solch ein schreckliches Drama abgespielt hatte, da wir nicht ganz sicher waren, ob der Bär nicht noch da unten sich aufhielt.
Doch der Bär hatte die Schlittenspur wieder aufgenommen, hatte hier und die stark talghaltigen Hundeexkremente aus dem Schnee herausgegraben und verspeist, und war dann weiter geschlendert. Er hatte ein neues tiefes Loch gegraben und dann unsere Pfade verlassen.
Wir trafen viele Bärenspuren hier oben an. Ein einzelner Bär besuchte uns noch auf unserem Lagerplatz, aber ebenso wie der vorige, während wir schliefen, und erst am Tage darauf fanden wir seine Spuren am Strande. Sie bewegten sich in einer Entfernung von ungefähr 25 Ellen um das Zelt herum. Aber er hatte das Glück gehabt, uns nicht zu wecken; diesmal hatten wir nämlich die Büchsen im Zelte.
Am folgenden Tage ließen wir unser Zelt stehen und machten uns mit leichten Schlitten auf den letzten Marsch nach Norden. Wir hatten starken Gegenwind und Sonne. Ein bißchen Nebel zerstreute sich allerdings nach und nach etwas, behinderte aber doch die freie Aussicht in dem Grade, daß wir keinen deutlichen Einblick in das Reich bekamen, das nördlich von uns lag, und das wahrscheinlich das nördlichste blieb, das wir je zu sehen bekamen. Wir sahen jedoch, daß die Inseln im Osten sich, soweit das Auge im Sonnennebel reichte, nach Norden fortsetzten, und weit draußen im Nordwesten sahen wir an der inneren Seite der Gletscherbucht mächtige Berge sich über den Nebel erheben.
Friis, Achton
Im Grönlandeis mit Mylius-Erichsen
Berlin 1910