1887 - Louis Lewin
Mit der Canadian Pacific von Montreal nach Vancouver mit Halt in Winnipeg
Lautlos, ohne die Abfahrt durch Klingeln anzuzeigen, setzte sich der Zug in Bewegung, der uns für 6 Tage und 7 Nächte beherbergen sollte.
Section Nr. 8, mitten im Wagen gelegen, nahm uns auf. Einer der zweisitzigen Canapees gehört mir, der andere Onkel. Dazwischen haben wir das Fenster. Unterhalb dessen kann leicht ein Tisch befestigt werden. Jetzt liegen unsere Bücher darauf. Schreiben kann man wegen der meist jähen Geschwindigkeit nur frei, die feste Unterlage auf dem linken Unterarm ruhen lassend. Als Bettstätte für Onkel dienen beide untere, durch eine Mittelpolsterung zu verbindenden Canapees, mein Bett wird durch Federdruck aus der schräg ansteigenden Täfelung herabgelassen. Das ist ein wirklicher Pullmanns Car, der nach übereinstimmender Angabe der Beamten 20 – 25.000 Doll = ca. 100.000 Mark kostet. Waschvorrichtungen etc. sind meisterhaft und so praktisch wie denkbar eingerichtet. Rauchzimmer, Ladies-Room, reiche Spiegelzahl vervollständigen die Einrichtung. Es sind, um dem Staub den Eingang zu wehren, doppelte Fenster und zur Abblendung der Sonne gepreßte Ledervorhänge angebracht. Jeder mögliche und ausführbare Wunsch der Reisenden ist geahnt und im Voraus durch stabile Einrichtungen erfüllt worden.
Wir bekamen bald Durst - wir hatten zu Tisch nur geeistes Wasser getrunken, das uns unangenehm im Magen lag - aber ein Dining Room wird immer nur des Morgens um 8 Uhr angehängt, läuft mit dem Zuge 12 Stunden und wird durch einen anderen, auf den betreffenden Stationen bereitstehenden ersetzt. Unser Porter, der sehr jüdisch aussieht, aber ein Neger mit sehr heller, wahrscheinlich schon aus mehrfacher Rassenmischung resultierender Hautfarbe ist, der sogar etwas deutsch radebrechte, winkte mich freundlich in den State-Room und offerierte mir Gin. Schnell holte ich Onkel - wir wurden beide durch dieses Getränk belebt, ließen uns noch einen kleinen Vorrat geben und gingen zu Bett.
Sonnabend, 20. August
Ich schlief die Nacht mit vielen Unterbrechungen, besonders auch deswegen, weil ich trotz dicker wollener Decke, u. selbst nachdem ich mir mit dem Morgengrauen mein Unterzeug angezogen hatte, stark fror. Onkel schlief so fest, daß ich ihn um 1/2 8 Uhr wecken mußte. Früher als ich war schon ein Pater aufgestanden, der nebst mehreren anderen im Zuge war. Ein wirkliches Theaterpfaffengesicht, etwas behäbig, aber mit Augen, deren Blicke durchbohrend auf diejenigen wirken müssen, die sich in der Machtbreite derselben finden. Er hatte eine lange anschließende, violettrot paspelierte und mit ebenso gefärbten Knöpfen versehene lange Soutane, violettrote Strümpfe und Halbschuhe an. Auf der Brust erglänzte an mehrfacher goldener Kette ein großes, goldenes Kreuz, den Kopf bedeckte ein Seidenfilzhut mit umschlungener meergrüner und orangefarbener Schnur und ebensolcher Troddel. Er stieg bald aus.
Aber was bot sich draußen dem Auge dar! Schon seit Stunden fahren wir durch Wälder. Wohin das Auge schweift, nichts als herrliche Laubwälder - keine düsteren, trüben Föhren, sondern hell in der Sonne erglänzende Birken und zwischen ihnen urwaldliches Laubdickicht. Und doch kann man traurig gestimmt werden, weil überall in der Nähe der Bahn sowie ferner, soweit der Blick zu unterscheiden vermag, angebrannte, halb und ganz verkohlte Stämme zu tausenden und Millionen im Boden stehen oder wirr wie Kraut am Boden liegen. Die mannigfachsten Zerstörungen zeigen sie. Hier heben hunderte rindenbefreit ihre kahlen Äste und Zweige trauernd gen Himmel, dort ist bei ebenso vielen bis zur Mannshöhe alles bis zum Kien verkohlt, weiter sieht man nur unregelmäßig ausgezackte, traurige Kohlereste von einstiger Baumpracht. Wo man hier und da bestelltes Feld erblickt, da schauen noch hunderte und tausende solcher Stümpfe heraus. Man glaubt anfangs, man habe einen Kirchhof vor sich. Dabei muß man bedenken, daß die so niedergebrannten Bäume relativ jung sind. Jene alten Riesen, die in diesen meilenweiten Regionen einst gestanden, sie sind längst als canadisches Bauholz auf allen möglichen Wegen in die Welt gegangen. Millionen von Stämmen hat die Canadian Pacific Railway - oder wie die Leute hier sagen, die Cipiar - für den Bahnkörper, die Telegraphenstangen sowie für die zahllosen Stationsgebäude verbraucht. Sie hatte es im Anfange bequem, diese Bahn, die an Großartigkeit einzig dasteht, herzustellen. Sie erhielt 25 Millionen Acres Land von der Regierung, abgesehen von Subventionen, geschenkt. Das ist soviel Erde, daß Preußen wahrscheinlich zwei Mal darauf placiert werden kann. Die herrlichsten Waldungen waren und sind z. T. noch auf diesem Gebiete. Von rechts und links wurden Bäume zu Bahnschwellen geschlagen. Diese Schwellen haben nur zwei parallele Flächen, alles übrige ist roh geblieben. Auf dem planierten Boden sind sie ziemlich nahe aneinander gelegt, darauf liegt die Schiene in einer ganz leichten Vertiefung, während sie durch flach in ihre Rinde greifende, in die Holzschwellen tief eingeschlagene Hakennägel festgehalten wird. Meilenlange Waldungen müssen verbraucht sein, um dieses, zwei Meere verbindende, Bauwerk herzustellen.
