Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1910 - Adolf Miethe
Trankochen im Isfjord
Spitzbergen

So fuhren wir denn an jenem Morgen – am 16. Juli – in das breite Tor des Isfjords hinein.
   Das Packeis, das uns am Tage vorher zu schaffen gemacht hatte, war durchaus nicht aus Sicht gekommen. Es lag vielmehr als ein scheinbar schmaler, unschuldiger, weißer Streifen unter dem blauen Himmel um das Kap Staratschin herum und erstreckte sich von dort aus nach Süden und Westen weit in das offene, sonnenbeschienene Meer, glitzernd und funkelnd, bis es sich fern im Dunst des Horizonts verlor. Vor uns liegt nach Süden zu die vollkommen offene Mündung des Grünen Hafens [Grønfjorden] mit seinen schneegefleckten Bergen und mit einem flachen, den Hintergrund ganz ausfüllenden Gletscher, der von den südlichen Höhen herabsteigt. Auf dem blauen Wasser treibt nur hier und da ein vereinzeltes Eisstück oder eine große Scholle, während wir, die Mitte des Fahrwassers einhaltend, vorsichtig in die Bucht hineindampfen. In der flimmernden Sonne erblicken wir schon von ferne eine blaue Rauchwolke, die von einem undeutlich sichtbaren Gebäudekomplex auf der Ostseite des Beckens aufsteigt. Dort befindet sich eine Transiederei, die vor einigen Jahren hierher verlegt worden ist.
   Während nämlich früher das Abspecken und Verarbeiten der Walfische, welche die Fangboote im Nördlichen Eismeer erbeuteten, in Fabriken an der norwegischen Nordküste vorgenommen wurde, hat schließlich die Regierung dieses Landes doch ein Einsehen gehabt und die wirklich sehr unbehaglichen Betriebe des Landes verwiesen. Augenblicklich werden daher die Transiedereien an mehreren Stellen der spitzbergischen Küste und bis vor kurzem auch eine solche auf der Bäreninsel betrieben, wo genügend Raum und keine Nachbarn vorhanden sind, so dass die Störungen, die diese Fabriken für ihre Umgebung mit sich bringen, hier weiter nicht fühlbar werden.
   Rechts, auf der westlichen Seite des Grünen Hafens, etwa drei Seemeilen von seinem Eingang entfernt, liegt ein größeres Segelschiff dicht unter Land vertäut, und auf dieses halten wir zu, um dort ebenfalls vor Anker zu gehen. Als wir näher kommen und uns durch die verstreuten Eisschollen im Fahrwasser durcharbeiten, erkennen wir, dass dieses Fahrzeug ebenfalls eine Walfischschlachterei ist, die sich in lebhaftem Betrieb befindet. Das alte Schiff, das im Winter jedes Mal nach Norwegen geschleppt wird, liegt nur im Sommer hier, und neben ihm im Wasser sind eine Reihe von Walfischkadavern verankert, die wir zunächst für Felsen ansehen und die von Tausenden und Abertausenden von Eissturmvögeln umschwärmt werden, während ebenso viele Tausende ringsum die Wasserfläche bedecken. Einige hundert Meter entfernt fällt unser Anker, und wir rüsten uns, spitzbergischen Boden zu betreten. Unser erster Ausflug an Land gilt der Transiederei am jenseitigen Ufer, die unter einem einförmigen, mit schmalen Schneerunsen gestreiften Höhenzug gelegen ist, an dessen Abhang mehrere schwarze Flecke sichtbar werden, die Ausbisse der bekannten Kohlenflöze, die hier hauptsächlich für den Gebrauch der Transiederei in kleinem Maßstab abgebaut werden.
