1873 - Julius Payer
Die Schrecken des Eises
Fast täglich erfuhr unser Schiff die Angriffe des Eises, und auch die Stunden des Stillstandes waren von ihren Drohungen begleitet. Mein Tagebuch verzeichnet eine lange Reihe dieser Beunruhigungen. Die Pausen selbst waren mit einem fortwährenden Flüstern, Zittern, Beben oder Krachen im Holz erfüllt, und die lange Dauer dieser Eindrücke bereitete uns ein Leben, dessen geistige Qualen den furchtbarsten Höllenschilderungen entsprochen hätten. Am 3. Jänner war es ein grauenerregendes Brüllen, das so lange währte, bis selbst das älteste Eis zersprungen war, und dessen Pressung so groß war, dass sich die Luke des großen Raumes ein bisschen verschob. Am 4. Jänner überboten sie an Furchtbarkeit alles bisher Erlebte. Morgens, als wir eben aufstanden, ertönte ein entsetzliches Krachen; dann folgten pulsierend schwächere Pressungen. In der Kajüte hörten wir ein tiefes Brüllen; das Beben glich dem eines Dampfkessels unter großer Spannung, auf Deck aber empfing uns ein pfeifendes Geheul des Eises, und zu unserem Entsetzen überzeugten wir uns von der ungeheuren Gewalt dieses Angriffs. Das Eis hatte sich zehn Schritte hinter dem Schiff in einem Augenblick zu Bergen emporgepresst, deren Höhe man nicht sah, sondern nur aus dem Rasseln der Blöcke dicht oberhalb des Schiffes vermuten konnte. Unter größter Schwierigkeit wurden die Boote in der Finsternis näher an das Schiff gebracht, 1.000 Pfund Fleisch, 200 Pfund Pemmikan, 300 Erbswürste an Steuerbord des Schiffes geschafft, die ausgesetzten Kohlen konnten dagegen konnten nur zum Teil gerettet werden. Ein aus Segeln gebildetes Zelt war verschlungen, unser bisheriges Wasserloch durch die Pressung verschoben worden. Erst nach manchem Fehlgriff fanden und durchdrangen wir eine dünnere Platte und erreichten das Wasser. Am 26. Jänner rissen uns abermals wütende Pressungen aus dem Schlaf; binnen einer halben Stunde war alles bereit, das Schiff zu verlassen, das sich vorn bereits emporhob, und ich glaube, dass es manchen gab, der bei dem furchtbaren Getöse an Deck, des Ausganges harrend, wünschte, das Schiff möchte endlich zerdrückt werden, um der endlosen Qual eines solchen Bereitschaftszustandes zu entgehen.
Ich will den Leser nicht durch die Wiederholung des täglichen Einerlei dieser Gefahren ermüden, sondern nur eine Stelle meines Tagebuches aus jener Zeit hier einschalten, um unsere Lage zu erklären:
Kaum und nur nach großer Ermüdung durch den endlich gefundenen Schlaf aller Sorgen entrückt, ächzt und prasselt das Holz des Schiffsrumpfes dicht neben dem Ohr; man erwacht und lauscht dem wilden Angriff des Eises. Noch hören wir der Wache knirschenden Schritt auf dem Eis, und solange ihr Tempo Gleichmäßigkeit verrät, ist nichts zu befürchten. Auf einmal ertönt ein hastiger Schritt auf Deck – und der Ruf: »Auf, ihr Schläfer! Zwei Bären!«
Die Bären sind erlegt, und wieder legen wir uns in den Zellen zur Ruhe. Aber noch lesen wir eine Zeit lang das Begonnene weiter, Rohlfs »Afrika«. Es sind Züge der Natur, die die Fantasie hier im Eis stärker erregen als irgendwo anders. So lesen wir von der herrlichen Allee der Brotfruchtbäume, dem ewig saftgrünen Teppich des Bahamagrases, auf dem zahme Gazellen sich tummeln, im Hintergrund die tiefblauen Lagunen von dem palmenbewachsenen … Da, in der tiefen Einsamkeit der Mitternacht, prasselt die Holzwand des Schiffes, das Eis regt sich! … Sandgürtel begrenzt, ganz in weiter Ferne die tobende Barre, jenseits im unendlichen Ozean die stolzen Dreimaster, welche ihre Ladungen … Wieder jenes unheimliche Knistern im Holze; jetzt aber kracht auch des Schiffes ungeheurer Resonanzboden, und, wie so oft schon, ruft die Wache die Meldung herab, dass alles in furchtbarer Bewegung sei. Es ist ein ewiges: »Macht fort! Eures Lebens Ziel ist da!