Da wo der Farrner die reinigende Hand an die Wildnis legte, konnte er natürlich nicht jeden Stamm umhauen. Viel wurde ausgebrannt, und dabei griff gewiß oft genug der Brand weit über in die Forsten und vernichtete alles, bis ihm Einhalt getan wurde. Wie oft aber mögen Bahnarbeiter, um eine Mahlzeit zuzurichten, einen und viele Bäume angezündet haben! Obschon ohne Beihilfe der Menschen auf diesem fruchtbaren Lande ihnen alles wieder zuwächst, und aus dem aschegedüngten Boden sich neue Wälder erheben, so werden auch diese, sobald ihr Erreichen nicht zu viel Mühe macht, nicht geschont. Manchen kahlen Höhenzug sahen wir heute im Laufe des Tages, der, heute von der Sonne ausgedörrt, vor gar nicht so langer Zeit noch Schatten spendete, und manche wasserarme Ebene, die diesen Verlust der Baumvernichtung zuzuschreiben haben.
Immerhin sahen wir schon nur auf der von uns befahrenen Route die größten und herrlichsten Laubwaldungen, die es vielleicht auf der Welt gibt. Wie muß es nun gar erst früher hier ausgesehen haben, als die Menschen noch nicht mit Feuer wüteten?
An manchen Farmen kamen wir vorbei, respektive hielten wir. Ein, zwei oder drei Gebäude, ein Teich, aus dem ebenfalls noch verbrannte Steine herausgucken und auf dem sich Enten tummeln, und eine Schenke, das sind die Baulichkeiten, die aber in diesem Zustande schon ordentliche Wohlhabenheit voraussetzen; besonders wenn, wie bei den ersten, die wir sahen, Garbe an Garbe die Felder bedeckt. Warum nur diese Leute ihre Felder von den Baumresten nicht reinigen? Freilich zum Verbrennen haben sie vorläufig noch genug anderes. Das Holz hat hier keinen Wert. Werden doch hier die Lokomotiven bis fast zu 3/4 der ganzen sechstägigen Fahrt mit gutem Nutzholz geheizt!
In schöner Unterbrechung liegt ein See nach dem anderen in diesen waldigen Berggegenden, meist eingerahmt von herrlichem Laubwald, den vielleicht nur des Indianers Fuß beschritten hat. Die Größe dieser Seen ist enorm. Solche wie der Starnberger finden sich gewiß zehntweise. Dann wieder erscheinen stille Weiher, und im Fluge daran vorbei befinden wir uns wieder im rauschenden Birkenwald. Soweit die Bahn das Territorium berührt und weiter hinaus ist auch hier die Erde wie in der alten Welt verteilt - auch hier erscheinen Zäune und andere Einfriedungen als Zeichen der Besitzer.
Auch kleine Niederlassungen haben ihre Kirchen und natürlich auch ihre Prediger, die sie versorgen. In Mattawa, wo ich Dir wieder ein paar Blätter pflückte, stiegen drei Langröcke ab. Das ist aber schon heutigen Begriffen nach ein großer Platz. In Rockliffe, das vielleicht nur 8 Häuser besitzt, ragt aber auch eine Holzkirche über die Wohnstätten der Menschen empor.
