Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1873 - Julius Payer
Die Entdeckung von Franz-Joseph-Land

Ein denkwürdiger Tag war der 30. August 1873 (in 79°43’ Breite und 59°33’ Länge); er brachte eine Überraschung, wie sie nur in der Wiedergeburt zu neuem Leben liegt. Es war um die Mittagszeit, da wir über die Bordwand gelehnt in die flüchtigen Nebel starrten, durch welche dann und wann das Sonnenlicht brach, als eine vorüberziehende Dunstwand plötzlich raue Felszüge fern in Nordwest enthüllte, die sich binnen wenigen Minuten zu dem Anblick eines strahlenden Alpenlandes entwickelten! Im ersten Moment standen wir alle gebannt und voll Unglauben da, dann brachen wir, hingerissen von der unverscheuchbaren Wahrhaftigkeit unseres Glücks, in den stürmischen Jubelruf aus: »Land, Land, endlich Land!« Keine Kranken gab es mehr im Schiff; im Nu hatte sich die Nachricht der Entdeckung verbreitet, alles war auf Deck geeilt, um sich mit eigenen Augen Gewissheit darüber zu verschaffen, das wir ein unentreißbares Resultat unserer Expedition vor uns hatten. Zwar nicht durch unser eigenes Hinzutun, sondern nur durch die glückliche Laune unserer Scholle, und wie im Traum hatten wir es gewonnen, immerhin aber schien die Möglichkeit gegeben, dass es uns gegönnt sein werde, Größe und Beschaffenheit dieses wie durch einen Zauber aus der Eiswüste empor tauchenden Landes durch eigene Anstrengungen kennen zu lernen. Doppelt schmerzlich fiel unser Blick zugleich auf unsere unaufhaltsam dahin ziehende Scholle, auf die Abhängigkeit von ihrer Willkür, auf das Abhandensein eines Winterhafens, von dem aus allein die Erforschung des Landes hätte mit Sicherheit vorgenommen werden können. Zur Zeit jedoch lag das Betreten des Landes außer dem Bereich jeder Möglichkeit, wer die tragende Scholle verlassen hätte, wäre abgeschnitten und verloren gewesen; nur unter dem Eindruck der ersten Aufregung waren wir über unser Eisfeld dahingeeilt, obgleich wir wussten, dass unzählige Sprünge das Land uns unnahbar machten! Am Rande unserer Scholle angelangt, etwa vier Meilen von dem Schiffe aus und an fünfzehn Meilen von der nächst gelegenen Küste entfernt, spähten wir von einer Anhöhe aus nach den Gliedern, Bergen und Gletschern des rätselhaften Landes. Seine Täler dachten wir uns damals mit Weiden geschmückt und von Rentieren belebt, welche im ungestörten Genuss ihrer Freistätte weilten, fern von allen Feinden.
   Jahrtausende waren dahin gegangen, ohne Kunde von dem Dasein dieses Landes zu den Menschen zu bringen. Und jetzt fiel einer geringen Schar fast Aufgegebener seine Entdeckung in den Schoß – als Preis ausdauernder Hoffnung und standhaft überwundener Leiden – und diese geringe Schar, welche in der Heimat bereits zu den Verschollenen zählte, war so glücklich, ihrem fernen Monarchen dadurch ein Zeichen ihrer Huldigung zu bringen, dass sie dem neu entdeckten Lande den Namen
Kaiser Franz Josephs-Land
gab.
   Aus eisernen Kaffeeschalen hatten wir auf Deck mit rasch bereitetem Grog ein Hoch auf unseren Kaiser getrunken und unser Schiff beflaggt. Alle Sorge schwand für jetzt, mit ihr auch die passive Gleichförmigkeit unseres Lebens. Es gab keinen Tag, keine Stunde mehr, in welcher dieses geheimnisvolle Land nicht unsere Aufmerksamkeit völlig erfüllte, und die Frage, ob dieser oder jener Vorsprung in nebelgrauer Ferne ein Berg, eine Insel oder ein Gletscher sei, beherrschte unsere Gespräche. Noch vergeblicher aber war unser Bemühen, das Rätsel von der Größe des vor uns liegenden Landes zu lösen. Von der zuerst gesehenen Berghöhe (Kap Tegethoff – sein [des Expeditionsschiffes] erstes Denkmal) angefangen bis zu seinen umflorten Umrissen im Nordosten besaß seine Front etwa die Ausdehnung eines Breitengrades; doch weil seine südlichsten Teile in großer Entfernung von uns lagen, so war es unmöglich, die topografische Konfiguration auch nur des Nächstgelegenen sich annähern zu versinnlichen. Die Eisberge, die im Laufe der letzten Wochen in wachsender Zahl angetroffen hatten, fanden in der Auffindung dieses Gebirgslandes nunmehr ihre natürliche Erklärung und waren für sich selbst ein Zeugnis seiner Ausdehnung und mächtigen Begletscherung.

Peyer, Julius
Die österr.-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872-1874
Wien 1876

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!