1741 - Georg Wilhelm Steller
Berings Expedition strandet
Beringinsel, Beringmeer
Als wir nun am Abend gegen vier Uhr dem Land sehr nahe waren, ging ich zum Kapitän-Kommandeur [Bering] und bat, er möge doch befehlen, dass wenigstens ein Offizier Wache hielte, weil es schien, dass man aufs Land getrieben würde, wenn man nicht Vorsorge träfe. Seit drei Stunden hatte sich kein Offizier mehr an Deck sehen lassen, wie es in gefährlichen Momenten sonst üblich war, alle schliefen sanft und süß. Zwei Offiziere wurden also gerufen, sie unternahmen aber nichts weiter, als dass sie befahlen, auf das Land zuzuhalten. Als wir bei Sonnenuntergang dem Ufer bis auf zwei Kilometer nahe gekommen waren, fing man an, das Lot zu werfen, und näherte sich noch um ein Kilometer; dann ließ man endlich bei 16 Meter [Wassertiefe] den Anker fallen. Nun war es schon Nacht, aber es gab hellen Mondschein, und nach einer halben Stunde begann ein heftiger Schwall oder Burun, der das Fahrzeug wie einen Ball hin und her warf, auf den Grund stoßen wollte und das Ankertau zerriss. Die Unordnung wurde durch das beständige Überschlagen der Wellen, Rufen und Klagen so viel größer, dass man nicht mehr wusste, wer kommandieren und wer kommandiert werden sollte. Alles, was die erschrockenen und von Todesangst ergriffenen Befehlshaber taten, war, zu rufen, man solle das andere Ankertau kappen und einen neuen in den Burun werfen. Nachdem man so in wenigen Minuten zwei Anker verloren hatte, kam endlich der neu ernannte Herr Leutnant Offzin mit dem Bootsmann, und sie verboten, Anker zu werfen, weil das vergebens sei, so lange man von der Brandung hin und her geworfen würde. Sie rieten, das Fahrzeug treiben zu lassen. Als wir nun hinter den Untiefen in ruhiges Wasser gekommen waren, ließen diese Leute, die einzigen, die noch bei Vernunft waren, den letzten Anker fallen, da wir zwischen dem Burun und dem Land auf einmal wie auf einem stillen See ruhig lagen und keine Furcht mehr hatten zu stranden. Die weisen Reden, die während der höchsten Todesgefahr geführt wurden und über die man selbst in der Not das Lachen nicht unterdrücken kann, waren zum Beispiel, dass einer fragte, ob das Wasser sehr salzig sei – als ob der Tod im süßen Wasser leichter wäre. Ein anderer rief zur Aufmunterung der bestürzten Leute: »Ach Gott, wir sind alle hin! Ach Gott, unserem Fahrzeug ist ein Unglück widerfahren!« Und nun offenbarte Gott die Stimmung der Herzen, die sonst vor Courage bersten wollten. Der vorher größte Redner und Ratgeber hielt sich so lange versteckt, bis andere mit Gottes Hilfe Rat gefunden hatten; dann fing er an, den Leuten weidlich Mut zuzusprechen, obwohl er selbst vor Angst so bleich wie eine Leiche war. Mitten in dem Getümmel trug sich noch ein lächerlicher Streich zu: Wir hatten schon seit Tagen den verstorbenen Trompeter und einen toten Soldaten mit uns geführt, um sie an Land zu beerdigen; nun wurden sie ohne alle Zeremonien Hals über Kopf in die See geworfen, weil einige abergläubische Leute zu Beginn des Schreckens die toten Körper als dessen Ursache angesehen hatten.