Um 11 Uhr waren wir in North Bay. Trotz Sonnenscheins war die Temperatur herbstlich. In dem herrlichen Wald, der diesem Zweigpunkt der Bahn folgt, erblickten wir schon herbstlich gefärbtes Laub - gelb und schön braunrot gefärbte Blätter zwischen hellgrünen. Bald erschien der Lake Nipissing mit großen baumbestandenen Inseln - aber ohne sichtbare Zeichen, daß Menschen auf ihm ihren Vergnügen oder Erwerbe nachgehen. Soweit wir auch an ihm entlang fuhren - kein Canoe, keinen Menschen sahen wir. Und so ging es im rasenden Jagen weiter und weiter - immer dasselbe Bild: Wald und Wald, Erdhütten, Blockhäuser, verlassen - vielleicht nur für ein paar Tage erbaut! Sie sind alle gleichmäßig errichtet. Der Boden ist notdürftig geebnet. Stamm wird auf Stamm gelegt. An den Ecken bietet ein runder Ausschnitt jedem oberen Balken den festen Stützpunkt. Halbmannshoch ist ein solches Bauwerk - weniger hoch ist der Eingang. Für längeren Aufenthalt berechnete sind zwischen den einzelnen Stämmen mit Lehm verschmiert. Diese letzteren haben auch einen gewissen Schutz gegen den von oben eindringenden Regen. Die zur Bedeckung dienenden Baumstämme sind halbiert und rinnenartig ausgehauen. So liegen sie einer neben dem anderen, und damit das Wasser nicht an der Berührungsstelle zweier Balken eindringt, ist über jeden solchen ein ebenso ausgehöhlter Balken gestülpt worden.
Armseliges, schweres Dasein, das diese Hüttenbewohner - meist auf der betreffenden Bahnstrecke beschäftigte Arbeiter - haben! Wofür? Für Essen und Kleidung. Diese verzehren wirklich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts - fern von allem, was sonst den Menschen, auch den ärmsten, erfrischt und vergnügt. Waldeinsamkeit jahraus jahrein, wieder und wieder vorüberfahrende Bahnzüge - das ist alles, was diese Menschen zu sehen bekommen. Vielleicht sind auch sie zufrieden!
Wir sind in gebirgiges Terrain gekommen. Die Dunkelheit ist hereingebrochen - wir gehen früh zu Bett, da das anhaltende Sehen ermüdet.
Sonntag, 21. August
Ich stand um 7 Uhr auf und fand Onkel schon angekleidet. Es ist erstaunlich, welche Kraft ihm innewohnt; ich habe ihm heute gesagt, daß er so gut bewundert werden könne wie das, was die Natur hier an Großartigem darbietet. Welche körperliche und geistige Frische! Er genießt ruhiger wie ich - phlegmatisch, und ich sanguinisch. Die Eindrücke auf uns beide sind aber gleich mächtig, und wahrlich geeignet, sämtliche Sinne gefangen zu nehmen. Nichts ist zu erblicken, was Menschenspuren verraten könnte. Eine wildige, felsige Gegend durcheilen wir, in der durch Dynamit von den Gesteinsmassen ein Durchgang erzwungen ist. Hinter Perinsula, wo wir um 7 Uhr 15 M. waren, und von dort weiter bietet sich immer wieder das gleiche Bild. Schroffe Felswände, kühne Überbrückungen von Schluchten! Dazu erscheint sonst immer zu unserer Linken, nur zeitweise durch Felsen verdeckt, der größte amerikanische See, der Lake Superior von einer Ausdehnung, für die ich keinen adäquaten Vergleich finde. Ich bin überzeugt, daß der Genfer- u. Bodensee und mancher Schweizer See dazu in diesem bequem Quadrille tanzen können. Mächtige Inseln unterbrechen seine Wasserfläche - alle belaubtstille Zufluchtsorte für die große Tierwelt, die bis vor kurzem noch in den canadischen Wäldern ziemlich sicher lebte, heute von waidlustigen Engländern, die man vielfach in kühnen Sportanzügen auf den Stationen sieht, unerbittlich bei Tag und Nacht, wahrscheinlich bis zur Vernichtung verfolgt wird.
Man weiß nicht, welchem Eindruck man den Vorzug geben soll - ob jener himbeerbewachsenen Anhöhe, von der ich schnell, so lange der Zug bei Gravel River hält, eine Handvoll Früchte pflückte, oder jenen hinter Mazokama besonders gewaltigen zerrissenen Granitmassen, in deren Spalten hohe Bäume wurzeln, oder dem Menschenwerke des Bahnbaues, oder jenem großen blauen See den Vorzug geben soll. Kaleidoskopisch wechseln die Bilder. In stummem Staunen stehe ich auf der Plattform unseres Wagens. Andacht erfüllt mich vor Gottes Schöpfung!
Auf der Station Nepigon sah ich die ersten Indianer, die verkommen aussahen und zerlumpt gekleidet waren. Beinahe hätte ich hier zurückbleiben müssen. Ich mußte wohl 50 Schritt nachlaufen, um auf den ziemlich hohen Tritt der Plattform zu gelangen.
