1910 - Graf von Zedlitz und Trützschler
Der Fels und seine Bewohner um Longyearbyen
Nicht umsonst trägt Spitzbergen seinen Namen, ein spitzer Berg steht immer gleich hinter dem anderen, und weil daher der Platz recht knapp ist, so sind die Hänge zumeist ganz unangenehm steil, oft fallen sie fast senkrecht ab, und das sehr bröcklige, verwitterte Gestein erschwert außerordentlich die Kraxelei, soweit sie nicht direkt unmöglich wird. Aber doch zieht es uns immer und immer wieder hinauf, denn in jeder Bucht, in jedem Fjord erblicken wir Felsmassive, Wände und Schroffen, welche unzählige Vögel kreischend und lockend umschwärmen, sehen schon aus weiter Entfernung große Flächen des Gesteins mit kalkfarbiger, weißlicher "Glasur" überzogen, alles untrügliche Zeichen größerer Kolonien von Felsenbrütern. Die Herrschaften fühlen sich offenbar recht als die eigentlichen Herren des Gebirges, schimpfen laut über jede Störung, lassen sich aber im allgemeinen durch den Menschen wenig anfechten. Wir konstatieren das gleich beim Besuch der Adventbai, wo natürlich die neueste "Sehenswürdigkeit" Spitzbergens, das in vollem Betriebe befindliche Steinkohlenbergwerk, besichtigt wird. Auf Schrotschußnähe neben uns über den Förderschächten wimmelt es um die Felsnasen wie ein Schwarm großer Bienen. Wir haben hier eine Kolonie des Krabbentauchers (Alle alle L.), des kleinsten der hier vorkommenden Alke, welche heute nach meinen Beobachtungen noch genau so belebt ist wie vor zehn Jahren, als bei meinem ersten Besuche dort noch keine Menschenseele existierte, wo heute die Holzhäuschen von Advent-City [heute Longyearbyen] fast 1 1/2 Hundert Menschen beherbergen. Ob die Dampfmaschine schnaubt, ob im Berge gehämmert wird und Wagen auf Wagen mit schwarzer Ladung zu Tale rollt, das ist unseren geflügelten Philosophen völlig egal, sie wissen, ihre Nester versucht nur einer auszunehmen, der in dem morschen Gestein, das keinen sicheren Griff oder Tritt bietet, seine Knochen riskieren will; dazu fühlen aber die braven Bergknappen gar keinen Beruf in sich, zumal ihr Verdienst recht reichlich ist und zur Befriedigung der Jagdpassion viel lockendere Objekte in Menge vorhanden und leicht erreichbar sind. Unsere Zwergalke, welche der Norweger "Alkekonge" (zu deutsch Alkkönig) nennt, können also in Frieden ihr Geschlecht vermehren. Da ist es kein Wunder, wenn sie dem Menschen wenig Beachtung schenken und gelegentlichen Beobachtern mit Vorliebe ihre Rückseite zuwenden. Zu putzig sieht solch eine Reihe auf einem Felsbande sitzend ans, alle nebeneinander senkrecht aufgerichtet, dabei fast so dick wie hoch den glänzend schwarzen Rücken dem Besucher zugekehrt, wobei neben den angelegten Armschwingen die weiße Seitenbefiederung meist wie zwei silberne Schoßknöpfe am dunklen Frack hervorleuchtet, das Ganze so recht der Typus des kleinen Gernegroß, wenn wir mal scherzeshalber zwischen Mensch und Tier derartige Vergleiche ziehen wollen, die ja im Ernst natürlich wissenschaftlich ganz unzulässig wären.
