1907 - Frederick Cook
Auf dem Weg zum Nordpol
Annoatok, Grönland
Nachdem wir unserer Jagdbegierde Genüge getan hatten, bereiteten wir uns zum Aufbruch nach Annoatok vor, das 25 Meilen nördlicher liegt und die allernördlichste Ansiedlung der ganzen Erde ist. Über diesen Ort hinaus wagt selbst der kühne Eskimo höchstens einen kurzen Jagdausflug, und selbst Geld ist hier ungebräuchlich, da es keine Kaufkraft besitzt.
Wir beschlossen das Motorboot zu besteigen, füllten die Tanks mit Gasolin und brachten geeignete Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände an Bord. Am Morgen des 24. August brachen wir nach Annoatok auf.
Es war ein köstlicher Tag. Die Sonne strahlte aus einem Himmel von italienischer Bläue. Eine leichte Brise strich über die See, die ruhig, wie ein Spiegel dalag. Als wir Littleton-Eiland passierten, suchten wir in der Rettungsbootbucht nach Schiffstrümmern. Hier war 1872 die "Polaris" gestrandet und mit vierzehn Mann gesunken. Die öden Klippen von Kap Hatherton waren ein Sommersonnenwendfeuer von Farbe und Licht, das einen starken Kontrast zu dem kalten Blau der vielen hochgetürmten Eisberge bildete. Als wir langsam hinter die Höhenkette des windumtobten Hochlandes kamen, wurde Wasser und Luft belebt von Seehunden, Walrossen und Vögeln. Wir schossen nur wenig, da wir sehr erpicht waren, Annoatok zu erreichen.
Als wir die scharfgezeichneten Felsen von Cairn Point passierten, sahen wir eine Gruppe von neun Zelten, an einer kleinen Bucht unterhalb Kap Inglefield. "Seht, seht! Das ist Annoatok!" rief Tung-we, unser Eskimoführer. Weiter schauend gewahrten wir, daß der ganze Kanal jenseits mit Eis vollgepreßt und gesperrt war. Glücklicherweise gelang es uns, unser Boot so weit zu bringen, wie wir wünschten. Eine lotrecht aufsteigende Klippe diente uns als Pier, an dem wir unser Boot befestigten. Hier konnte es mit den Gezeiten steigen oder fallen und kam durch Treibeis kaum in Gefahr.
Gewöhnlich ist Annoatok eine Ansiedlung, in der nur ein oder vielleicht zwei Familien hausen; wir aber trafen hier eine ungewöhnlich zahlreiche Bevölkerung, denn die besten Jäger waren zur Winterjagd auf Bären eingetroffen, nachdem ein Sommerjagdzug sehr guten Erfolg gehabt hatte. Ungeheure Mengen Fleisches waren längs des Strandes unter Steinhügeln aufbewahrt. Mehr als hundert Hunde - ein Maßstab für die Wohlhabenheit der Eskimos, - begrüßten uns mit ihrem Gekläff und zwölf strähnenhaarige Wilde kamen, um uns als Freunde zu bewillkommnen.
Ich gelangte zu der festen Überzeugung, daß hier die Stelle sei, die ich zum Ausgangspunkt für meinen Vorstoß nach dem Pol machen mußte. Hier gab es Eskimos als Gehilfen, kräftige, bodenständige Eingeborene, von denen ich mir die besten als meine Begleiter aussuchen konnte; hier waren, durch einen glücklichen Zufall, die besten Zughunde, Pelze für unsere Bekleidung in Menge und unbegrenzte Nahrungsmittel vorhanden. Diese Vorräte, mit denen von unserem Schoner vereinigt, boten alles, was ich für meine Expedition brauchte. Es konnte nichts Idealeres geben!
Nach Verlauf einiger Tage hatten wir eine große Menge an Jagdbeute eingebracht, und die günstigen Wetteraussichten machten meinen Plan zum Entschluß, den Vorstoß nach dein Pole zu wagen. Sollte ich nicht, wo mir alle Vorbedingungen günstig waren, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung das Ziel erreichen, das mir seit Jahren vorschwebte? Meine früheren Fehlschläge ließen mir keine Ruhe. Wenn ich jetzt nicht den Versuch machte, dann war es die Frage, ob sich mir je wieder eine so günstige Gelegenheit bieten würde.
Jetzt war alles einem Erfolge günstig. Ich gestehe zu, die Aufgabe schien gewagt bis zur Grenze der Unmöglichkeit. Aber angesichts aller dieser Vorteile, die so günstig in meiner Hand lagen, ergriff mich eine neue und fast überwältigende Begeisterung. Meine jahrelange Schulung in beiden Polarzonen und meine Fertigkeit im Bergsteigen sollten jetzt ihre schwerste
Probe bestehen.