Immer noch jagen wir durch Felsentore hindurch, die für diese Bahn geschlagen sind. Manches Felsstück liegt locker überhängend, zum Absturz drohend rechts und links über uns. Wehe uns, wenn ein solches wankt! Zum Befestigen haben die Werkleute bei der unglaublichen Ausdehnung dieses Werkes keine Zeit gehabt. Block türmt sich auf Block, gigantisch durch ihre Eigenschwere sich haltend. Man hat aber zum Fürchten kaum Zeit; denn eben erblickt man noch aus dein alten Gefüge gerissenen Granit u. schon ist eine glatte Felswand da, turmhoch ansteigend, scheinbar glatt wie die Handfläche. Die stampfende Maschine, die nachrollenden Wagen wecken ein solches Echo zwischen diesen merkwürdige Farbennuancierungen zeigenden Gesteinsmassen. So sah ich etwa 1/4 Stunde hinter Nepigon Granitfelsen, die so eigentümlich gefärbt waren, daß man hätte glauben können, sie seien von der Abendsonne beschienen.
Schöne Waldportionen wechselten nunmehr im Laufe des Tages mit ausgebrannten, traurig verkohlten Gegenden und Felsen ab. Knurrend und ächzend dulden die leichten Holzbrücken, die über Schlünde hinweggeleiten, die schwere Last - ein unheimliches Gefühl überkommt mich, wenn ich in diese Tiefen hinabsehe. Selten ist auf dem Grunde derselben ein Mauerwerk, das einen festen Stützpunkt für das mehrstöckige Balkenwerk abgibt. Gewöhnlich stehen die Holzpfeiler direkt auf dem Grunde auf - eigentümlich angeordnet, um die Last zu verteilen. Am Nachmittag um 1/4 4 Uhr sind wir in Port Arthur, einem großen Platz - Stadt kann man nicht sagen. Wir sind hungrig. Der Dining Car, der heute morgen eingestellt ist - sie wechseln ja alle Tage, hatte uns für einen Dollar ein so miserables, ungenießbares Essen geliefert, daß wir beschlossen, lieber zu hungern als diesem Manager noch das Geld für das Mittagbrot zukommen zu lassen. Einige Biscuitreste helfen uns, das schlimmste Hungergefühl zu unterdrücken.
In der nächsten Station, dem Fort William, einem früheren, gegen die Indianer befestigten Platze mit einem hohen, granitenen Fort in Gestalt einer Felskuppel, um die sich ein Plateau herumschlingt, war ein langer Aufenthalt wegen einer Reparatur an einem Rade. Die Gelegenheit benutzte ich, um mir durch einen kleinen Jungen vom Bäcker Biscuits - eigentümlich mit Mus gearbeitete dünne, trockene Mehlmassen - und zwei Flaschen Bier holen zu lassen. Das verzehrten wir als Mittagbrot.
Noch immer sahen wir zwischen Port Arthur und Fort William den Lake Superior. Von letzterem Orte an entschwand er unseren Augen. Die Scenerie wurde nun etwas anders, weniger wild, flacher, cultivierter. Wir sahen größere Grasflächen - freilich nicht lange, dann kamen wieder Felsen, und Wälder mit dem üblichen Aussehen. Um 3/4 8 Uhr sah ich einen Indianerstamm in Zelten auf einer Ebene. Sie hatten Feuer entzündet, und wir waren dicht genug, um 2 Canoes mit jener eigentümlichen Zuspitzung nach vorn erkennen zu können.
Um 9 Uhr ging ich durch den Wagen auf die Plattform. Es war ein eigentümliches Bild, das sich mir darbot. Am Horizont erschienen tiefrote breite Streifen, in einem dämmrigen Tiefblau. Davon heben sich die Bäume als schwarze Schatten ab, während im Vordergrunde ein weiter See seine silbergraue Oberfläche in harmonischer Farbabtönung dem Gesamtbilde einverbleibte. Die unabsehbare Ebene rings umher ist in Nacht gehüllt. Schweigen herrscht überall - selbst die nimmermüden Cicaden ruhen. Ein scharfer kühler Wind zieht über die Prairie. Ich suche mein Lager auf, indem ich an Dich, meine geliebten Kinder und meine fernen Eltern denke.
Montag, 22. August
Eine frühe Morgenstunde sah mich bereits fertig angekleidet. Ich hatte in der Nacht sehr gefroren, trotz meiner zweiten Decke, die mir der aufmerksame Porter besorgt hatte. Wir waren etwa zwei Stunden vor Winnipeg, dem Hauptort von Manitoba. Dieses Manitoba ist ein besonders empfohlenes und besonders in Canada benutztes Ansiedlungsgebiet. Soweit der Blick reicht, sieht man hier weite, weite Prairien mit schönem Graswuchs, duftenden Kräutern, schönen Blumen. Die Farmen mehren sich; man sieht Vieh weiden, sieht große Heumieten neben den Häusern, die freilich, soweit ich beurteilen konnte, noch sehr primitiv erbaut sind, sieht Garben auf den Feldern und hübsche Pferde sich auf dem Graslande gütlich tun. In Birds Hill standen zwei Indianer in alter europäischer Kleidung, die ihnen nicht paßte, gehüllt auf dem Bahnhofe. Ich hatte mit ihnen Mitleid und schenkte dem einen ein paar Cents, ebenso Onkel. Das eigentümliche braune Colorit, die straffen schwarzen Haare und die hervorstehenden Backenknochen sind die Kriterien, woran man sie sofort erkennt.