« Und wieder wie so oft vor- und nachher, springen alle aus dem Bett, kleiden rasch sich an, ergreifen den stets gefüllten Rettungssack, laden das Gewehr und stehen in der Finsternis auf Deck. Nur dem Gehör offenbart sich die Sprache ihrer Schrecken, wie sinnlose Ungeheuer bekämpfen sich die Elemente. Will man den Verlauf einer nächtlichen Pressung verfolgen, so muss man, da eine Laterne nichts erleuchtet, entweder mit dem inneren Auge schauen oder sich das periodische Licht des Mondes vergegenwärtigen. Im Herbst, als die Eisfelder erst halb so mächtig waren, noch nicht so dicht und klingend hart, damals war ihre wechselseitige Zerstörung von tiefen Tönen begleitet, aber mit der Kälte hat ihr Wutgeheul (der Lärm bei einer Eispressung kann durch kein anderes Wort besser bezeichnet werden) zugenommen. Ein Kochen und Brüllen im Eis hatte die Besatzung an Deck gerufen. Näher gekommen war die brausende Bewegung. Dort, unfern dem Schiff, erhebt sich eine düstere Schneewand über den Horizont; ihre Bewegungen zucken auf unserer Scholle nach; wie vor einem Erdbeben aus sorglosem Schlaf erweckend, künden sie die unmittelbare Nähe der Gefahr an.
Immer näher kommt das Klingen und Rauschen, wie wenn Tausende von Sichelwagen dahinrasen über die Sandflur eines Schlachtfeldes. Stets wächst die Stärke des Drucks; schon beginnt das Eis dicht unter uns zu beben, in allen Tonarten zu klagen, zuerst wie das Schwirren unzähliger Pfeile, dann kreischend, tosend, mit den höchsten und tiefsten Stimmen zugleich, immer wieder brüllend erhebt es sich, sprengt in konzentrischen Sprüngen des Schiffes Umkreis, rollt die zerbrochenen Glieder der Schollen auf. Ein furchtbar kurzer Rhythmus des stoßweisen Geheuls verkündet die höchste Spannung der Gewalt, ängstlich lauscht das Ohr dieser wohlbekannten Bewegung. Dann folgt ein Krach, mehrere schwarze Linien irren ohne Wahl über den Schnee. Es sind neue Sprünge in unmittelbarer Nähe, die im nächsten Moment als Abgründe auseinanderklaffen. Dröhnend rücken und stürzen die erhobenen Gerüste zusammen, gleich einer einfallenden Stadt; dann flüstern sie noch in abgebrochenen Pausen, endlich scheint die Ruhe hergestellt. Doch heute war dies nur der Anfang, und wiederholt mit neuer, immer größerer Kraft beginnt furchtbarer noch ein zweiter, dritter, vierter Angriff. Zwar ist die schützende Eisdecke um das Schiff schon zerstört; aber noch umgeben es keine Berge. Wieder erhebt sich das Eis. Neue Massen brechen am Umfang unserer kleinen Scholle ab; steil schwingen sich die Tafeln aus dem Meere, ein unermesslicher Druck wölbt sie bogenförmig auf, ja in Blasen steigen die Felder empor, ein grausiger Hinweis auf die Elastizität des Eises. Überall ringen die kristallenen Scharen, zwischen ihren Gliedern flutet der Wasserschwall in die hinabgepressten Kessel; die Eisklippen zerbrechen im Einsturz, und Schneeströme fließen von den berstenden Hängen nieder. Vergeblich setzen sie ihre Kraft dem andrängenden Tross der noch ungebrochenen Tafeln entgegen! Wo ist da der Tod? Alles lebt! Dort liegt ein mehrere Winter alter Schollenveteran. Ein Riese in diesem Kampf, zermalmt er durch seine furchtbaren Rotationen die schwächeren Nachbarn. Aber mit allen anderen unterliegt er selbst wieder dem gewaltigen Eisberg, dem Leviathan der Eisgeschöpfe. Denn unbeirrt von dem tosenden Chaos bohrt dieser seine Bahn durch die Phalanx zappelnder Pygmäen, alles zersplitternd, was ihm zu trotzen wagt mit erbärmlichen Schilden, furchtbar nur dem Menschen. Wehe dem Schiff, dem er begegnet! Spaltend, brechend zieht der dahin; Wälle hoch aufgeschichteten Eises drängt er häufend vor sich her, gleich brandendem Schaum; ein Strom zermalmten Eises umfließt seinen Leib, und wie Rauch gegen gen Himmel trägt ihn der Wind.
