Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1910 - H. Hergesell
Unterwegs mit dem Fesselballon

Warm glitzerte die Polarsonne auf die Gletscher und Firnfelder der nördlichen Buchten von Spitzbergen, die wir bald hinter uns im Süden zurückließen. Am nördlichen Himmel zeigte ein niedriger weißer Schimmer, daß wir nicht mehr lange bis zum Polareise zu fahren hatten. Es ist dies der allen Eismeerfahrern so bekannte Eisblink, der schon aus verhältnismäßig großer Ferne das Vorhandensein von ausgedehnten Eisfeldern anzeigt. In den Abendstunden lag die Eiskante, die sich ohne Ende nach Westen und Osten weit schimmernd ausdehnte, vor uns. Auch heute, ebenso wie bei unserem ersten Vorstoß vor einigen Tagen, war das Eis am Rande sehr dicht zusammengepreßt. Noch immer wehte leichter Südwind, der die Schollen nach Norden trieb und da ihnen dort bald kein Ausweichen mehr möglich war, sämtliche Rillen und Rinnen zu engen, kaum fahrbaren Kanälen zusammenschob. Wir fuhren eine Zeitlang an der Kante entlang, um den günstigsten Platz für das Eindringen auszusuchen. Uns allen wollte die Möglichkeit überhaupt zweifelhaft erscheinen, doch meinte unser wackerer, eiserfahrener norwegischer Kapitän Svendsen, daß an der Ausführung durchaus nicht zu zweifeln sei. Nach einigem Suchen entdeckten wir dann auch eine allerdings ziemlich enge Rinne, die sich weit nach Norden zu erstrecken schien. Mit voller Kraft fuhr das kleine Schiff hinein und geschmeidig wie ein Seehund glitt es in die knirschenden weißen Schollen, dieselben so weit wie möglich beiseite schiebend. Bald befanden wir uns mitten in einem Gewirr von kleineren oder größeren Eisflächen, die sich, je weiter wir eindrangen, immer enger um uns zusammenschlossen. Mit allen Mitteln, durch Beiseiteschieben der Schollen, durch Gegendampfen und Niederdrücken derselben, durch ausgelegte Eisanker und Anziehen der Schiffswinde arbeiteten wir uns vorwärts. Bald umgab uns eine einzige weiße Fläche, die nur vereinzelt durch dunkle Wasserrillen durchbrochen wurde. Das kundige Auge des Eisschiffers, der selbst in dem sogenannten "Krähennest", einer Ausgucktonne am Vordermast, stand, entdeckte jedoch immer wieder einen neuen Weg, um vorwärts zu kommen. Um elf Uhr nachts waren wir etwa zwei Seemeilen in die schwimmenden Eismassen eingedrungen. Die Schollen, soweit sie noch erkennbar waren, hatten eine Dicke und Ausdehnung angenommen, daß sie für unsere anzustellenden Versuche mehr als genügend erschienen. Auch erklärte unser Eissachverständiger, Prof. von Drygalski, daß wir andere Verhältnisse auch dann nicht vorfinden würden, wenn wir noch viele Seemeilen vordringen könnten. Noch unzugänglicheres Eis, das noch mehr zusammengeschoben wäre, würden wir erst viel weiter nördlich vorfinden. Da wir uns so weit nicht vorwagen konnten, beschlossen wir, unter diesen Umständen sobald wie möglich mit den Versuchen zu beginnen. Das Wetter war für einen Fesselballonaufstieg das denkbar günstigste. Ein leichter Nebel, der sich anfangs in den Abendstunden eingestellt hatte, war völlig verschwunden. Am bleichen Polarhimmel stand die Mitternachtssonne und lud zum sofortigen Beginn der Arbeit ein. Da wir nicht sicher waren, ob nicht bald eine Änderung des Wetters eintreten würde, beschlossen wir, den Ballonaufstieg sofort, also mitten in den Nachtstunden, vorzunehmen. Die ganze Mannschaft des Schiffes, auch die Stewards, der Koch, die Dienerschaft wurde mobil gemacht und nun ging es kurz vor Mitternacht an eine emsige Arbeit. Zunächst wurde der "Fönix" fest mit zwei Eisankern an die größte Scholle gelegt, welche in unserer Nachbarschaft vorhanden war. Auf dieser wollten wir die Füllung unseres Ballons und den ganzen Aufstieg vornehmen. Da es uns nicht ratsam schien, die schweren Wasserstoffflaschen auf dem Eise selbst zu lagern, mußte die Füllung so vollzogen werden, daß in der Nähe des Schiffes der Ballon ausgebreitet und durch eine lange Füllröhre mit den Gasflaschen, die an Bord in geeigneter Weise aufgestapelt und mit einer Füllvorrichtung versehen waren, in Verbindung gesetzt wurde. Die mühseligste Arbeit war