1893 - Fridtjof Nansen
Mit der Fram im Eis
Montag, 25. September. Fester und immer fester eingefroren! Prächtiges, stilles Wetter; in der letzten Nacht 25° C Kälte. Jetzt kommt der Winter.
Es sah wirklich aus, als ob wir jetzt endgültig eingefroren waren, und ich erwartete nicht, dass die Fram eher aus dem Eis wieder herauskam, als bis wir auf der anderen Seite des Pols waren und uns dem Atlantischen Ozean näherten. Der Herbst war schon ziemlich weit vorgeschritten, die Sonne stand von Tag zu Tag niedriger am Himmel, und die Temperatur fiel stetig.
Die lange Winternacht kam heran – die gefürchtete Nacht. Uns blieb nichts zu tun übrig, als uns auf sie vorzubereiten, und so verwandelten wir das Schiff, so gut wir konnten, in ein behagliches Winterquartier. Gleichzeitig trafen wir alle Maßregeln, uns gegen die Kälte, das Treibeis und sonstige Naturkräfte zu sichern, denen wir, wie uns prophezeit war, unterliegen müssten.
Wir holten das Steuerruder in die Höhe, um zu verhindern, dass es durch die Eispressungen zermalmt würde. Das Gleiche wollten wir auch mit der Schraube tun, allein da sie mit ihrer eisernen Umkleidung sicher das Achterende des Schiffs und besonders den Ruderpfosten verstärkte, so ließen wir sie an ihrer Stelle.
Auch mit der Maschine hatten wir viel Arbeit; jeder einzelne Teil wurde herausgenommen, geölt und für den Winter weggelegt; Schieber, Kolben und Wellen wurden untersucht und gründlich gereinigt. Amundsen [Anton, erster Maschinist, nicht zu verwechseln mit dem Forscher Roald Amundsen] sorgte für die Maschine, als ob sie sein eigenes Kind wäre; spät und früh war er unten, und wir pflegten ihn zu necken, nur um ihn sagen zu hören: »Ihr könnt meinetwegen reden, aber es gibt keine zweite solche Maschine in der Welt, und es wäre Sünde und Schande, nicht gut für sie zu sorgen.«
Im Raum machten wir Platz für eine Tischlerwerkstätte; die Mechanikerwerkstelle hatten wir im Maschinenraum, die Schmiede war anfänglich auf Deck und später auf dem Eis; die Klempnerarbeiten wurden meist im Kartenzimmer, die Schuhmacher- und Segelarbeiten im Salon vorgenommen.
Von den empfindlichsten Instrumenten bis zu den groben Holzschuhen und Axtstielen – alles wurde an Bord der Fram gemacht. Als wir eine neue Lotleine brauchten, wurde auf dem Eis eine großartige Reepschlägerei eingerichtet.
Jetzt stellten wir auch die Windmühle auf. Sie sollte die Dynamomaschine treiben und uns elektrisches Licht liefern. Solange das Schiff in Fahrt war, wurde die Dynamomaschine von der Schiffsmaschine getrieben, allein schon seit langer Zeit hatten wir uns in unseren dunklen Kabinen mit Petroleumlampen begnügen müssen. Die Windmühle wurde an der Backbordseite auf dem Vorderdeck zwischen der großen Luke und der Reling errichtet, doch dauerte es mehrere Wochen, ehe sie betriebsfähig war.
Es gab immer etwas, was uns beschäftigte, und es war auch nicht schwer, für jeden Arbeit zu finden, die ihm genügend Bewegung und so viel Ablenkung verschaffte, dass ihm die Zeit nicht unerträglich lang wurde. Da war die Sorge für das Schiff und die Takelung, die Untersuchung der Segel und des Tauwerks usw.; Proviant aller Art musste aus den Kisten im Raum zum Koch gebracht werden; Eis, gutes, reines Süßwassereis, musste gesucht und nach der Küche geschafft werden, in der es zu Koch- und Waschwasser geschmolzen wurde.
In den verschiedenen Werkstätten gab es immer zu tun. Einmal musste »Schmied Lars« (Pettersen) die Davits des Großbootes, die im Karischen Meer durch die Wogen verbogen worden waren, wieder gerade machen; dann musste ein Haken, ein Messer, eine Bärenfalle geschmiedet werden. Der Klempner, wiederum »Schmied Lars«, hatte einen Blecheimer zum Eisschmelzen für die Küche zusammenzulöten. Der Mechaniker, Amundsen, war beauftragt, das eine oder andere Instrument, vielleicht einen neuen Strommesser, herzustellen; der Uhrmacher, Mogstad, hatte einen Thermographen zu reinigen oder eine neue Feder in eine Uhr zu setzen, während der Segelmacher angewiesen war, Geschirre für die Hunde anzufertigen.
