Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 540 - Sankt Brendan
Die Feuerinsel
Island? Jan Mayen?

Als sie acht Tage gefahren waren, sahen sie nicht weit weg eine Insel, unwegsam, felsig, rau, ohne Bäume oder Gräser, aber voller Schmiedewerkstätten. Da sagte der ehrenwerte Vater [Brendan] zu seinen Mitbrüdern: »Wahrlich, Brüder, diese Insel macht mir Angst; ich will sie nicht betreten und mich ihr auch nicht nähern, aber der Wind treibt uns dorthin.« Als sie bis auf einen Steinwurf weit herangekommen waren, hörten sie Lärm wie ein Blasen und wie Donner und wie das Schlagen von Hämmern auf einem Amboss beim Schmieden von Eisen. Als er das hörte, bekreuzigte sich der ehrenwerte Vater und sprach in die vier Himmelsrichtungen: »Herr Jesus Christus, bewahre uns vor dieser Insel!« Da kam einer der Einwohner der Insel heraus, so als ob er etwas zu tun hätte. Er war struppig, stark, feurig und düster. Als er aber die Diener Christi sich nähern sah, ging er in seine Werkstatt zurück. Der Mann Gottes wiederum hatte sich inzwischen mit dem Kreuz geschützt und sagte zu den Brüdern: »Meine lieben Söhne, haltet das Segel höher und fahrt schnell, dass wir der Insel entkommen.« Kaum hatte er das gesagt, als der besagte Mann wieder am Ufer erschien; in den Händen trug er eine Zange mit einem ungeheuren feurigen Brocken Eisen, den er sogleich in Richtung der Diener Christi schleuderte, was denen aber keinen Schaden zufügte, denn er flog weit über sie hinweg. Wo er wie ein Teil eines brennenden Berges ins Meer fiel, stiegen Dämpfe auf wie aus einem Feuerofen. Als nun der wahre Mann Gottes auf eine Meile an die Stelle herangekommen war, von der der Brocken geschleudert worden war, liefen die Einwohner der Insel am Ufer zusammen; einige brachten weitere Brocken, andere warfen sie wieder und wieder auf die Diener Christi im Meer. Sie kehrten in ihre Werkstätten zurück und heizten sie an, und so stand die ganze Insel wie ein Ofen in Flammen, und das Meer brodelte wie ein Kochtopf voller Fleisch auf dem Feuer. Und sie hörten den ganzen Tag ein gewaltiges Geheul auf der Insel. Und wenn sie die Insel auch nicht mehr sehen konnten, so dröhnte ihnen doch das ungeheure Geheul der Leute in den Ohren und ein fürchterlicher Gestank stieg ihnen in die Nase. Da beruhigte der heilige Vater seine Mönche mit den Worten: » O Ihr Soldaten Christi, seid stark im wahren Glauben und bekreuzigt Euch, denn wir sind vor den Toren der Hölle. Also seid wachsam und mannhaft!«
   Am anderen Tag zeigte sich ihnen ein hoher Berg nicht fern im Norden wie durch dünne Nebel und mit viel Rauch an der Spitze. Sogleich zog ein starker Wind sie zum Ufer dieser Insel, bis das Schiff nicht weit vom Land steckenblieb. Die Insel war so gewaltig hoch, dass sie kaum den Gipfel sehen konnten. Sie war schwarz und steil wie eine Mauer. Einer der drei Brüder aus dem Kloster, die Sankt Brendan begleiteten, verließ das Schiff und ging ans Ufer. Als er es erreicht hatte, rief er aus: »Weh mir, Vater, etwas zieht mich von Euch fort, und habe nicht genug Kraft, zu Euch zurückkommen.« Sogleich bewegten die Brüder das Schiff vom Land weg und riefen den Herrn an: »Herr, erbarme Dich unser; Herr, erbarme Dich unser!« Der ehrenwerte Vater und seine Gefährten sahen, wie der Unglückliche von vielen bösen Teufeln zur Marter geführt wurde. Da rief Sankt Brendan aus: »Weh Dir, mein Sohn, dieses Ende gebührt Dir!«
   Dann erhob sich ein günstiger Wind und führte sie nach Süden. Als sie sich umsahen, sahen sie, dass sich der Berg auf der Insel aufgetan hatte, Rauch und Flammen bis in den Himmel spuckte und sie dann wieder in sich hineinsog; der ganze Berg sah aus, als ob ein Scheiterhaufen im Meer stünde.

Zaenker, Karl A.
Sankt Brendans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei deutschen Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert
Stuttgart 1987
Übersetzung: U. Keller

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

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