Und in diesem Wirrsal ein Schiff! Es windet, neigt und hebt sich; entsetzlich aber ist der Ausdruck der Pressung, wenn sie die Abhalter, fußdicke Eichenstämme, platt quetscht, das Schiff selbst zu prasseln beginnt. Und die Menschen auf ihm, bei 25 °C unter Null, hunderte Meilen fern von jedem Freunde und Befreier! Die Menschen, sie arbeiten längst nicht mehr, nur im Geiste ringen sie um ihr Leben. Nicht mehr nähen sie das Eis mit Tauen zusammen; nur anfangs rennen sie etwas durcheinander, irren mit Lampen zu den Sprüngen, bis das rings berstende Eis das Schiff selbst zu würgen beginnt. Des einen Sorge, des anderen düstere Fassung auf dem Angesicht, beides verbirgt die Nacht. Unhörbar verhallen Worte, nur Schreie sind noch verständlich. Boote, Schlitten, Zelte, Proviant, Waffen, alles ist bereit, wenn das Schiff birst. Bereit für eine Rettung hinaus in das Reich der Zermalmung? Nein, jedermann denkt, niemand glaubt daran, aber niemand leugnet laut die Möglichkeit. Mit Bewunderung und Grauen über den Widerstand, den ein geringes Menschwerk leistet, wird das Beben des Schiffes gefühlt – in beständiger Erwartung, dass es platze. Wohin aber soll das Schiff noch steigen? Schon steht es auf einem Berge; wird es nicht kentern?
Wieder wechselt das Bild, der Kampf schweigt; alles atmet auf, wie verändert, fremdartig starrt uns jetzt alles an. Wenige Minuten haben hingereicht, aus einer Ebene ein Gewirr von Gebirgsketten zu schaffen, die überallhin wilde Klippen dehnen. Dahin sind die ebenen Schneeplanen von gestern, die abgerundeten Wälle, die schneeüberschütteten Hügel mit ihrer ineinanderfließenden Ausgleichstendenz, der Winde mühsames Werk. Mit Trümmern übersät ist die Stätte, und in ragenden Reihen liegen die Gefallenen, denn wie in der Mongolenschlacht war kein Platz da zum Hinsinken. Überall klaffen frische Bruchflächen blaugrünen Eises, Abgründe gähnen dazwischen, aus denen das düstere Meer hervorschaut. Ausgetobt hat das ergreifende Ringen; unheimliche Ruhe folgt, denn jeder Augenblick kann der Kampf neu entflammen. Nur da oder dort ächzt oder zuckt noch ein Wall, knistert eine Mauer, rasselt es zusammen; ferner Eisberge beständigen Kampf trägt der Schall herüber. Oder es stürzt ein Turm ein, der emporgepresst lag auf den Rändern zweier Schollen, die nun auseinander treiben. Allmählich wird es stiller, wiedergefunden scheint das Gleichgewicht in dem öden Reich des Eises. Neue Kanäle und Seen zeigen sich, zahllos ragen Kristallwände, Pyramiden kühn in die Luft, majestätisch rauschen sie dahin, neuer Kampf in der Ferne folgt ihrem Drängen. Nur das Schiff geben sie nicht wieder frei. Wenn dann des Mondes silberne Strahlen, von Wolkenschatten gefolgt, dahinirren und einen blitzenden Flor ausbreiten über die Wüste – was ist dies anderes als betörende Verheißung eines erlogenen Friedens?
Payer, Julius
Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1972-1974
Wien 1876; Faksimiledruck 1983
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hrg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009