Die Nacht war übrigens sehr angenehm und hell. Am 7. November hatten wir hatten wir auch einen sehr angenehmen Tag mit Nordostwind. Ich war an diesem Morgen mit Einpacken meiner Bagage beschäftigt, so viel ich davon erreichen konnte. Und weil ich sicher war, dass unser Fahrzeug sich nicht länger als bis zum ersten harten Sturm würde halten können, weil es dann entweder in die See getrieben würde oder an Land zerschellen müsste, so begab ich mich mit Herrn Plenisner [Zeichner der Expedition], meinem Kosaken und einigen Kranken als Erster an Land.
Wir waren noch nicht am Ufer, als uns schon eine fremde und bedenkliche Sache aufstieß, weil uns verschiedene Seeotter vom Land in die See entgegenkamen, die wir anfangs aus der Ferne für Bären oder für Vielfraße gehalten hatten, die wir aber leider nur allzu gut kennenlernen sollten.
Sobald wir uns an Land befanden, ging Herr Plenisner mit der Flinte schießen, ich aber kundschaftete die natürliche Beschaffenheit der Gegend aus und kam, nachdem ich Verschiedenes beobachtet, gegen Abend zu den Kranken zurück, wo ich den Leutnant Waxel sehr schwach und matt antraf. Wir erholten uns bei Tee. Unter anderem äußerte ich: »Gott weiß, ob dies Kamtschatka ist!« Ich erhielt aber die Antwort, was es sonst sein sollte? Wir würden bald nach Pferden schicken, das Fahrzeug aber würde man durch Kosaken nach der Mündung des Kamtschatkaflusses bringen lassen. Anker wären leicht zu haben, das Wichtigste sei, die Leute zu bergen. Dann kam auch Herr Plenisner zurück, erzählte, was er gesehen hatte, und brachte ein halbes Dutzend Sumpfhühner, die er mit dem Herrn Leutnant aufs Fahrzeug an den Kapitän-Kommandeur schickte, um ihn durch frische Speise zu erquicken. Ich aber schickte ihm einige frische Kräuter für Salat.
Dann kamen noch zwei Kosaken und ein Kanonier, die zwei Seeotter und zwei Seehunde erschlagen hatten, was uns ganz ungewöhnlich vorkam. Als wir sie tadelten, weil sie das Fleisch nicht zu unserer Erfrischung mitgebracht hatten, holten sie einen Seehund, der ihnen als besseres Essen erschien als ein Otter.
Als es Abend wurde, kochte ich eine Suppe aus ein paar Sumpfhühnern und verzehrte dies Gericht mit Herrn Plenisner, dem jungen Waxel und meinem Kosaken. Herr Plenisner baute unterdessen eine Hütte aus angetriebenem Holz und einem alten Segel, unter dem wir in der Nacht mit den Kranken schliefen.
Am 8. November war es abermals eine angenehme Witterung. Herr Plenisner verabredete an diesem Morgen mit mir, dass er Vögel schießen und ich andere als Nahrung geeignete Sachen suchen sollte, und gegen Mittag wollten wir uns wieder hier treffen. Ich ging zunächst mit meinen Kameraden nach Osten am Ufer entlang, sammelte verschiedene Naturalien, jagte auch nach einem Seeotter; mein Kosak hingegen schoss acht blaue Steinfüchse, über denen Häufigkeit und Größe, auch dass sie gar nicht wild waren, ich mich ungemein verwunderte. Und weil ich zugleich die vielen Seekühe am Ufer im Wasser sah, die mir noch nie zu Gesicht gekommen waren. [Die Stellerschen Seekühe sind inzwischen ausgestorben.] Auch jetzt konnten sie nicht gut erkannt werden, da sie beständig zur Hälfte im Wasser lagen; mein Kosak versicherte mir, dass sie nirgends in Kamtschatka bekannt seien, und da nirgends Baum- oder Strauchwerk zu sehen war, so fing ich an zu zweifeln, dass dies Kamtschatka sei, zumal die Seewolken im Süden zur Genüge zeigten, dass wir uns auf einer von der See umgebenen Insel befanden.