   Wir landen mit unserem Motorboot an einer vorspringenden, sandigen Halbinsel in unmittelbarer Nähe des Gebäudekomplexes, dessen Rauchwolke wir schon von ferne gesehen hatten. Kaum an Land bemerken wir schon, dass wir uns einen nicht gerade vorteilhaften Platz ausgesucht haben. Aus dem sandigen Ufer, an dem rings einzelne Eisschollen und kleine Eisberge gestrandet sind, erheben sich massenhaft entsetzliche Reste von Walfischleibern und Gerippen, über denen die Sonne warm brütet und den Tran als schwärzliche Flüssigkeit zwischen den verwesten Massen herausschmilzt, während die durch die Fäulnis aufgetriebenen Kadaverteile eher an braunen Fels als an Fleischklumpen erinnern.
   Dem unbehaglichen Anblick entsprechend sind die Düfte, die von diesem Leichenfelde ausgehen. Niemand gibt sich hier die Mühe, die abgespeckten Kadaver in See zu schleppen, sondern sie bleiben einfach am Ufer liegen, wo sie dann allmählich während der Jahre verrotten und dabei begreiflicherweise der uneingeweihten Nase des Nichttranverständigen höchst lästig bemerkbar werden. Tatsächlich kann man sich einen furchtbareren Geruch als den hier in der Windstille lagernden kaum ausmalen, und selbst beherzte Naturen kennen diesem plötzlichen Überfall gegenüber nur eine Rettung: ungeordnete Flucht.
   Dass aber dies alles Sache der Gewöhnung ist und dass wir vollen Grund haben, die Anwandlung des Ekels und Entsetzens niederzukämpfen, erkennt man daraus, dass in dieser mephitischen Atmosphäre die Leute mit der gleichen Ruhe arbeiten wie etwa gegenüber dem Jülichsplatz in Köln. Im Leben ist eben alles Anpassung, Sitte und Gewohnheit und die Spezies Mensch ist von allen Wesen diejenige, welche sich am leichtesten den verschiedensten, auf den ersten Blick unerträglich erscheinenden Lebensbedingungen immer dann anzuschmiegen versteht, wenn das rollende Gold oder sonstige Lockmittel dafür sprechen. Hier schmiegt sich eben der Mensch an den faulenden Walfischkadaver an.
   Unmittelbar vor den niedrigen Fabrikgebäuden, die von einem Wald von Trantonnen umgeben sind und zwischen denen Walfischknochen sich türmen, brauner stinkender Tran rinnt und Fleischabfälle ganze Berge bilden, liegt an der Brücke ein Frachtdampfer, der soeben beladen wird, und zu seinen beiden Seiten rechts und links arbeiten die Leute mit scharfen, spatenartigen Eisen, um mehrere Kadaver ihrer Speckhülle zu entkleiden. Der Speck wandert dann, in vierkantige Stücke im Gewicht von zehn bis fünfzehn Kilogramm zerlegt, in kleine Wagen und wird den mit Dampf geheizten Kesseln zugeführt, die kolonnenweise auf einem erhöhten Gerüst stehen und in deren Bauch der Tran ausgeschmolzen wird. Was davon übrig bleibt, wird entleert und wie das taube Gestein in einem Erzbergwerk auf die Halde gestürzt. Eine Verarbeitung des Fleisches und der Knochen scheint augenblicklich nicht stattzufinden, während dies früher in Norwegen auf einzelnen Fabriken geschah, da aus dem Fleisch Guano, aus den Knochen Fischleim und Knochenmehl hergestellt wurde.
   Wir entfliehen möglichst schnell dieser unerträglichen Umgebung, und während ein Teil unserer Expeditionsmitglieder sich den oben am Berge gelegenen Kohlengruben zuwendet, um diese in Augenschein zu nehmen, wandern wir am Gestade entlang, wo sich zwischen den prächtig blauen und grünen dort am Grunde liegenden Eisbergen das ruhige Meer ausbreitet und die Höhen am jenseitigen Ufer im durchsichtigen Violett des herrlichen Tages schimmern.
