1910 - H. Hergesell
Smerenberg (Smeerenburg)
Gegen Mittag bogen wir in den breiten Smerenbergsund ein, indem wir die Däneninsel nordwärts umsegelten. Von allen Seiten treten in diesem breiten, mächtigen Busen gewaltige Gletscherströme in das Meer. Diese lagen heute im herrlichsten Sonnenglanz und einer warmen Sommertemperatur in weiter Ausdehnung vor uns. Der Blick schweifte ungehindert durch Wolken- und Nebelmassen bei der reinen, klaren Atmosphäre bis zu dem fernsten Horizont; die kleinsten Gegenstände waren deutlich erkennbar. Heute konnten wir mit Fug und Recht verstehen, warum seinerzeit vor einigen hundert Jahren die alten Walfischfänger gerade diese Stätte mit Vorliebe aufgesucht hatten. Hier erhob sich einst, im Polarsommer von mehreren tausend Menschen besucht, jene alte Stadt, die uns in den alten Büchern, welche den Walfischfang schildern, mit so großer Anschaulichkeit beschrieben wird. Hier im Smerenbergsund und dem ihn weiter im Norden mit dem offenen Ozean nördlich der Däneninsel verbindenden Dänensund lagen oft mehr als hundert Fangschiffe. Hier erhoben sich am Lande lange Häuserreihen mit großen technischen Anlagen, in welchen das Walfischfett sofort ausgekocht und als wertvolles Öl gewonnen wurde. Hier herrschte, besonders nach einem glücklichen Fang, oft fröhliches Leben, Musik und Tanz usw. Wie gesagt, die schöne Sommerstimmung machte uns durchaus verständlich, warum hier die Zentrale der nordischen Walfischfängerei gegründet wurde. Aber heute war trotzdem nichts von dem geschilderten Leben zu spüren; stumm und einsam lagen die weiten, eisigen Gletscherflächen und die steinigen Küsten da, von dem Leben vieler fröhlicher Menschen war nichts übriggeblieben als wenige Reste. Die Häuser, die technischen Anlagen sind überall verschwunden; das einzige, was von früherem menschlichen Leben noch zeugt, sind die Gräber, die aber nicht von der schützenden Erde verborgen daliegen, sondern meistens durch die Unbilden des Wetters und vielleicht auch durch die Tiere geöffnet sind. Auf der Däneninsel und den kleinen Inseln, die sie umlagern, findet man häufig noch wohlerhaltene Bohlen, aus welchen die viereckigen Särge verfertigt wurden. Offen zutage liegen die Knochen, die Schädel der Menschen, welche hier meistens, wie die Schädel erweisen, in jungen Jahren dahingestorben sind.
Am Dänensund erstreckt sich eine ebene, weit in den Smerenbergsund sich hineinschiebende Fläche am Fuße von aufsteigenden Bergen, welche die darunterliegende Gegend vor Nord- und Nordwestwinden sichern. Auf dieser Fläche erhob sich einst die schon oben erwähnte Tran- oder Fettstadt der alten Holländer, deren Spuren wir noch aufsuchen wollten. Allerdings, heut ist nicht mehr viel vorhanden. Man sieht nur noch an gewissen Stellen die regelmäßig gefurchte Erde, ein Beweis, daß hier dereinst Häuserreihen gestanden haben. Auch die Gräber sind seit kurzer Zeit verschwunden. Noch im Jahre 1906, als ich zum erstenmal diese Stätte besuchte, fanden wir hier ausgedehnte Grabfelder. Aber bereits in jenem Jahre wurden die zerstreuten, Wind und Wetter preisgegebenen Knochenreste gesammelt, um in ein gemeinsames Massengrab übergeführt zu werden. Der holländische Kreuzer "Friesland" war von der Regierung zur Ausführung dieses pietätvollen Werkes dorthin gesandt worden und war, als wir vor vier Jahren dort ankerten, in voller Tätigkeit. Wie ich jetzt feststellen konnte, waren sämtliche Gräber der Umgebung geleert, die Knochen in einem großen Massengrabe untergebracht, das sich an der Spitze der Halbinsel wie ein altes Hünengrab weithin sichtbar erhebt. Eine alte Grabplatte, die sich schon früher auf der ehemaligen Grabstätte von Smerenberg vorfand, ist hier wiederum neu angebracht worden. Sie trägt die Inschrift:
In memoriam:
Spitsbergen or Nieu Land outdeckt,
tot 79° 20' 3o" N Breedte
door de Hollanders
Hier owerwinterten 1633-34
Jacob Seegersz
en zes anderen
Hier owerwinterten en stierven 1634-35
Andries Jacesz
van Middeburg en zes anderen.
Hinzugefügt war im Jahre 1906 eine neue Platte mit der Inschrift:
Hr Ms. Friesland
herstelde
deze Graven
en 1906 oplast
van de Koningen
der Nederlanden.
Miethe, A.; Hergesell, H. (Hg.)
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911