Gegen Mittag kam ich zu unserer Hütte zurück und entschloss mich, nach der Mittagsmahlzeit mit Herrn Plenisner und unserem Kosaken längs des Ufers westwärts zu gehen, um uns nach Wald oder Gehölz umzusehen. Wir fanden aber nicht das Geringste, sahen hingegen einige Seeotter und töteten verschiedene Steinfüchse und Sumpfhühner. Auf dem Heimweg setzten wir uns an einem Flüsschen nieder, erfrischten uns mit Tee und dankten Gott herzlich, dass wir wieder gutes Wasser und festen Boden unter den Füßen hatten. Dabei dachten wir daran zurück, wie es uns so wunderlich ergangen war und wie verschiedene Leute sich unrecht verhalten hatten.
An diesem Tag versuchte man das Schiff durch Ausbringen der Anker, so viele man deren große und kleine hatte, bestmöglichst an Land festzumachen, weshalb das Boot nicht landete. Als wir abends nach der Mahlzeit bei einem Nachtfeuer saßen, kam ein Steinfuchs und nahm vor unseren Augen zwei Sumpfhühner weg. Das war die erste Probe von vielen kunstreichen Possen und Diebereien, die diese Tiere an uns verübten.
Ich musste meinem kranken und matten Kosaken, der mich als die Ursache seines Unglücks ansah und mir meine Neugier, die mich in diese Not gebracht hatte, vorwarf, Mut einreden und machte den Anfang zu einer künftigen Kameradschaft. »Sei guten Mutes«, sagte ich, »Gott wird helfen, wenn dieses auch nicht unser Land ist, so haben wir doch Hoffnung, dorthin zu kommen. Du wirst nicht verhungern; kannst Du nicht arbeiten und aufwarten, so will ich es für Dich tun. Ich kenne Dein redliches Gemüt und Deine Verdienste mir gegenüber. Alles, was ich habe, gehört auch Dir. Fordere nur, ich werde alles mit Dir zur Hälfte teilen, bis Gott helfen wird.« Er aber sagte: »Gut genug, ich will Ihren Majestäten gern dienen. Aber Du hast mich in dieses Elend gebracht, wer hat Dich gezwungen, mit diesen Leuten zu gehen? Hättest Du nicht die guten Tage am Bolschaja Reka [Fluss auf Kamtschatka] genießen können?« Ich lachte herzlich über seine Aufrichtigkeit und sagte: »Gottlob, wir leben alle beide. Habe ich Dich in das Elend mitgeschleppt, so wirst Du auch, wenn Gott hilft, einen beständigen Freund und Wohltäter an mir haben. Meine Absicht war gut, Thomas, so lass auch Deine gut sein. Du weißt ja nicht, was Dir zu Hause hätte begegnen können.«
Indessen war ich darauf bedacht, wie man sich durch Erbauen einer Hütte gegen den Winter schützen könnte für den Fall, dass wir uns nicht auf Kamtschatka, sondern auf einer Insel befänden. Daher fing ich an diesem Abend an, mit Herrn Plenisner zu bereden, dass wir auf jeden Fall eine Hütte bauen und, wie die Umstände sich auch entwickelten, mit Rat und Tat einander als gute Freunde beistehen wollten. Obwohl er nun meine Meinung, dass dies eine Insel sei, zum Schein nicht teilte, um mich nicht niedergeschlagen zu machen, so stimmte er doch meinem Vorschlag wegen der Hütte zu.
Am 9. November kam der Wind von Osten und die Witterung war ziemlich erträglich. Wir gingen morgens los, um einen Platz auszusuchen und Holz zusammenzutragen, und wählten den Ort, an dem wir dann auch gebaut haben und auch das ganze Kommando seine Hütten aufgeschlagen und überwintert hat. Wir beschäftigten uns aber sehr damit, Füchse zu schlagen; Herr Plenisner und ich haben an dem Tag sechzig Stück teils mit der Axt erschlagen, teil mit einer jakutischen Pama erstochen. Gegen Abend kamen wir wieder zu unserer alten Hütte; dorthin hatte man wieder einige Kranke an Land gebracht.