Ja, ich mußte mich prüfen, mich nur auf mich verlassen; ich glaubte an den Erfolg und teilte Bradley meinen Entschluß mit. Er dachte nicht sonderlich günstig über meinen Erfolg, doch schüttelte er mir die Hand und wünschte mir Glück. Von seiner Jacht besorgte er Lebensmittel, Brennmaterial und andere Vorräte für Lagerbedarf und Handel, wofür ich ihm sehr dankbar war.
"Annoatok" bedeutet einen windigen Platz. Es verdient wirklich nicht den Namen eines Hafens; aber wir beschlossen, unsern Schoner hierher zu bringen und ihn an dem felsigen Ufer zu löschen, eine Aufgabe, die nicht ganz ungefährlich war. Die Basis für mein Vordringen mußte ich irgendwo in dieser Gegend haben, und Itah ist noch stürmischer als Annoatok. Außerdem war in Itah das Landen schwieriger und der Ort auch nicht annähernd so geeignet für mein Vorhaben.
Zudem waren, wie ich schon bemerkte, in Annoatok außer reichlichsten Nahrungs- und Bekleidungsmitteln die zuverlässigsten Eskimos von ganz Grönland, aus denen ich mir den besten Teil, je nach der Entlohnung durch Kulturprodukte, wie Messer, Gewehre, Munition, Eisen, Nadeln und Zündhölzer, auswählen konnte, da sie in ihrer Ausdauer, mit ihren stählernen Muskeln, mit ihrem Mut und ihrer Vertrautheit mit arktischen Reisen dem weißen Manne bedeutend überlegen sind.
Dieses gegebene Zusammenwirken - reichliche Vorräte und zuverlässige Eingeborene - ließ zur Sicherstellung des Erfolges wirklich nichts zu wünschen übrig, sofern wenigstens die Vorbereitungen in Betracht kamen. Nötig war vor allem volle Gesundheit, andauernd gute Witterung und günstige Eisverhältnisse. Ein Aufwand von einer Million Dollars hätte eine Expedition nicht unter günstigeren Vorbedingungen inszenieren können. Die Gelegenheit war allzu günstig, um nicht ausgenutzt zu werden, deshalb kehrten wir nach Itah zurück, um die Forschungsreise vorzubereiten.
In Itah wurde alles, was in Annoatok an Land gebracht werden sollte, an Deck geholt, so daß der gefahrvolle Aufenthalt bei den Felsen von Annoatok sehr abgekürzt werden konnte. Das Schiff war für einen aufkommenden Sturm gerüstet.
Am Spätabend des 26. August nahmen wir die ganze Bewohnerschaft von Itah an Bord, lichteten die Anker und bald segelte die "Bradley" in die Gewässer des Smithsundes, auf Annoatok. Die Nacht war klar, aber kalt und erglänzte in vollem Farbenzauber. Die Sonne begann gerade am nördlichen Horizont niederzugehen, ein Kennzeichen des Endes der leuchtenden, sommerlichen Doppeltage und des Beginns der Sturmperiode, die zur langen Polarnacht führt. Am frühen Morgen langten wir in Annoatok an.
Die Barkasse und die Boote wurden zu Wasser gelassen und beladen, ebenso die Eskimofahrzeuge, die wir dann am Strand verstauten. Aber nur einige erreichten Annoatok selbst, denn der Wind wurde stärker und die unruhige See machte uns Eile zur Pflicht. Die Sachen wurden irgendwo an Land geworfen, wo gerade eine Anlege für die Boote zu finden war.
In dieser schwierigen Lage bewährte sich die Leistungsfähigkeit der Barkasse glänzend, und im Verlauf von etwa dreizehn Stunden war, trotz Sturms und widriger See, alles glücklich an Land in Sicherheit. Daß unsere Vorräte längs der Küste, auf die Entfernung von einigen Meilen, verstreut waren, hatte wenig Bedeutung, denn die Eskimos brachten sie willig und pünktlich nach den bestimmten Plätzen.
Jetzt war die Zeit für die Heimreise des Schoners nach den Vereinigten Staaten gekommen. Bei der vorgeschrittenen Jahreszeit war es gefährlich, länger in Annoatok zu verweilen und erforderlich, ohne besonderen Aufenthalt an einem anderen Orte fortzusegeln. Diese Abreise bedeutete eine völlige Trennung zwischen mir und aller Zivilisation. Im Rückblick hierauf, glaubte ich jedoch nicht, daß meine Lage so gefahrvoll sei, wie man denken mochte. Andere Forscher waren allein in die Arktik gezogen, ich aber war ihnen durch Erfahrung voraus.
Cook, Frederick A.
Meine Eroberung des Nordpols
Hamburg/Berlin 1912