Nun aber heißt es, weiter marschieren, denn Krabbentaucher können wir noch genug beobachten, dagegen gilt es, in der Adventbai auf einen anderen Vogel besonders zu achten, der nur sehr spärlich auf Spitzbergen brütet, aber gerade hier erst jüngst von einem unserer namhaftesten deutschen Ornithologen nistend angetroffen wurde, ich meine die Weißwangengans (Branta leucopsis Bechst.). Hoch oben nahe den Gipfeln auf schmalen Felsbändern oder winzigen Terrassen schlägt sie ihr Heim auf, um später mit den Jungen hinab zum Fjord und bald in die offene See zu wandern. Weit häufiger als diese ausgesprochene Rarität treffen wir hoch oben im Gebirge, aber auch an leichter zugänglichen Stellen, eine entfernte Verwandte derselben, die kurzschnäblige Graugans (Anser brachyrhynchus Baill.), an. Dem Laien erscheint es sehr sonderbar, daß diese Wasservögel hoch im Felsengewirr sich ihre Niststatt suchen, als hätten sie Nägel statt Schwimmhäuten an den Füßen; aber der irrt gewaltig, welcher meint, daß diese braven Ruderfüßler schlecht zu Fuß seien. Man muß es nur einmal gesehen haben, mit welcher "affenartigen Fixigkeit" die jungen Graugänse über Fels und Schnee hinhuschen mit lang vorgestrecktem Halse! Es ist gar kein Gedanke daran, sie einzuholen, man sieht wohl eher noch mal mit dem Glase hin, ob diese bellenden Läufer denn wirklich nur zwei Beine haben. Im Wasser zeigen sie die gleiche Gewandtheit, Alte wie Junge tauchen meisterhaft und wissen sich auch auf diese Weise recht gut der Verfolgung zu entziehen. Ich kenne keinen Vogel, der so vielseitig in ausdauernder und flinker Bewegung zu Lande, zu Wasser und in der Luft wäre.
Abgesehen von diesen interessanten, aber nicht gar zahlreich auftretenden Brutvögeln der ins Inlandeis vordringenden Gebirge ist die Natur hier nur wenig belebt, wir fühlen uns zurück zur Küste gezogen, wo noch mancher Vogelberg der Beachtung wert ist. Was wir am Bergwerk in der Adventbai sahen, das ist nur ein Dorf, wir haben unter den Kolonien auf Spitzbergen aber auch wahre Großstädte; besonders in den nördlichen Teilen der Westküste und an den Buchten der Nordküste kann man auf engem Raume vereint Studienmaterial für lange Zeit finden. Von unten sieht man allerdings blutwenig: wie ein Bienenschwarm schwirrt es unablässig um die hohen, vielfach weiß gefärbten Felsentürme, aber Details lassen sich nicht recht erkennen, dazu muß man sich schon hinauf bemühen. Da gibt's Arbeit für die "Genagelten", und auch der Eispickel ist recht gut zu brauchen. Eine prächtige Gelegenheit für unseren geschätzten Doktor, um seine alpinistischen Erfahrungen zu verwerten, die er sich einst im anstrengenden Studium zu München erwarb; er übernimmt als "Fachmann" die Führung, und nun hinauf! Die steil ansteigenden Grashalden sind so schlüpfrig, daß der Fuß auf ihnen nirgends festen Halt findet, wir vermeiden sie nach Möglichkeit und klimmen zumeist in einem Wasserriß empor, der jetzt im Spätsommer nur wenig Wasser, aber desto mehr Steingeröll enthält. Bald sind es große Blöcke, bald kleine Köpfe bis hinab zur Faustgröße, aber eine Eigenschaft haben sie alle gemeinsam, sie befinden sich durchaus im labilen Gleichgewicht, das gar zu leicht gestört wird, wenn man darauf tritt. Fast bei jedem Schritt lösen sich einzelne Stücke los, welche zu Tale poltern, also heißt es doppelt vorsichtig sein; erstens damit keiner durch Steinschlag verletzt werde, zweitens daß man selbst nicht inmitten einer kleinen Lawine eine unfreiwillige Rutschpartie anträte. Daher dauert es lange, bis wir diese etwas schwierige Passage überwunden haben und zum ersten Male hinabblicken. Dort unten liegt schon ganz klein unser Ruderboot zwischen den Uferfelsen, an welchen in regelmäßigem Takte der weiße