Am 10. November war der Wind östlich, die Witterung vormittags klar, nachmittags trübe, und in der Nacht jagte der Wind viel Schnee daher. Wir trugen all unsere Bagage auf die von hier einen Kilometer entfernte Stelle, die wir tags zuvor ausgewählt hatten. Währenddessen wurden wieder einige Kranke an Land gebracht, worunter sich auch der Herr Kapitän-Kommandeur befand, der sich diesen Abend und die Nacht in einem Zelt aufhielt. Ich war mit anderen bei ihm und wunderte mich über seine Gelassenheit und sonderbare Zufriedenheit. Er fragte mich, was ich von diesem Lande hielte? Ich erwiderte, es komme mir nicht wie Kamtschatka vor, da allein die Menge und zahme Sicherheit der Tiere klar zu verstehen gäben, dass es ein wenig oder gar nicht bewohntes Land sein müsse. Dennoch aber könne es nicht weit von Kamtschatka sein, da die beobachteten Pflanzen sich in eben der Zahl, Ordnung und Größe hier befänden wie in Kamtschatka, die in Amerika entdeckten Pflanzen aber nicht anzutreffen seien. Überdies hätte ich einen Fensterladen mit Querleisten von Pappelholz gefunden, den vor einigen Jahren Hochwasser an diesen Ort gebracht und in den Sand gespült habe, wo wir unsere Hütten erbaut hätten. Ich zeigte ihn und erinnerte dabei daran, das dies unstrittig russische Arbeit und vermutlich von den Ambaren an der Mündung des Kamtschatkaflusses sei. Der wahrscheinlichste Ort, für den man das Land halten könne, sei Kronokoi Nos [ein Kap 200 Kilometer nördlich von Petropawlowsk]; dennoch aber unterließ ich nicht, meine Zweifel daran durch einen Fund zu zeigen. Ich zeigte nämlich ein Stück von einer Fuchsfalle, die ich am ersten Tag am Ufer gefunden hatte, woran die Zähne statt aus Eisen sogenannte Entalien [eine Muschelart] waren, von deren Gegenwart auf Kamtschatka ich nichts wusste, so dass zu vermuten war, dass die See sie von Amerika hergespült haben musste. Dort konnte man sich in Ermangelung von Eisen gar wohl dieser Erfindung bedient haben, aber auf Kamtschatka, wo es durch Handel genug Eisen gibt, wäre sie überflüssig. Ich erwähnte auch die unbekannten Seetiere, die Seekühe, und die Beschaffenheit der Seewolken im Süden. Darauf erhielt ich zur Antwort, dass das Fahrzeug wohl nicht gerettet werden könne, aber Gott unser Langboot erhalten möge.
Nachdem wir gegen Abend mit dem Herrn Kommandeur die Sumpfhühner verzehrt hatten, die Herr Plenisner am Tag geschossen hatte, redete ich mit dem Unterwundarzt Berge, dass er bei uns bleiben könne, wenn es ihm beliebte; dafür bedankte er sich, und so war unsere Gesellschaft nun vier Mann stark. Wir gingen zu unserer neuen Wohnstelle, saßen beim Nachtfeuer und plauderten bei einer Tasse Tee, wie wir unser Vorhaben ins Werk setzen wollten. Ich baute eine kleine Hütte, die ich mit meinen beiden Mantelröcken und einer alten Decke bedeckte; die Luftlöcher an den Seiten wurden mit toten Füchsen belegt, die wir während des Tages erlegt und haufenweise liegen hatten. Und so begaben wir uns zur Ruhe, Herr Berge aber ging zum Herrn Kapitän-Kommandeur zurück.