Um 1/2 10 Uhr liefen wir in Winnipeg ein. Hier sollten 40 Minuten Aufenthalt sein. Ich hatte mir vorgenommen, meiner geliebten Frau ein paar Gegenstände, die in dieser Stadt zu haben sein sollten, zu besorgen. In einem Wagen eilten wir zu dem bezeichneten Geschäft, fanden aber leider nicht das Gewünschte. Immerhin hatten wir so die Gelegenheit, diese Stadt zu sehen, die auf dieser Route bis zum Stillen Ocean die größte, ja unseren Begriffen nach sogar die einzige ist. Die Straßen, durch welche wir fuhren - es sind die Hauptstraßen - machen einen merkwürdigen Eindruck. Die meisten Häuser bestehen aus Holz und sind fast durchweg vierstöckig. Mehr als sie selbst fallen die riesigen Firmenschilder und die überall angebrachten Reclameplacate - natürlich fehlen auch hier nicht Tutts Liver Pills - in die Augen. Die Straßen sind mächtig breit und lebhafter Verkehr herrscht auf ihnen. Fast jedes dritte Haus enthält ein "Land office". Viele, viele Menschen, man könnte sagen der größere Teil dieser Stadtbevölkerung gibt sich mit dem An- u. Verkauf von Lots ab, nicht nur solchen in unmittelbarer Nähe der Stadt, sondern weit nach Manitoba hinein. Auf dem Bahnhof sah ich einen Menschen nur mit roter Bluse und Beinkleid bekleidet, der mitten an der Brust die Leuchtbuchstaben S.A., das ist "Salvatory Army", gestickt trug. Auch er diente als Reklame. In Eile nahmen wir nun unser Frühstück ein, besorgten uns Brandyvorrat für die Reise, ich riskierte es, von hier einen fertigen, langen Brief an Dich zu senden, den Du hoffentlich bekommen hast, hatte noch Gelegenheit, eine eigentümliche Haartracht bei Frauen und Männern zu bewundern, die darin besteht, daß hinten die Haare nach Männerart bis zum Scheitel gespalten, vorn aber ponyartig oder auch gescheitelt angeordnet sind, und fort ging es in die eigentliche Prairie. Meilen und meilenweit ist diese in der schönsten Cultur. Mir scheinen auch die gewöhnlichen Leute sich einer gewissen Wohlhabenheit zu erfreuen. Sie verdienen hier alle unverhältnismäßig viel mehr als in entsprechender Tätigkeit in Europa, aber es ist auch alles hier viel viel teurer als z. B. bei uns in Deutschland. Ich habe schon einsehen gelernt, daß wir in einem wahren gelobten Lande leben.
Welche Genüsse können wir uns nicht für weniger verschaffen! Nachdem was ich bisher gesehen habe, spüre ich keine Lust, hier zu leben, und will lieber preußischen Büreaukratenzopf und preußischen Drill mit in Kauf nehmen als amerikanische Lebensverhältnisse, amerikanische Ungeschliffenheit und Naturwüchsigkeit zu ertragen. Frei ist das Individuum, wo es sich selbst frei macht. Wird man auch oft durch Unvernunft, Eitelkeit, das Aufgeblasensein eingebildeter Narren und Hohlköpfe belästigt, so muß ich doch sagen, daß unsere ganze Erziehung der amerikanischen widerspricht, und daß das Fehlen von bezopften Geheimräten, perruquirten Professoren mir nicht die Vorzüge ersetzt, die Deutschland in materieller und geistiger Beziehung unzweifelhaft besitzt. Im Grunde haben diese so freien Amerikaner und Canadier alle dieselben dekorativen Gelüste und dieselbe Herrschsucht, die sich auch anderswo bemerkbar macht. Es sind eben den Wilden so wie den Civilisierten gewisse Eigenschaften angeboren, die nur der Gelegenheit zu ihrer Aktivierung bedürfen. Bietet sich diese dar, so dekoriert sich der Europäer mit einem Orden, der ihm indirekt durch einen Mann von Gottes Gnaden verliehen ist, der freie Canadier formt sich diesen Orden nach seinem eigenen Geschmack und hängt sich an bunten Bändern mehrere Zoll lange Kreuze an farbigen Bändern an, und der Wilde findet eine seltene Feder und steckt sich diese als äußere - par droit de conquete - ihm zugefallene Auszeichnung in seine Haare. So ist es überall, so wird es immer sein! Angebetet wird hier wie da mancher Ochs, und hier vielleicht noch mehr wie dort das goldene Kalb! Wahres Menschentum ist in der Welt gleich gestaltet und gleich selten - denkende Menschen wissen aber, was wahres Menschentum heißt, und bessern und bessern an sich herum, um immer vollkommener darin zu werden - diese kennen aber keine Landes- u. Meeresgrenzen, und sie können, wenn sie etwas in dieser Beziehung an sich erreicht haben, ermessen, in welchem Sklaventum sie mit allen anderen gemeinsam früher gelebt haben!