Ferner musste jeder sein eigener Schuhmacher sein und sich selbst Segeltuchstiefel mit dicken, warmen Holzsohlen nach dem neuesten »Modell Sverdrup« [Otto Sverdrup war der Kapitän der Fram] nähen. Dann kam wieder für den Mechaniker Amundsen der Befehl, aus Zinkblech einen Vorrat von neuen Notenscheiben für das Harmonium zu schaffen, die eine nagelneue Erfindung des Leiters der Expedition waren. Dann hatte der Elektriker die Akkumulatorenbatterien, die einzufrieren drohten, zu reinigen.
Als endlich die Windmühle fertig war, musste sie bedient und nach dem Winde gestellt werden. Und wenn dieser zu stark war, musste einer an der Mühle hinaufklettern und die Segel reffen; bei dieser Winterkälte keine sehr angenehme Beschäftigung, die man nur mit vielem Hauchen auf die Finger und Reiben der Nasenspitze schadlos überstand.
Hin und wieder mussten wir auch das Schiff auspumpen. Diese Arbeit wurde freilich immer seltener nötig, da das Wasser rund herum und in den Fugen des Schiffes gefror, und von Dezember 1893 bis Juli 1895 wurden die Pumpen überhaupt nicht angerührt.
Zu diesen mannigfaltigen Beschäftigungen kamen nun noch als die wichtigste von allen die wissenschaftlichen Beobachtungen, die vielen von uns ständig Arbeit verschafften.
Die meteorologischen Beobachtungen wurden Tag und Nacht alle vier Stunden und lange Zeit sogar alle zwei Stunden angestellt; sie hielten einen, manchmal auch zwei Mann den ganzen Tag in Tätigkeit. Scott-Hansen hatte die Oberaufsicht über diesen Bereich, und sein Assistent war Johansen, an dessen Stelle im März 1895 Nordahl trat.
Jeden zweiten Tag machten Scott-Hansen und sein Assistent, wenn das Wetter klar war, eine astronomische Beobachtung, durch die der Schiffsort bestimmt wurde, eine Arbeit, die alle Mitglieder der Expedition mit höchster Spannung verfolgten, und es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass die Kabine Scott-Hansens, während er rechnete, von müßigen Zuschauern belagert wurde, die wissen wollten, ob und wie weit wir seit der letzten Beobachtung nach Norden oder Süden getrieben waren. Von diesem Ergebnis hing in hohem Maße die Stimmung an Bord ab.
Zu bestimmten Zeiten nahm Scott-Hansen auch Beobachtungen zur Bestimmung der magnetischen Konstanten vor. Dies geschah anfänglich in einem Zelt, das auf dem Eis aufgeschlagen wurde; später bauten wir eine Schneehütte, die dem Zweck besser entsprach und für den Beobachter auch behaglicher war.
Für den Schiffsarzt bot sich weniger Beschäftigung. Er wartete lange und vergeblich auf Patienten, gab schließlich die Hoffnung auf und machte sich in seiner Verzweiflung an die Behandlung der Hunde. Einmal im Monat nahm er wissenschaftliche Untersuchungen vor, wog jeden Mann, zählte die Blutkörperchen und schätzte die Stärke des Blutpigments, um die Zahl der roten Blutkörperchen und die Menge des roten Farbstoffs, des Hämoglobins, im Blut eines jeden festzustellen. Diese Arbeit wurde ebenfalls, und zwar mit ängstlicher Spannung verfolgt, da jeder aus dem Ergebnis schließen zu können meinte, wie lange es noch dauerte, bis ihn der Skorbut befiel.
Von unseren wissenschaftlichen Aufgaben erwähne ich noch die Messung der Wassertemperatur und des Salzgehaltes in verschiedenen Tiefen, die Sammlung und Untersuchung der Meerestiere, die Bestimmung der Elektrizitätsmenge in der Luft, die Beobachtung der Formen, des Wachstums und der Stärke des Eises sowie der Temperatur der verschiedenen Eisschichten, die Untersuchung der Meeresströmung unter dem Eise usw. Die Oberaufsicht über diesen Bezirk hatte ich.
