Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Frederick Cook
Auf dem Weg zum Nordpol: Melville Bay und Kap York

Eines Morgens erreichten wir das nördliche Gestade der Melville Bay und sahen die kühnen Felsklippen von Kap York in unklaren Urnrissen durch den grauen Seenebel schimmern. Starke Südwinde hatten derartige Eismassen gegen die Küste getrieben, daß es unmöglich war, näher an Land zu halten. Der heftige Wind hielt an und längs des Außeneises, das ruckweise auf und niederwogte, stand eine hohe See, die ein Landen oder Vorwärtskommen nahe der Küste ausschloß.
   Wir hätten gar zu gern eine Begegnung mit den Eingeborenen von Kap York gehabt, aber durch diese Eisverhältnisse waren wir gezwungen, ohne an Land zu gehen, weiter zu segeln und setzten deshalb unsern Kurs auf die nächste der nördlichsten Ansiedlungen an der Nordstern Bay. Gegen Mittag verschwand der Nebel und wir gewahrten deutlich die schroffen Abhänge und roten Klippen jäh aus dem Wasser aufragen. Der Küstenstrich ist beinahe zweitausend Fuß hoch und augenscheinlich der Überrest eines alten Tafellandes, das sich weit nach Norden erstreckte. Hier und da hatten Gletscher von geringer Ausdehnung, im unaufhörlichen Bestreben, die See zu erreichen, die Klippen unterspült. Die Luft war erfüllt von zahllosen Möwen, Lummen, Alken und Eidergänsen.
   Als unser Auge der langen, himmelanstrebenden Kette der roten Klippen folgte, erblickten wir einen turmhohen Felskegel, einen wohlbekannten Wegweiser für die Schiffahrt. Dann kam die lange Eismauer des Petowikgletschers in Sicht und hinter ihm, sich weit gegen Osten erstreckend, die funkelnde, weiße gewaltige Fläche des Oberlandeises, das das ganze Innere Grönlands bedeckt.
   Die kleinen, weitverstreuten Eskimodörfer dieser Gegend sind im Süden durch die angetriebenen Eiswälle der Melville Bay, im Norden durch die wunderbaren Klippen des Humboldt-Gletschers, westwärts durch einen Meeresarm und die trostlosen Einöden des inneren Grönland eingeschlossen.
   Es ist kein Grund vorhanden, warum hier keine Eskimos leben sollten, denn hier gibt es Nahrung im Überfluß, sowohl im Meere wie in der Luft, und selbst das Land liefert erhebliche Mengen Wildes. Blau- und Weißfüchse sieht man überall, dann gibt es Seehunde, Walrosse, den Narwal und den weißen Wal; da ist der Eisbär, ein König der arktischen Wildnis, der sein Reich nach allen Richtungen hin durchstreift. Der Hauptgrund, weshalb die Bevölkerung kaum zunimmt, liegt in den gefahrvollen Lebensbedingungen. Kinder sind sehr ersehnt und eine heiratsfähige Frau oder Mädchen mit einem oder mehreren Kindern wird viel höher geschätzt, als eine kinderlose Ehe.
   Der Küstenstrich ist hier außerordentlich eigenartig, denn, obgleich er an Ausdehnung kaum 200 Meilen beträgt, stellt er in Wirklichkeit eine Küstenlinie von annähernd 4000 Meilen dar, wenn man die großen Einschnitte des Wolstenholm-Sundes, des lnglefield-Golfs und anderer Buchten, Sunde und Fjords abmißt.
Wir steuerten nun vorsichtig auf Kap Atholl, das wir umsegeln wollten; dicker Nebel lag auf dem Wasser, der fast gänzlich die zahllosen Eisberge verbarg und es erschwerte, unsern Kurs zwischen den gefährlichen Felsen hindurch beizubehalten.
   Um Kap Atholl herum segelten wir in den Wolstenholmsund und setzten den Kurs gerade auf das Eskimodorf an der Nordsternbucht.
   Die Nordsternbucht ist geschützt durch ein Vorgebirge, das bedeutungsvoll Tafelberg, "Oamanaq", benannt ist. Als wir uns diesem Vorgebirge näherten, kamen uns viele Eingeborene in ihren Kajaks entgegen. Da ich die meisten von ihnen persönlich kannte, freute ich mich, sie wiederzusehen. Vor Jahren hatte ich ihre gutherzige Ehrlichkeit kennen gelernt. Ein dänischer Schriftsteller, Knud Rasmussen, der wie ein Eingeborener unter diesen Eskimos lebte, um Lokalstimmung zu gewinnen, war in einem der Boote und kam zu uns an Bord.
   Da einige kleine Reparaturen an unserem Schoner notwendig waren, folgten wir der hier üblichen, primitiven Methode des Dockens und zogen das Schiff auf den Strand. Das geschah während der Flut, nachdem der Propeller, der sich verbogen hatte - der hauptsächlichste Schaden am Schiff - ausgerichtet war. Gleichzeitig nahmen wir eine Generalbesichtigung der Jacht vor und brachten ein Universalscharnier in Ordnung, dessen Loslösen die Maschine unklar gemacht hatte.
   Unterdessen jagten wir Eidergänse und anderes Wild und machten spät am Abend dem Dorfe Oomanooi einen Besuch. Ein Dorf konnte man die Ansiedlung kaum nennen, denn sie bestand nur aus sieben dreieckigen Zelten von Seehundsfell, zweckdienlich auf malerischen Felsen aufgestellt, vor denen sich Männer, Frauen und Kinder versammelt hatten, die im Mitternachtsfrost vor Kälte zitterten.