Gegen Mitternacht entstand ein heftiger Wind, der viel Schnee mit sich führte, unser Dach abriss und uns alle drei vom Lager jagte. Wir liefen in der Nacht überall am Strand umher, sammelten Treibholz, brachten es zu einer Grube, die wie ein Grab für zwei Personen ausgehöhlt war, und beschlossen, hier zu übernachten. Wir legten Querhölzer darüber, bedeckten das Dach mit unseren Kleidern, Mänteln und Decken, machten ein Feuer, um uns zu wärmen, und legten uns wieder schlafen; brachten also auch diese Nacht, Gott sei Dank, sehr wohl hin.
Am anderen Tag, dem 11. November, ging ich ans Ufer und schleppte einen Seehund herbei, dessen Speck ich mit Erbsen kochte und mit meinen drei Kameraden verzehrte, die indessen zwei Schaufeln verfertigten und anfingen, unser Grab zu erweitern. Nachmittags wurde der Herr Kapitän-Kommandeur auf Stangen zu uns getragen, und er ließ auf dem Platz, den wir zur Wohnung ausersehen hatten, ein Zelt aus einem Segel aufschlagen. Wir bewirteten sowohl ihn wie die anderen Herren Offiziere, die sich in unser Grab begeben hatten, mit Tee. Gegen Abend begaben sich beide Offiziere wieder auf das Schiff. Ja, der Meister Chytrew schlug dem Leutnant Waxel vor, auf dem Fahrzeug in der offenen See zu überwintern, da man nach seiner Meinung so mehr Wärme und Bequemlichkeit als zu Lande haben könnte, wo man wegen mangelnden Holzes den Winter unter einem Zelt würde aushalten müssen. Dieser Vorschlag wurde als sehr vernünftig angenommen, obgleich der Herr Meister drei Tage später von selbst an Land kam und durch keinen Befehl mehr auf das Schiff zu bringen war, als er es auf den Strand setzen sollte. Wir erweiterten durch Graben unsere Wohnung in der Erde und schleppten für deren Dach und inwendige Auskleidung von überall Holz am Ufer zusammen. Am Abend setzten wir ein leichtes Dach auf und bekamen an dem Unterkonstabel Roselius den fünften Mann in unsere Gesellschaft. So fingen auch einige andere Leute, die noch bei Kräften waren, an, sich ein viereckiges Grab in den gefrorenen Sand zu graben, und bedeckten es am folgenden Tag mit Segeln, um die Kranken darunter zu bergen.
Am 12. November arbeiteten wir mit größtem Fleiß an unserer Wohnung, sahen auch, dass andere, unserem Beispiel folgend, sich eine dritte Wohnung auf eben die Art ausgruben, die nach dem Bootsmann Alexei Iwanow ihren Namen erhielt, da er damit angefangen hatte. Heute brachte man viele Kranke vom Fahrzeug, von denen einige starben, sobald sie an die Luft gekommen waren, wie der Kanonier, andere im Boot bei der Überfahrt, wie der Soldat Sabin Stepanow, und einige, wie der Matrose Sylvester, gleich am Ufer wegstarben. Man sah an Land allerorten nichts als betrübte und schreckensvolle Anblicke. Die Toten wurden, ehe man sie noch begraben konnte, von den Füchsen verstümmelt, die sich sogar nicht scheuten, sich über die lebendigen und hilflosen Kranken, die ohne Bedeckung am Strand herumlagen, herzumachen und sie nach Hundeart zu beriechen. Von den Kranken schrie der eine vor Kälte, der andere vor Hunger und Durst, weil viele vom Skorbut so erbärmlich im Munde zugerichtete waren, dass sie wegen großer Schmerzen nichts mehr genießen konnten, da das Zahnfleisch, wie ein Schwamm braunschwarz aufgeschwollen, über die Zähne emporgewachsen war und diese bedeckte.