Endlich nenne ich die regelmäßige Beobachtung des Nordlichts, das wir ausgezeichnet studieren konnten. Als ich im März 1895 das Schiff verließ, übertrug ich Blessing alle Beobachtungen, die mir oblagen.
Einen nicht unbedeutenden Teil unserer wissenschaftlichen Arbeiten bildeten das Loten und das Fischen mit dem Scharrnetz. Bei größeren Tiefen war das eine Aufgabe, bei der jeder mithelfen musste. Eine einzige Lotung beschäftigte uns manchmal mehrere Tage.
An Bord unterschied sich ein Tag nur sehr wenig vom andern. Um acht Uhr standen wir auf und frühstückten: Hartbrot (Roggen- und Weizenbrot), Käse (holländischen achtpfündigen, Chester, Schweizerkäse und Mysost oder Molkenkäse), in Büchsen eingemachtes, gesalzenes Rind- oder Hammelfleisch, Frühstücksschinken, in Büchsen konservierte Zungen aus Chicago oder geräucherten Speck, Kabeljau-Kaviar, Anchovis-Rogen, ferner Hafermehl- oder englisches Schiffsbrot, Orangenmarmelade und anderes Fruchtgelee. Dreimal in der Woche hatten wir auch frisch gebackenes Brot und oft Kuchen.
Im Anfang der Reise gab es täglich Kaffee und Schokolade, später Kaffee nur zweimal, Tee zweimal und Schokolade dreimal wöchentlich.
Nach dem Frühstück versorgten einige Leute die Hunde, sie machten sie los und gaben ihnen Futter (für jedes Tier einen halben Stockfisch oder ein paar Hundekuchen). Die übrigen Kameraden machten sich an ihre verschiedenen Aufgaben.
Jeder musste der Reihe nach eine Woche in die Küche, um dem Koch beim Aufwaschen zu helfen, den Tisch zu decken und aufzuwarten. Gleich nach dem Frühstück entwarf der Koch den Speisezettel für das Mittagessen. Einige pflegten einen Spaziergang über die Eisschollen zu machen, frische Luft zu schöpfen und den Zustand und den Druck des Eises usw. zu untersuchen.
Um ein Uhr versammeln sich alle zum Mittagsmahl, das gewöhnlich aus drei Gängen besteht: aus Suppe, Fleisch und Nachtisch oder Suppe, Fisch und Fleisch, oder Fisch, Fleisch und Nachtisch oder manchmal auch nur aus Fisch und Fleisch. Zum Fleisch hatten wir stets Kartoffeln und entweder frisches Gemüse oder Makkaroni. Wir waren uns einig, dass die Verpflegung zu Hause nicht besser sein konnte, für einige von uns bestimmt aber schlechter gewesen ist. Wir sahen auch aus wie gemästet; einer oder zwei fingen sogar an, sich ein Doppelkinn und einen Schmerbauch zuzulegen.
Nach dem Mittagessen pflegten die Raucher unserer Gesellschaft die Küche zu bevölkern, die auch als Rauchzimmer diente, da der Tabak in den Kabinen außer bei festlichen Gelegenheiten verpönt war. In der Küche wurde geraucht und geplaudert, manche Geschichte erzählt und nicht selten auch ein hitziger Disput geführt. Für die meisten von uns folgte nach Tisch eine kurze Siesta, darauf Arbeit bis sechs Uhr.
Das Abendessen war wie das Frühstück, nur dass als Getränk stets Tee diente. Nach dem Abendessen verwandelte sich der Salon in einen stillen Lesesaal. Wir besaßen eine wertvolle Bibliothek, die Verleger und andere Freunde der Expedition geschenkt hatten. Hätten die freundlichen Geber sehen können, wie wir hier fern im Norden abends um den Tisch herum saßen, die Köpfe in den Büchern und Bildersammlungen vergraben, sie würden gleich erkannt haben, dass sie mit ihrem Geschenk wesentlich dazu beigetragen hatten, die Fram zur Oase in einer ungeheuren Eiswüste zu machen.
Acht Uhr war die Zeit, dass wir Karten oder andere Spiele hervorholten, mit denen wir, in Gruppen um den Tisch im Salon sitzend, uns bis tief in die Nacht hinein beschäftigten. Der eine oder andere musste das Harmonium bedienen und mit dem Kurbelhandgriff unsere schönsten Stücke vortragen. Manchmal holte Johansen seine Ziehharmonika herbei und spielte uns viele hübsche Weisen vor. Seine Haupteffekte erzielte er mit »O Susanna!« und »Napoleons Marsch über die Alpen in einem offenen Boot«.