Solche Gedanken kommen mir oft während dieser Reise. Ich kann sie leider nicht alle fixieren, will es auch nicht, weil sie in mir leben, und ich für die langen Winterabende noch für meine geliebte, süße Cläre etwas nicht Gesagtes übrig behalten will. -
Der Nachmittag brachte uns vereinzelt Felsunterbrechung in der Gleichförmigkeit des Prairieanblicks. Ein leichter Regen verhinderte für eine kurze Zeit die Aussicht, bald indes von Sonnenschein gefolgt, der die Blumenfülle der Prairie zur Geltung kommen ließ. Das sprießt und blüht und duftet ohne Menschenarbeit. An jeder Station springe ich von der Plattform ab, um mir hier und da etwas zu pflücken. Jene Menthaart, die ich für Tante in List gepflückt und die sie weiter gezogen hat, erfüllt hier überall die Luft mit ihrem Wohlgeruche. An der Plattform haben wir rechter- u. linkerseits zwei Sträuße angebracht, die uns erfrischen.
Um 1/2 5 Uhr sind wir in Brandon, und sehen mit Erstaunen die elegante Kleidung der Kinder und Frauen in diesem Provinzneste, und die Anzüge von Gentlemen, die sich so auf Pariser Boulevards sehen lassen könnten. Ein Holzhotel hat an der Seitenfront die Inschrift: Farmen Home $ 1 per day, Meals 25 ct. Was muß ein solcher Farmer verdienen, um 4 Mark nur für Wohnung bezahlen zu können! In jedem dieser sogenannten Orte sind derartige Hotels mit hochtrabenden Namen, am häufigsten "Queen-Hotel", weithin durch ihre Aufschriften sichtbar. Um 1/4 8 Uhr sind wir in Elkhorn, wo ich schiefergedeckte Häuser sah. In Regina kam die Mounted Police in Gestalt eines hübschen sporenklirrenden jungen Mannes in unseren Wagen. In Berlin würde man denselben für einen närrischen Corpsstudenten halten. Ein schwarzes Cereviskäppchen mit unter dem Hinterkopfe befestigten Gummibande, eine rote Husarenjacke, Reithosen und Reitstiefel, um den Leib einen mit etwa 50 Patronen versehenen Gurt und in einer gelben Ledertasche an der linken Seite eine Pistole, so stattete derselbe dem Handgepäck einen Besuch ab, hob jede Tasche hoch u. schüttelte sie - wie wir nachher erfuhren, um auf Alkohol zu fahnden. Unsere Brandyflasche stand aber hinter meinem Kissen, so daß sie nicht bemerkt wurde. Damit man auf dem Polstersofa sich gut anlehnen kann, legt der Porter eines der Nachtkissen an jedermanns Platz. Kissen und Decke werden für jede Nacht neu bezogen, und auch ein neues Laken wird gespendet.
Unsere Reisegesellschaft wechselt jetzt etwas mehr. Der eiserne Bestand, den wir zum größten Teil noch aus Montreal mitnahmen, besteht aus einem unglaublich viel sprechenden und nach jedem dritten Wort, auch da wo keine Antwort zu erwarten ist, "wie" sagenden, posenerisch sprechenden, und englisch mauschelnden Herrn aus Yokohama nebst seinem Neffen "Guggenheim", einem dicken, tiefrot aussehenden, viel essenden und viel trinkenden englischen Captain, der bisher die "Alaska" geführt und nun von Vancouver ein Schiff nach Yokohama führen muß, einem lahmen jungen Mann aus St. Franzisco, der 17 Monate seiner Gesundheit wegen auf allen Meeren herum gefahren ist, und der an Emil Warburg sehr erinnert, und einem anderen jungen netten Amerikaner, der im North Western Territorium sein Glück als Farmer versuchen will. Seit gestern fährt ein behäbiger, jedes Wort wie eine kostbare Perle langsam von sich gebender Reverend mit uns. Die Engländer sprechen laut, so daß man es von einem Ende des Wagens bis zum anderen hört, und speien, selbst wenn der Speinapf vor ihnen steht, doch noch geschickt vorbei auf den Teppich. Andere haben eine wunderbare Zielfertigkeit darin erlangt und treffen aus weiter Entfernung die tellerförmige Öffnung des metallenen Speichelbehältnisses. Will es der Zufall, daß es einmal, wie es mir gegangen ist, das Wurfgeschoß den Überrock des Nachbarn trifft, nun so macht dies nicht viel aus. Onkel raucht, meist ohne an der Unterhaltung Teil zu nehmen, im Smooking room seine Zigarre - ich genieße die Kühle, oder besser die kühle Abendluft, und suche dann meine Lagerstätte auf.