zunächst die Verfrachtung der Gasflaschen von dem Hinterdeck auf das Mitteldeck. Alles beteiligte sich, der Prinz an der Spitze, an der nicht leichten Arbeit, die zweimal wiederholt werden mußte, da wir nur etwa fünfzig Flaschen an die Füllvorrichtung anschließen konnten und etwa hundert Flaschen gebraucht wurden. Es war ein eigenartiger Anblick, dieses emsige Treiben unserer so sonderbar zusammengesetzten Arbeitsmannschaft. Die Mitternachtssonne leuchtete uns hell und klar zu unserem kalten Werke, das sie in diesen Regionen bisher noch nicht erblickt hat. Nachdem in etwa einer Stunde die Füllvorrichtung fertiggestellt war, gingen wir an das Auslegen und Fertigmachen des Ballons zur Füllung. Es war nicht leicht, hier auf der vielfach mit Schmelzwasser bedeckten Scholle einen geeigneten Platz zu finden. So mußten wir stellenweise bis an die Knöchel im Wasser stehen, um das mühsame Auslegen der Ballonhülle zu bewerkstelligen. Sandsäcke wurden bereit gestellt, die Füllung begann dann unter lautem Zischen des ausströmenden Gases, nachdem Prinz Heinrich es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst die Ventil- und Reißleine für den bevorstehenden Aufstieg in Ordnung zu bringen. Diese wichtigste aller Aufgaben mußte von einer kundigen Hand vollführt werden, da bei einem Abreißen des Fesselballons die emporgestiegenen Luftfahrer einzig und allein auf diese beiden Organe für eine schnelle Landung angewiesen waren. Als dritte und wichtigste Arbeit kam endlich die Herrichtung eines Eisankers, der die Rolle tragen sollte, durch welche das Fesselkabel des Ballons geführt werden mußte; von diesem hing die Sicherheit des ganzen Fesselaufstiegs ab. Die Verankerung wurde vom Grafen Zeppelin und seinem Mitarbeiter, dem Luftschiffkapitän Lau, nach den Erfahrungen, die wir in der Adventbai gewonnen hatten, in sehr kurzer Zeit zur Ausführung gebracht. Es wurden vier Eisenröhren in die dicke Eisscholle hineingelegt und durch ein eisernes Kabel verbunden. An diesem wurde eine große Laufrolle befestigt und schließlich durch dieselbe das Kabel geführt; das letztere war auf der Dampfwinde des "Fönix" aufgewickelt und konnte von dieser leicht zum Abwinden bzw. Aufwinden gebracht werden. Zur Sicherheit ließ ich noch ein Haltetau an dieser Rolle anbringen, das von mehreren Leuten gehalten wurde, falls der Eisanker ausreißen sollte. Die Vollführung dieser Arbeiten erforderte wiederum mehrere Stunden. Alles arbeitete emsig im Schweiße des Angesichts. Als Ballonführer, der die ganze Füllung zu leiten hatte, stand ich der besseren Übersicht wegen oben an Bord des Schiffes und dirigierte durch die Stimme oder durch Gesten die einzelnen Manipulationen, wie der Prinz äußerte: "Wie ein Prediger in der Wüste." Besonders die schweren Sandsäcke, die mehr als zwanzig Kilogramm wogen, machten den meisten kein besonderes Vergnügen, und manche blickten mit Mißgunst nach dem hohen Standpunkt des "Predigers", von wo so oft das unangenehme Kommando kam: "Sandsack eine Masche tiefer." Als ich nun gar von dem hohen Schiffsbord einen Seehund, eine sogenannte Storkrobbe, erblickte und in ungezügeltem Jagdeifer auf dieselbe aus dem bereitliegenden Gewehr eine Kugel feuerte, brach der Unwille in laute Worte aus. Lautes Schelten erklang, daß sich hier jemand, wo alles der strengen Arbeit gewidmet sei, dem Jagdvergnügen hingäbe. Nur der Umstand, daß ich vorbeigeschossen hatte, konnte einigermaßen die gerechte Entrüstung zähmen. Gegen drei Uhr morgens war alles zum Aufstieg bereit. Auf Wunsch des Prinzen Heinrich bestiegen Graf Zeppelin und ich als erste den schwankenden Korb. Langsam hob sich der Ballon über die glitzernde Eisfläche, und bald entrollte sich zu unseren Füßen ein eigenartiges Bild. Das Schiff wurde kleiner und kleiner, die unten wimmelnden Menschen wurden zu Ameisen, bald wirkte nur noch die einförmige, von dunklen Kanälen durchzogene weiße Fläche auf die Beschauer ein; endlos dehnte sich die Eiswüste nach Norden und Nordwesten aus. Nach Nordosten schien freies Wasser zu liegen, aber auch im Osten nichts als Eis und Eis, das sich etwa in der Gegend der