   Warum der Grüne Hafen diesen Namen führt, ist schwer einzusehen, denn rings um die mit Geröll bedeckten kahlen Berge zeigt sich kaum eine Spur von Vegetation. Nur an einzelnen Stellen, wo das Land ebener und aus rinnendem Schneewasser und tonigen Verwitterungsmassen ein höchst unbehaglicher Sumpf entstanden ist, grünt es von Moos und kleinen zarten Alpenpflanzen, deren farbige, niedrige Blütenkelche sich der hellen Mittagssonne öffnen. Aber im Ganzen herrschen die grauen, braunen, nach der Ferne zu ins Violette schattierenden Töne vor. Man könnte den Blick in die Weite einen einförmigen und schwermütigen nennen, aber die wunderbare Sonne, die ihren Glanz über Schnee und Eis, über das ruhige Meer und die flache Uferlinie ausbreitet, übergießt alles mit einem stillen Zauber friedlicher Ruhe und arktischer Größe, der auf uns ergreifend wirkt. Es scheint, als wenn das Tagesgestirn in der kurzen Sommerzeit sich bemühte, auch diesen verlassenen Erdenwinkel mit einer Fülle von Farbe und Pracht zu verschönern, als wenn es sich bewusst wäre, dass es allzu bald von diesen wenig gastfreundlichen Gestaden Abschied nehmen und sie den Nebeln des Herbstes und den Winterstürmen überlassen müsse.
   Als wir am frühen Nachmittag zu unserer Mainz zurückkehren, hat das Eis, das vorher in der Nähe des Kaps Staratschin gelegen hatte, sich in Bewegung gesetzt, ist der Einfahrt des Grünen Hafens zugesteuert, und während des Frühstücks wird uns gemeldet, dass das ganze Hafenbecken gesperrt und die Schollen sich unserem Schiffe bereits erheblich genähert hätten. Wirklich sehen wir an Deck eine unerwartete und unbehagliche Veränderung. Rings haben sich die mächtigen, weißen Eisschollen, von Norden her in die Bucht treibend, um uns geschart und zwischen ihnen bleiben nur noch schmale Wasserstraßen, die sich mehr und mehr schließen, so dass der Kapitän sich gezwungen sieht, die Mainz weiter unter Land, in unmittelbare Nähe unseres Nachbars, des Transieders, zu führen. Glücklicherweise steht heute der Wind so, dass wir zunächst durch den Geruch nicht übermäßig belästigt werden, aber diese Nachbarschaft wirkt doch ungemütlich und der Gedanke, vielleicht tagelang bei umspringendem Winde in dieser Atmosphäre liegen bleiben zu müssen, ist direkt deprimierend.
   Am Nachmittag empfangen wir den ersten Besuch von spitzbergischen Fremdlingen an Bord. Der Kapitän des Transchiffes nebenan und sein Lotse erscheinen und berichten uns über ihre Tätigkeit und ihre Erfolge.
   Mit dem Ergebnis des diesjährigen Sommers sind sie überaus zufrieden. Schon mehr als fünfzig Walfische sind von ihnen abgespeckt und das alte Schiff fast mit voller Ladung gefüllt worden. Leider ist unser Gast aber selbst von einer derartigen Atmosphäre umgeben, dass wir unsere Gespräche zweckmäßig oben auf dem Deck führen und uns nicht enthalten können, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass wir von dieser seiner Eigenschaft nicht gerade begeistert sind. Er aber erklärt uns lächelnd, dass das nur ein Übergangsstadium sei und dass wir uns in wenigen Tagen ebenso wie er selbst und seine Mannschaft an den Geruch gewöhnt haben und ihn dann »ganz angenehm« finden würden. In freier Luft einen Walfisch abzuspecken sei nicht schlimm, dagegen sei eine Arbeit, die er jetzt gerade längsseits vornehmen lasse, weniger behaglich. Seit Wochen nämlich schon suchten seine Mannschaften in einem abgespeckten Walfisch eine steckengebliebene Explosionsharpune, die man durchaus wiederfinden müsse, ehe man den Kadaver der Strömung überlasse. Das muss ein angenehmes Geschäft sein.

Miethe, A; Hergesell, H. (Hg.)
Mit Zeppelin nach Spitzbergen
Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition
Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1911

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

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