Dienstag, 23. August
Ich habe schlecht geschlafen. Wüste Träume quälten und ängstigten mich die ganze Nacht hindurch, so daß ich sehnsüchtig den Morgen erwartete. Ich zog mich an und sah die Sonne wirklich rosenfingrig, mit jenen eigentümlichen, fingerförmig ausgebreiteten, roten, mächtigen Strahlen als blutrote Kugel im Osten auf der Prairie aufgehen. Erst um 10 Uhr bekamen wir Kaffee zu trinken, der hier mit sehr wenigen Ausnahmen sehr schlecht ist. Man ist aber auch ganz ausschließlich auf die Mahlzeiten in dem Dining Car angewiesen, oder anders ausgedrückt: man ist vollkommen auf der ganzen Route auf das, was die Direction der Canadian Pacific darbietet, angewiesen. Sämtliche Stationsgebäude stellen elende Holzhäuser dar, in dem außer einem Bureau und einem Warteraum mit einer Bank nichts vorhanden ist. Keine Erfrischung, keine Nahrungsmittel, keine Zigarre ist hier zu haben. Man muß bei der Canadian Pacific speisen. Sie hat alles monopolisiert. Ihr gehört Land und Wald, Wagen und Einrichtung. Jede Kaffeekanne, jede Butterbüchse trägt ihr Monogramm - wo der Blick hinfällt, herrscht Cipiar. In Swift Current sahen wir nicht weit von der Haltestelle Indianerzelte und eine beträchtliche Zahl von Pferden dabei. Einer trabte, an Stricken die anderen mit sich führend, über eine Anhöhe. Der Zug hatte hier einen etwas längeren Aufenthalt, und bald sahen wir um die Wagen Indianer herumschleichen. In Tracht sah ich sie so zum ersten Male. Alle waren in Decken gehüllt, die, blau und rot gestreift, den ganzen Körper von oben bis unten bedeckten. Eine Frau trug ihr Kind, das durchaus nicht nach einer Rothaut aussah und schönes dunkles Haar hatte, in einer großen Tuchfalte auf dem Rücken. Es lutschte ganz reizend den Daumen und erinnerte mich an meine beiden süßen Daumenlutscher daheim. Fast jeder der Indianer trug ein paar Büffelhörner, die sie zum Kauf anboten. Eine alte Megäre wollte mir für einen Dollar das Paar nicht lassen und verlangte das Doppelte. Allerlei Zierrate hatten sie sich angesteckt. Auf unserem Wagen saß ein junges Weib, das eine Kette von Glasperlen um den Hals geschlungen und vorn, gleichsam als Brosche, ein Perle durch ein annähernd kreisrundes Stück harten weißen Papiers gesteckt hatte. In den Ohren sah ich bei Männern 6-8 verschieden große metallene Reifen. Einer war unter der Wolldecke ganz nackt, andere hatten sich das Gesicht mit einer gelben Farbe, vielleicht Curcuma, eingerieben, die Frauen hatten rotgefärbte Backen. Es war dies der Stamm der Cree-Indianer, die hier in der Nähe ihre Reservation haben. Auf der Prairie sammeln sie die Köpfe der von ihren Vorfahren bis zur Vernichtung verfolgten Büffel, die sowohl in diesen Territorien als in den vereinigten Staaten ganz ausgestorben sind. Wir sahen selbst an manchen Stationen große Haufen solcher gebleichter Knochen liegen. Die rohen Hörner putzen sie mit Sand und Öl, bis sie ein glattes, elegantes Aussehen haben. Ich erstand schließlich noch ein paar, während unser Porter 12 Stück kaufte. Sie haben in Montreal einen festen Wert von 5-6 Dollar. Das meinige kostet nur 1 Dollar. Ich ging noch ein wenig auf der Prairie umher, umhüpft von tausenden von zirpenden, glucksenden Cicaden. Märchenhafte Ruhe herrschte auf der sonnenbeschienen Ebene - soweit der Blick streift nirgends ein Haus, nirgends ein Mensch!
Zum Lunch erschien im Dining Car ein Mädchen von vielleicht 23 Jahren. Sie war in ein blaues Tuchkleid gekleidet, das glatt bis zum Halse war und dort fest anschloß. Um den Hals sowie um die Ärmel liefen doppelte rote Litzen. Da wo der Gefreite in der preußischen Armee den Knopf am Halse sitzen hat, trug sie ein neusilbemes S. Sie war eine Apostolin der Salvation Army. Ich veranlaßte Onkel, sie ein bißchen auszufragen. Sie reiste zur Bekehrung Andersgläubiger. Nicht Predigt, sondern nur Belehrung ließen sie den Menschen zu Teil werden. Einen Tisch von ihr entfernt saß ein Tonsurierter, ein blasser, junger Mann in langer Soutane. Ich hätte diese beiden wohl im Meinungsaustausch hören mögen!