Wijdebai an das Festland von Spitzbergen anlehnte. Es war ein schöner, aber zugleich schauriger und trostloser Anblick. Die Unerbittlichkeit und Härte der Natur machte sich inmitten dieses eisigen Todes mit voller Macht geltend. Darüber schien weiß und fahl, ebenso unerbittlich die Mitternachtssonne und blickte schier höhnisch auf das gebrechliche Werkzeug des Menschen, das uns zu diesem seltsamen Anblick emportrug. Das Wetter hatte sich mittlerweile etwas geändert. In der Höhe, die wir erreicht hatten, wehte ein ziemlich scharfer Wind, der den Ballon kräftig faßte und den Korb lebhaft hin und her schlug. In langen Schwankungen flogen wir auf und ab. In unangenehmer Weise rieb sich das Kabel an unserem Korb und brachte ihn zu plötzlichen Erschütterungen. Wird der Eisanker, wird die zerbrechliche Scholle auch halten? Diese Fragen tauchten doch einige Male bei sehr starken Schwankungen des Fahrzeuges in uns auf. Wenn wir abrissen, flogen wir direkt nach Norden; den von Andree so lange ersehnten Südwind hatten wir voll und ganz. Wie muß es diesem Manne und seinen Begleitern zumute gewesen sein, als sie, nicht von dem sicheren Fesselballonkabel gehalten wie wir, über diese trostlose Eiswüste in rascher Fahrt dahintrieben, in einem Fahrzeug, das in keiner Weise in ihrer Gewalt war, sondern lediglich als Spielball der Winde bald hierhin bald dorthin getrieben wurde. Ich machte noch schnell einige photographische Aufnahmen von oben - nach der zweiten ging leider der Momentverschluß meines Apparates in die Brüche -, denn ging es wieder herab. Graf Zeppelin verließ den Korb, um Prinz Heinrich Platz zu machen, den ich als einziger anwesender Führer eines Kugelballons ebenfalls hinauffahren durfte. Der Wind hatte sich jetzt noch verstärkt. Wiewohl wir beinahe das ganze Kabel abließen, konnten wir doch keine größere Höhe als früher erreichen, wohl aber wurden wir weit abgetrieben und hatten andere Stellen der unter uns liegenden Eisfläche vor Augen. Dieses Mal konnte ich mich mehr einzelnen Beobachtungen hingeben. Das Polareis ist allenthalben von engen Rillen durchsetzt, an einzelnen Stellen übereinander geschoben, an anderen Plätzen einfach und eben. Überall, wohin das Auge blickte, waren Schollen zu sehen, die ein bequemes und leichtes Hintreiben des Zeppelinschen Eisankers gestatten; überall, auch in der Ferne sahen wir auf dem Eise große ebene Flächen, vorzüglich geschaffen zu Verankerungsplätzen für Luftschiffe. Das Eis war an einzelnen Stellen auch von Schmelzwasserseen bedeckt, die in einiger Entfernung im Lichte der Polarsonne tief schwarz erschienen. Direkt unter uns aber erstrahlte ein See im tiefsten Blau. An anderen Stellen erblickten wir eine Anzahl kleiner runder Löcher im Durchmesser etwa von der Größe des menschlichen Körpers. Es sind dieses die Luftlöcher der Seehunde, durch welche sie emportauchen, um zu atmen. Es waren deren eine ganze Anzahl an verschiedenen Stellen. Wie würde sich ein Eskimo gefreut haben, wenn er auf diese leichte Weise seine Jagdgründe hätte erforschen können. Noch einmal wandte ich, bevor es herabging, den Blick nach Süden. Da lag schwarz und ruhig das offene Meer. Die Eisgrenze zog sich unabsehbar nach Westen, nach Osten zu traf sie ungefähr beim Grey Hook das Festland. Ein Beweis für mich, daß in diesem Jahre die Eisverhältnisse viel ungünstiger waren, als im Jahre 1906. Damals waren, wie schon erwähnt, sämtliche Buchten der Nordküste, auch der langgestreckte Wijdefjord eisfrei. Heute lehnte sich das Treibeis bereits westlich von diesem großen Fjord an die Küste. Direkt vor uns im Süden erhoben sich am Horizont die scharfen Spitzen von Nordspitzbergen. Die Däneninsel, Vogelsang, die Berge der Redbai konnten wir deutlich erkennen. Von dorther wird einst, wenn die Entwickelung der Luftschiffe weiter geht, im scharfen Fluge der weißglänzende Körper des Zeppelinluftschiffes herankommen, um die Geheimnisse der unter uns liegenden Eiswüste zu enträtseln.

Miethe, A.; Hergesell, H. (Hg.)
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911

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