Schaumkranz der steigenden Welle emporleckt; davor ein Ausschnitt des Fjords, fast unbeweglich, dunkelgrün, belebt von unzähligen schwarzen Pünktchen, den Rücken schwimmender Alke. Doch zum Ausruhen und Anschauen ist es noch zu früh. Das Geschrei an dicht bevölkerten Felsbändern tönt immer noch zu unseren Häupten, die Anzahl der ab- und zustreichenden Vögel ist schon viel deutlicher erkennbar, aber immer noch über uns, also weiter! Rechts und links steigt der Fels in senkrechten Terrassen von vielen Metern Höhe empor, dazwischen schmale Spalten und kaum fußbreite Bänder, die oft unterbrochen sind, durchweg alles Gestein sehr morsch und ohne gute Griffe. So bietet der obere Teil unserer bisher zum Aufstieg benutzten Runse, die mit hartem alten Schnee angefüllt ist, noch die beste Gelegenheit zum Fortkommen. Schritt für Schritt geht es im Zickzack die Steigung von 45° und mehr aufwärts. Wo der Fuß nicht ausreicht, sich im vereisten Schnee sicher zu betten, da wird mit dem Eispickel vorgearbeitet und eine schöne Stufe nach der anderen gehauen. So kommt man vorwärts, zwar nicht in fliegender Eile, aber doch sicher. Trotz der frischen Luft und der offenen, leichten Joppe rieselt der Schweiß reichlich von der Stirn, das ist ein rechter Hochgenuß nach so manchem Tage faulen Wohllebens an Bord während der Überfahrt! Endlich sind wir so weit, der große Bienenschwarm umschwirrt ganz dicht unsere Köpfe, manche bleiben schon unter uns, das obligate Begrüßungsgeschrei ist betäubend, doch gewöhnt man sich schnell an den gleichmäßigen Lärm.
Auf einem schmalen, spärlich mit Gras bewachsenen Felsbande schieben wir uns vorsichtig seitwärts bis zu einem größeren Vorsprung, an welchem wir uns inmitten dieses brausenden, flutenden Vogellebens zur Beobachtung niederlassen.
Rings herum, über, neben, unter uns sitzen in langen Reihen oder in kleinen Gruppen auf wenige Meter Entfernung die Bewohner des Berges. Gern möchten wir eins der Nester ganz genau in Augenschein nehmen, aber nirgends ist es möglich, bis unmittelbar heranzuklettern. Die Vögel legen ihre Bruten so an, daß selbst ein sehr geschickter Turner, wenn er nur Arme und Beine, aber keine Flügel besitzt, nicht herankann. Sie wissen wohl, warum, denn der Fuchs in seinen verschiedenen hochnordischen Formen ist der größte Liebhaber von Eiern und Dunenjungen, daher ein ständiger Gast auf den Vogelbergen, wo er sich sicher alles zu Gemüte führt, was für den gewandten Springer und Kletterer irgend erreichbar ist. Oft ist die Beute so gut, daß er sich noch eine Reserve für den Winter "auf Eis legt", wie die norwegischen Fangsleute glaubhaft versichern. Bei solcher Konkurrenz bleibt dem plumpen Menschen nur das Seil übrig, wenn er Nester ausnehmen will. Heut gilt unser Besuch aber vor allem der Beobachtung, denn auf Eier ist nicht mehr zu rechnen und Junge bekommen wir schon noch. Etwa die Hälfte sämtlicher Kolonisten stellt die Dickschnabellumme (Uria lomvia lomvia L.), Spitzbergens häufigster Alk. Ihm zunächst steht an Zahl die Dreizehenmöwe (Rissa rissa rissa L.), welche mit der Sturmmöwe unserer heimischen Nordsee große Ähnlichkeit hat. Diese beiden so gar nicht verwandten Arten, der Alk und die Möwe, haben treue Freundschaft geschlossen und neigen überall, wo sie vorkommen, zur Symbiose, die sich natürlich an den Brutplätzen am deutlichsten zeigt. Sie brüten jedoch nicht durcheinander, sondern nebeneinander, hier eine geschlossene Gruppe von Möwennestern, eins immer hart am andern, je zwei Eier oder weißliche Dunenjunge enthaltend, dann wieder einige Meter weiter eine Serie von Alken "Mann an Mann" auf einer Felsbank, hinter jedem Paar versteckt im Gestein das sehr große, birnenförmige, gefleckte Ei oder schwarzbraune Dunenjunge.