Die Steinfüchse, die sich nun in unzähligen Scharen bei uns eingefunden hatten, wurden durch den Anblick der Menschen wider die Gewohnheit und Natur immer zahmer, frevelhafter und so boshaft, dass sie alles Gepäck auseinanderschleppten, die ledernen Sohlen zerfraßen, den Proviant zerstreuten, dem einen die Stiefel, dem anderen Strümpfe, Beinkleider, Handschuhe, Röcke und so weiter, was alles unter freiem Himmel lag und wegen des Mangels an gesunden Leuten nicht bewahrt werden konnte, stahlen und wegschleppten. Sogar eiserne und andere Gerätschaften, die ihnen zur Nahrung nicht dienen konnten, blieben dennoch nicht unberochen und ungestohlen. Ja, es schien, dass diese schlimmen Tiere uns künftig immer mehr und mehr plagen und züchtigen würden, wie es auch der Fall war; vielleicht, um uns für den Hang zu den beliebten kamtschatkischen Fuchsbälgen wie die Philister auch mit Füchsen zu strafen. Es schien sogar, dass, je mehr wir erschlugen oder aus Rache vor den Augen der übrigen auf das grausamste marterten, so halb geschunden, ohne Augen, Ohren, Schwanz, halb gebraten und so weiter laufen ließen, desto boshafter und verwegener wurden die übrigen; so dass sie auch in unsere Wohnungen eindrangen und alles, was sie erwischen konnten, davonschleppten, uns aber bisweilen mit ihren lustigen und possierlichen Affenpossen bei allem Elend zum Lachen brachten.
Am Nachmittag des 14. November ging ich mit den Herren Plenisner und Berge zum ersten Mal auf die Jagd oder, wie solches bei uns auf sibirisch genannt wurde, auf den Promysl. Wir schlugen vier Seeotter, wovon wir die Hälfte in einen Bach warfen, der davon den Namen Seeotterflüsschen bekam, so wie das Feld, wo wir sie schlugen, Seeotterfeld genannt wurde. Das beste Fleisch aber samt Fellen und Eingeweiden trugen wir nach Haus, wo wir erst in der Nacht ankamen. Wir machten uns aus Leber, Nieren, Herz und dem Fleisch dieser Tiere verschiedene wohlschmeckende Gerichte und verzehrten diese dankbar und mit dem Wunsch, dass uns die Vorsehung diese Nahrung künftig nicht entziehen möge und dass es nicht nötig werden würde, die stinkenden, unflätigen und verhassten Steinfüchse zu essen, die war aber doch aus Vorsicht nicht alle schlagen, sondern nur erschrecken wollten. Die teuren Felle der Seeotter sahen wir nun schon als eine Last an, die ihren Preis bei uns verloren hatte, und weil wir keine Muße hatten, sie zu trocknen und zu behandeln, wurden sie weggeworfen, bis endlich viele verdarben und von den Füchsen zerfressen wurden. Dagegen fingen wir jetzt an, solche Dinge für wertvoll zu halten, die wir zuvor wenig oder gar nicht beachtet hatten, wie Äxte, Messer, Pfriemen, Nadeln, Zwirn, Draht, Schuhe, Hemden, Strümpfe, Stangen, Stricke und dergleichen Dinge, die so mancher von uns zuvor nicht in die Hände nehmen wollte. Wir sahen alle ein, dass Rang, Wissenschaft und andere Verdienste hier keinen Vorzug begründen noch für unseren Lebensunterhalt dienlich sein würden. Ehe also Schande und Not uns dazu zwingen würden, entschlossen wir uns, selbst nach Kräften zu arbeiten, um nachher nicht ausgelacht zu werden, und ohne auf einen Befehl zu warten. So führten wir auch unter uns Fünfen eine Gütergemeinschaft in Hinsicht auf die Viktualien ein, die noch übrig waren, und richteten auch das Wirtschaften so ein, dass am Ende nichts fehlen möchte. Die übrigen drei Kosaken unserer Gesellschaft und die später angenommenen zwei Diener des Kapitän-Kommandeurs hielten wir dahin an, dass sie parieren mussten, wenn wir etwas gemeinschaftlich beschlossen, da sie allen Hausrat von uns bekamen. Unterdessen fing man doch an, jeden etwas höflicher bei seinem Namen und Vornamen zu nennen, um die Leute so zu gewinnen und sich bei künftigen Unfällen mehr auf ihre Treue verlassen zu können. Und da sahen wir bald, dass Peter Maximowitsch sehr viel dienstfertiger war als vorher Petrucha [als unhöflich geltende Verkleinerungsform].