Um Mitternacht, bevor wir uns in die Kojen legten, wurde noch die Nachtwache festgesetzt. Jeder hatte eine Stunde Wache. Alle zwei oder vier Stunden musste die Wache in die Tonne [den Ausguck] steigen und auf das Eis gehen, um im Thermometerhaus die meteorologischen Instrumente abzulesen.
Im Ganzen gesehen verging uns die Zeit angenehm und unmerklich, und infolge des regelmäßigen Lebens fühlten wir uns auch sehr wohl.
Am besten wird mein Tagebuch einen Begriff von unserer Lebensweise in ihrer ganzen Einförmigkeit geben. Es sind keine großen Ereignisse, die hier geschildert sind, sie liefern aber gerade durch ihre Magerkeit ein wahres Bild. So und nicht anders war unser Leben.
Dienstag, 26. September. Schönes Wetter. Die Sonne steht jetzt viel tiefer; sie befand sich um Mittag 9° über dem Horizont. Der Winter kommt schnell. Heute Abend haben wir -26 Grad, aber wir finden es nicht kalt. Leider zeigen die heutigen Beobachtungen keine große Drift nach Norden; wir sind noch auf 78° 50' N.
Gegen Abend wanderte ich auf der Eisscholle umher. Die arktische Nacht ist wunderschön. Sie ist ein Traumland, in den zartesten Tönen, die man sich denken kann, gemalt; sie ist in Äther verwandelte Farbe. Ein Schatten verschmilzt in den andern, sodass man nicht weiß, wo der eine endigt und der andere beginnt, und doch sind sie alle vorhanden. Keine Formen; alles ist schwache, träumerisch gefärbte Musik, eine weit entfernte, langgezogene Melodie auf gedämpften Saiten. Ist nicht alle Schönheit des Lebens erhaben und zart und rein wie diese Nacht? Gebt ihr glänzendere Farben, und sie ist nicht mehr so schön!
Der Himmel gleicht einer großen Kuppel, die im Scheitelpunkt blau ist und sich abwärts in Grün, dann in Lila und Violett an den Rändern abschattet. Über den Eisfeldern lagern kalte, violettblaue Schatten mit helleren, blassroten Tinten, wo hier und dort ein Grat den letzten Widerschein des entschwindenden Tages auffängt. Oben im Blau der Kuppel scheinen die Sterne, die den Frieden verkünden, wie es diese unveränderlichen Freunde stets tun. Im Süden steht ein großer, rotgelber Mond, umgeben von einem gelben Ring und leichten, goldenen Wolken, die vor dem blauen Hintergrund schweben.
Jetzt breitet das Nordlicht über das Himmelsgewölbe seinen glitzernden Silberschleier aus, der sich nun in Gelb, nun in Grün, nun in Rot verwandelt; er weitet sich und zieht sich wieder zusammen in ruheloser Veränderung, teilt sich dann in wehende, vielfaltige Bänder von blitzendem Silber, über die wellenförmig glitzernde Strahlen hinschießen; dann verschwindet die Pracht. Im nächsten Augenblick scheint sie in Flammenzungen gerade im Zenit, dann wieder schießt ein heller Strahl vom Horizont gerade empor, bis das Ganze im Mondschein fortschmilzt. Es ist, als ob man den Seufzer eines verschwindenden Geistes vernähme. Hier und dort wehen noch einige Lichtstrahlen, unbestimmt wie eine Ahnung – sie sind der Staub des glänzenden Nordlichtgewandes. Aber jetzt nimmt es wieder zu, neue Blitze schießen empor, und das endlose Spiel beginnt von vorn. Und während der ganzen Zeit diese Totenstille, eindrucksvoll wie die Symphonie der Unendlichkeit.
Ich habe nie begreifen können, dass diese Erde eines Tages vergehen und öde und leer sein soll. Wozu dann all diese Schönheit, wenn kein Geschöpf da ist, das sich daran erfreut? Zu welchem Zweck also? Was haben diese Himmelskörper zu bedeuten? Lest die Antwort, wenn ihr könnt, am sternenbedeckten, blauen Firmament!
Nansen, Fridtjof
In Nacht und Eis
3. Auflage, Wiesbaden 1980
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009