   Es waren sonderbar aussehende Exemplare des Menschengeschlechts. Die Männer haben durchschnittlich eine Höhe von 5 Fuß 2 Zoll, die Frauen von 4 Fuß 10 Zoll. Alle haben breite, fette Gesichter, schwerfällige Gestalt und plumpe Glieder; ihre Haut ist hellbronzen und Männer wie Frauen haben kohlschwarzes Haar und braune Augen. Sie haben kurze Nasen, ihre Hände und Füße sind klein, aber dick.
   Vor jeder Zeltöffnung stand eine freundliche Frau, bereit die Besucher in gebührender Weise zu empfangen, und wir ließen uns mit jeder Familie in ein kurzes Gespräch ein. Der Gegenstand der Unterhaltung war naturgemäß beschränkt, aber bei allem war es ungefähr dasselbe, wie in zivilisierten Gegenden. Wir unterhielten uns darüber, ob alle wohl seien oder nicht, über Todesfälle, Heiraten und Geburten. Dann plauderten wir über Glück auf der Jagd, was gleichbedeutend mit Wohlergehen oder Mangel an Nahrung war. Selbst an einem Orte der Zivilisation wäre kaum die Frage nationaler oder internationaler Angelegenheiten berührt worden, da jeder ja seine Zeitung liest. Hier aber war kein Verlangen nach derlei Dingen, weil niemand danach fragt oder irgend eine Zeitung gehabt hätte, um sie zu lesen.
   Daß ein angesehener Eskimo mit Namen My-ah mehrere Frauen genommen hatte, um nebenher die Mittel zu erlangen, sich einige Hunde mehr anzuschaffen, bildete wohl das wichtigste Gesprächsthema. Ich wurde davon unterrichtet, daß es gegenwärtig nur noch einen Mann mit zwei Frauen gäbe.
   Die Ehe unter diesen Leuten ist eine sehr freie und einfache Einrichtung und in Wirklichkeit nichts weiter als eine nur zeitweilige Verbindung. Die Männer vertauschen die Frauen miteinander, wie in anderen Gegenden die Pferde von Besitzer zu Besitzer wechseln. Und doch ist die Stellung der Frau durchaus keine so tiefe, wie man aus diesem Brauch schließen sollte, denn dieser selbst ist es gestattet, andere Männer zu wählen. Dieser außerordentlich einfache Vorstellungsbegriff wirkt praktisch und in jenen weltfernen Gegenden ausgezeichnet, denn ein derartiges Auswechseln ist offenbar ein Vorteil und eine Befriedigung aller Beteiligten; nie hört man ein Bedauern, und einen Gerichtshof für Ehescheidungen, Alimentationsklagen, Eheirrungen und dergleichen, wie sie in zivilisierten Ländern an der Tagesordnung sind, kennt man hier nicht.
   Es ist sicher erstaunlich, daß diese einfachen, aber intelligenten Menschen befähigt sind, ihre Bestimmung mit erfreulichem Erfolge durchzusetzen, obwohl sie ohne Gesetze oder Schriftwerk, ohne festgeordnete Sitten und eheliche Bande leben.
   Man sollte glauben, es müßte hier eine große Bevölkerung hausen, denn im Durchschnitt hat jede Familie drei kräftige, kluge Kinder, von denen das jüngste gewöhnlich in einer Tasche malerisch auf dem Rücken der Mutter hockt. Aber die Lebensbedingungen in diesen Regionen sind derartig hart, daß Unglücksfälle und der Tod die Bevölkerungsziffer erheblich herunterdrücken.
   Jedes Zelt hat eine erhöhte Plattform, auf der alle schlafen; ihr Rand wird als Siiz benutzt und an den Seiten sind steinerne Lampen angebracht, in denen ein von Tran getränkter Moosdocht brennt. Darüber ragt ein Trockengestell und mehrere Stangen, die die ganze Einrichtung bilden. Ihre Pelzkleidung gibt den Eskimos das Aussehen grausiger Wildheit, die jedoch ihre freundlichen Gesichtszüge und ihr leichtes Temperament nicht bestätigen.
   An Bord der Jacht kamen geschäftige Tage des Tauschhandels. Pelze und Wal-Elfenbein wurden haufenweise zusammengeschleppt, um gegen Gewehre, Messer und Nadeln eingetauscht zu werden. Alle, vorn Schiffsjungen bis zum Kapitän wurden bei diesem Handel plötzlich reich durch wertvolle Blaufuchspelze und die Stoßzähne des Narwals.
   Ebenso stolz waren die Eskimos auf ihren Anteil an diesem Handelsgeschäft. Für einen prachtvollen Fuchspelz, der für den Eingeborenen weniger Wert als ein Hundefell hat, konnte er sich ein Taschenmesser erwerben, das ihm sein halbes Leben lang gute Dienste leistete!
   Eine Frau tauschte für ihre Pelzhosen, die wenigstens hundert Dollars wert waren, ein rotes Taschentuch ein, was ihren Kopf der ihre Hütte jahrelang zieren sollte.
   Eine andere gab ihre Handschuhe aus Bärenfell für ein paar Nadeln hin und war fest überzeugt, daß sie bei diesem Geschäft das längere Ende gezogen hätte. Ein wohlgenährter Jüngling, mit einfältigem Lächeln in den Zügen, erwarb hocherfreut zwei Blechtassen, eine für sich und eine für seine Braut. Er war tatsächlich überglücklich, für diese Blechtassen, die 9 cents kosteten, nur einen einzigen Elfenbeinzahn im Werte von 90 Dollars hergegeben zu haben.
   Mit der um Mitternacht eintretenden Flut brachten wir unseren Schoner von dem Not-Trockendock auf den Strand und bugsierten ihn mit unserer Barkasse und zwei Fischerbooten in die Bucht vor Anker.

Cook, Frederick A.
Meine Eroberung des Nordpols
Hamburg/Berlin 1912

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