Ich brachte heute dem Herrn Kapitän-Kommandeur einen jungen, noch an der Mutter saugenden Seeotter und empfahl ihm, sich diesen in Ermangelung anderer frischer Speise zubereiten zu lassen. Aber er bezeugte großen Abscheu dagegen und wunderte sich über meinen Geschmack, der sich nach den Umständen richtete, er meinte, so lange es ginge, würde er sich lieber mit Sumpfhühnern erfrischen, deren er mehr aus unserer Gesellschaft bekam, als er verzehren konnte.
Am 13. November fuhren wir mit dem Bau der Wohnungen fort und teilten uns in drei Parteien. Die erste ging zur Arbeit auf das Schiff, um die Kranken und den Proviant an Land zu bringen; die anderen schleppten große Balken vier Kilometer weit von dem von uns »Holzbach« genannten Wasser nach Hause; ich aber und ein kranker Kanonier blieben zu Hause, und zwar versah ich die Küche, der andere aber verfertigte einen Schlitten, um Holz und andere Notwendigkeiten damit zu schleppen. Da ich nun das Kochamt auf mich nahm, bekam ich noch eine doppelte Nebenfunktion, nämlich den Herrn Kapitän-Kommandeur dann und wann zu besuchen und ihm in einem oder anderen zur Hand zu gehen, da er jetzt nur noch wenige Dienste von seinen beiden Dienern erwarten konnte. Dann wurde es mir auch zur Pflicht, einigen Schwachen und Kranken beizuspringen, weil wir die ersten waren, die eine Ökonomie eingerichtet hatten. Ich brachte ihnen warme Suppen; damit fuhren wir fort, bis sie sich etwas erholt hatten und im Stande waren, sich selbst zu helfen.
An diesem Tag wurden auch die Lager zu Stande gebracht, in denen nachmittags viele Kranke zusammengetragen wurden, die aber wegen der Enge des Raums überall auf der Erde, mit Lumpen und Kleidern bedeckt, herumlagen. Niemand konnte den anderen pflegen, und man hörte nichts als Jammern und Klagen, wobei die Leute unzählige Male Gottes Gericht über die Urheber ihres Unglücks zur Rache anriefen. Und gewiss war dieser Anblick so kläglich, dass auch dem Beherztesten darüber der Mut hätte sinken müssen.
Am 15. November wurden endlich die letzten Kranken an Land gebracht. Wir nahmen davon einen, Boris Sand, zur Verpflegung in unsere Wohnung, dem Gott auch binnen dreier Monate zur Genesung verhalf. Der Meister Chytrew ersuchte uns flehentlich und um Gottes Willen, dass wir ihn in unsere Gesellschaft aufnehmen und ihm einen Winkel anweisen möchten, weil er bei den Gemeinen unmöglich länger bleiben mochte, die ihm Tag und Nacht Vorwürfe machten und Drohungen hören ließen wegen vergangener Dinge. Aber da unsere Wohnung schon gefüllt war und keiner ohne des anderen Vorwissen etwas unternehmen durfte, stellten sich alle, weil alle gleich von ihm beleidigt worden waren, dagegen und schlugen es ihm rund ab, zumal er mehr vor Faulheit krank und der Haupturheber unseres Unglücks war.
