Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1910 - A. Miethe
Magdalenefjord

Während wir an jenem Abend unten in der Messe in ziemlich trübseliger Stimmung die Ereignisse der letzten beiden Tage besprechen und neue Pläne schmieden, speziell den Vorsatz fassen, möglichst morgen mit "Fönix“ einen erneuten Vorstoß nach dem benachbarten Packeis zu unternehmen, lichtet sich draußen der Himmel und schließlich dringen gegen Mitternacht helle Sonnenstrahlen durch die Reihe unserer Bullaugen.
   An Deck empfängt uns blendendes, weißes Licht und ringsum breitet sich ein Panorama von einer Schönheit und Größe, wie wir es bis dahin in Spitzbergen noch nicht gesehen. Unter lichtgrünem, klaren Himmel liegt die ganze Weite der Magdalenenbai vor uns, während die Aussicht nach Westen zu über das naheliegende Eismeer durch eine dunkelschwarze, drohende Nebelwand in unmittelbarer Nachbarschaft abgeschlossen wird, die noch die letzten Höhen von Kap Smerenberg direkt im Norden verschleiert. Rings aber dehnen sich die unbeschreiblich großartigen Alpen der Magdalenenbai in strahlendem Sonnenschein; Niflheim und Walhalla nebeneinander. Nicht nur der Kontrast gegen das dunkle und trübe Wetter der letzten Tage bedingt den gewaltigen Eindruck des Panoramas; auch ohne diesen dramatischen Begleitumstand wäre uns dasselbe wohl gleich erhaben erschienen.
   Neben uns, scheinbar kaum einen Büchsenschuß entfernt, erhebt sich die senkrechte, fast glatte Wand des Adamsgletschers, und über seine Firnmulden und spaltigen Abstürze blicken wir bis zu einem zackigen Kamm, zwischen dessen Gipfeln sich der breite Strom des Gletschers sanft herabsenkt. Rechts davon gegen das Eismeer fällt eine überaus steile, dunkle Gebirgsmauer allmählich ab, in deren Schluchten die Mitternachtssonne hineinscheint und die grünen Flechten an den Hängen wie Samt erstrahlen läßt. Links schließt sich Gipfel an Gipfel, Gletscher an Gletscher; zunächst die zackigen Wände des Gullygletschers, umstarrt von einer Reihe abenteuerlicher Felsspitzen und weiter, tief in der Bucht drinnen der Absturz des vielarmigen Waggonwaygletschers, aus dessen Mitte sich eine steile, zackige Felsmasse erhebt, deren Gipfel in die klare Luft hineinragen. Nach Nordosten und Norden formen dann die Nordabhänge der Magdalenenbai mit dem Braganzagletscher und einer Reihe von anderen kleineren Eisströmen, die nur zum Teil das Gestade erreichen. Das Wunderbarste aber all dem ganzen Bilde ist die märchenhafte Farbenpracht desselben. Alle tieferen Hänge sind mit einem Schimmer grüner Vegetation bedeckt, gegen den die dunkleren, blauschattigen oder von der Sonne hell angestrahlten Felsmassen der einzelnen Steilgipfel lebhaft absetzen. Und gegen das Elfenbeinweiß der Firnen steht das Grünblau des klaren, luftigen Himmels, den nach Osten zu kein Wölkchen trübt.
   
Miethe, A.; Hergesell, H. (Hg.)
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!