Neben den großen Massen dieser so verschiedenen und doch so eng beisammen wohnenden Arten verschwinden fast die anderen Mieter, welche in kleinen Gesellschaften hier und da im Hinterhaus oder in den obersten Stockwerken wohnen. Da sehen wir zunächst unseren alten Bekannten, den Krabbentaucher, sodann einen einfarbig schwarzen Alk mit großem weißen Flügelspiegel, die arktische Teiste (Cepphus grylle mandtii Licht.) Dieser Vogel ist nicht eigentlich ein Freund zu großer Geselligkeit beim Brüten, er sucht sich paarweise verstreut seine Nistgelegenheit ganz unten am Fuße oder ganz oben am Rande der Wand, wo er einigermaßen für sich leben kann, immerhin trägt auch dieser kleine schwarze Gesell mit seiner weißen Flügelzeichnung und leuchtend roten Beinchen mit dazu bei, das Gesamtbild lebhafter und bunter zu gestalten.
Eine Erscheinung fehlt auf keinem Brutplatze, obgleich sie dort sicher nicht gern gesehen wird, es ist die mächtige Bürgermeistermöwe (Larus glaucus Brünn.), in den Maßen noch mächtiger als unsere stolze Silbermöwe, im Kleid nach meinem Geschmack noch schöner, da sie statt der schwarzen weiße Schwingenspitzen zeigt, also das ganze Gefieder nur in zwei Farben, schneeigem Weiß und zartestem Silbergrau prangt. Um Eier zu legen und Junge aufzuziehen, kommt nun allerdings diese Möwe nicht nach den Vogelfelsen, sie gehört vielmehr zu den fleischfressenden ihrer Art, welche in der Arktis die Stelle unserer Raubvögel vertreten. Ganz besonders ist sie ein erpichter Eierräuber und sucht darum regelmäßig die Brutkolonien auf, um dort von einer hohen Warte herab zu lauern, bis sie ein unbewachtes Nest ausnehmen kann. Sie scheut sich auch nicht, später junge Vögel draußen auf dem Wasser zu schlagen, wenn sie nicht rechtzeitig durch Tauchen sich salvieren. Natürlich ist die Möwe aber nur in günstigen Fällen imstande, gesunde Vögel in der Freiheit zu bewältigen, da ihr als Waffe nur der Schnabel zur Verfügung steht, die Füße hingegen nicht greifen und festhalten können.
Ein Versuch, die Bewohner solch einer großen Kolonie der Zahl nach zu taxieren, ist aussichtslos. Mag man durch Steinwürfe und Schüsse noch so viele aufjagen, daß schier der Himmel verfinstert wird, immer noch sitzt scheinbar die ganze Wand voll, und fortwährend streichen Vögel zu, welche weit draußen Nahrung geholt haben. So ist immer Leben und Abwechslung in dem Bilde, und nur ungern entschließen wir uns zum Abstiege, der bedeutend leichter und schneller vor sich geht als der Aufstieg. Dabei haben wir für die Momente, wo man nicht auf jeden Tritt hinab zu achten braucht, das großartige Panorama des Fjords und seines jenseitigen Ufers mit bläulich leuchtenden Gletschern zwischen schneebedeckten Spitzen vor uns. War auch die Kletterei mühevoll, mag auch kein Schuß auf seltenes Wild gefallen sein, wir sind uns einig in dem Ausspruch: "Es war doch ein lohnender Tag, solch große Brutkolonie muß man einfach gesehen halben, wenn sich die Gelegenheit dazu bot."
Miethe, A.; Hergesell, H. (Hg.)
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911