In den folgenden Tagen wurden Elend und Arbeit immer größer. Herr Leutnant Waxel wurde endlich auch an Land gebracht; er war vom Skorbut so übel zugerichtet, dass wir alle Hoffnung für sein Leben aufgaben, es aber nicht unterließen, ihm mit aller ökonomischen und medizinischen Hilfe beizuspringen, ohne an die vorherige Begegnung zu denken. Uns allen war an seiner Genesung umso mehr gelegen, als zu befürchten war, dass, wenn nach seinem Ableben das Oberkommando an Chytrew käme, der allgemeine Hass alle Subordination aufheben und die zu unserer Erlösung notwendigen Arbeiten verzögern oder gar verhindern würde. Wir hielten auch unsere Leute an, für ihn und einige andere Kranke eine besondere Hütte zu erbauen, bis zu deren Errichtung er im Lager aushalten musste.
In diesen Tagen erhielt man auch die Nachricht, die jeden noch niedergeschlagener machte, dass unsere Kundschafter im Westen kein Anzeichen für eine Landverbindung mit Kamtschatka, ja auch nicht die Spur menschlicher Bewohner gefunden hatten. Überdies standen wir jeden Tag in der Furcht, dass bei den ständigen Stürmen unser Fahrzeug in die See getrieben und damit aller Proviant und alle Hoffnung auf Erlösung auf einmal verloren gehen würde. Wegen der hohen Wellen konnte man oft mehrere Tage lang nicht an das Schiff kommen, um so viele Vorräte wie möglich zu landen. Zudem wurden auch noch zehn bis zwölf Mann, die bisher immer über ihr Vermögen gearbeitet und bis zum Ende des Monats oft bis unter die Arme im kalten Seewasser gestanden hatten, nun ebenfalls krank. Überhaupt waren Mangel, Blöße, Frost, Nässe, Ohnmacht, Krankheit, Ungeduld und Verzweiflung tägliche Gäste.
Als endlich durch gutes Glück bei einem Sturm zu Ende November das Schiff auf den Strand gesetzt wurde, besser, als es durch menschlichen Fleiß hätte geschehen können, vergrößerte sich die Hoffnung auf Erhaltung der wenn auch wenigen Lebensmittel und Materialien. Da nun die Arbeit, durch die See zum Schiff zu waten, aufgehört hatte, sah man nach einigen Tagen von der Arbeit fürs erste ab und erholte sich. Nur die nötigen Hausarbeiten wurden fortgesetzt. Auch wurden nochmals drei Personen abgeschickt, die ostwärts über Land ziehen und Erkundigungen einholen sollten, denn noch hatte man nicht alle Hoffnung aufgegeben, dass dies Kamtschatka und vielleicht, da man sich in der breite versehen haben konnte, dies die Gegen um Olutora [800 Kilometer nördlich von Petropawlowsk] sein könnte, was die dort ebenfalls häufig vorkommenden Steinfüchse wahrscheinlich zu machen schienen. Andere glaubten, dies sei Kronozkoi Nos, und obgleich der Irrtum leicht einzusehen war, so wiegte man sich doch mit solchen Hoffnungen gern in angenehme Träume.
An Land verstarben gleich zu Anfang verschiedene Personen. Insbesondere bedauerten wir darunter den alten und erfahrenen Steuermann Andreas Hasselberg, der über fünfzig Jahre zur See gedient hatte und auch mit einem Alter von siebzig Jahren seinen Dienst immer so versehen hatte, dass er den Ruhm eines vorzüglich nützlichen Mannes mit ins Grab nahm, dessen missachteter Rat uns vielleicht früher gerettet hätte. Außer ihm starben zwei Grenadiere, ein Kanonier, des Meisters Diener, ein Matrose, und am 8. Dezember schließlich verblich der Herr Kapitän-Kommandeur, von dem nachmals dieses Eiland seinen Namen erhalten hat.
Steller, Georg Wilhelm’
Reise von Kamtschatka nach Amerika
St. Petersburg 1793
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009