Lesend, schlummernd, schreibend, ausschauend brachten wir die Zeit bis zum Nachmittage hin. Hier und da kamen niedrige wenige Erhebungen des Bodens zum Vorschein, wie große Hünengräber aussehend. Der bisher ebene, flache Boden zeigt hier und da Steigerung - schwache Zeichen einer erscheinenden Gebirgsgegend.
Um 4 Uhr 45 M. sind wir in Medecine Hat, einem für hiesige Verhältnisse schon großen Ort, oder wie der deutsch-posensche-japanische Mann stets sagt: place, oder good place. Auch hier war so viel Minuten Aufenthalt, daß ich die aus einer Häuserreihe am Stationsgebäude bestehende Stadt besichtigen konnte. "General Stores", "Drug Stores", Bakery etc. etc. sind in jeder der Holzbuden vertreten. Auf der anderen Seite der Bahn leuchten ein paar sehr schöne mit Gärtchen versehene Häuser herüber. Unter den auf Nebengleisen stehenden Wagen wühlten ein paar schwarze Schweine das Erdreich auf. Wendet man den Blick westwärts, so liest man an einem großen Holzschuppen auf riesigen Placaten: "Wilbers Lyceum Co.". Über die Häuser ragen 2 Holzkirchen - eine vollendet, die andere im Bau, hervor und etwas seitwärts von der vollendeten ist ein großes Gehege angebracht, in welchem Kühe unter freiem Himmel ihr Heim haben. Auf dem Bahnhofe waren wieder Cree-Indianer - alle in grellfarbige Decken gehüllt - manche von einer erschreckenden Häßlichkeit, Wildheit und Verschlagenheit, die durch die Färbung der Gesichter noch erhöht wurde. Der eine, mit einem dicken Stock bewaffnet, eine hagere, vornüber gebückt gehende Gestalt, hatte auch den Unterkiefer u. den Oberkiefer ziegelrot bemalt. Er schlich umher, ohne zu sprechen - hatte auch nichts mehr zu verkaufen. Ein anderer oder eine andere - ich konnte es nicht unterscheiden - hatte nur rings um die Augen rote Striche gemacht. Ein häßlich schielender junger Mensch, der fortwährend indianisch sprach, und wie aus dem Lachen seiner neben ihm sitzenden Stammesbrüder hervorgieng, sich über die hinaussehenden Weißgesichter mokuierte, sie vielleicht auch schimpfte, war ganz gelb eingerieben. Es scheint eine Art Fettschminke zu sein, denn die Gesichter hatten alle Fettglanz. Wenn auch einige von ihnen ein paar Dollar und ein paar Pferde besitzen, so ist es doch ein jämmerliches Ende, das diese Station betrifft. Als wären es seltene Tiere, so umsteht und begafft man sie. Die Männer und Frauen lachen, wenn sie eine solche, meist wenig würdevoll einhergehende Figur in ihre Decke gehüllt, mit jenen eigentümlichen Flicken am Beinkleide und den wunderlichsten Kopfbedeckungen - Filz- u. Strohhüte meist ohne Boden - einhergehen sehen. Sie, die einst Herren dieses wunderbaren Landes waren, sind nur geduldet und müssen sich von Fremden begaffen lassen. Ob sie das, was man Civilisation nennt, begreifen? Daß sie die Eindringlinge hassen, ist gewiß, aber sie sind ohnmächtig, und selbst wenn sie noch ein- oder zehnmal versuchen werden, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln, gegen Kanonen und Spiritus werden sie nichts ausrichten.
Bald hinter Medicine Hat rollt der Zug über den Saskatchewan auf einer langen Brücke, vorbei an dem Eingange zu einem Kohlenbergwerk, an herrlichen Getreidefeldern, großen Kartoffeläckern, vorbei an Cypressenwaldungen, Höfen und steil abfallenden cypressenbestandenen Hügeln. Es scheint dies ein sehr fruchtbarer Fleck Erde zu sein. Langsam rollen wir jenen gewaltigen Bergzügen entgegen, die Britisch Columbien durchziehen. So kalt wie es am Morgen war, ebenso war es am Abend. Ich war zu ermüdet von der traumgequälten vergangenen Nacht, um lange wach bleiben zu können. Gern hätte ich die Anfänge jener Berge, die ca. 2-3000 Fuß über die See sich erheben, gesehen - aber mein Körper wollte nicht mehr. Manchen Höhenzug nahm ich noch wahr, merkte auch, wie die Maschine keuchend uns in die Höhe zog - dann aber entschlummerte ich.
Mittwoch, 24. August
Um 6 Uhr stand ich heute auf, begierig, die ersten Felsgebirge, in deren Vorläufer wir in der Nacht gekommen waren, zu sehen. In der Tat war das, was sich nun in steter Entwicklung bis gegen Mittag und von dort weiter bis zum Abend darbot, mehr als ich zu sehen gehofft hatte oder überhaupt in der Vorstellung nur für möglich gehalten hatte. Wir befanden uns bereits mitten in den Rocky Mountains ca. 4000 Fuß hoch über dem Meere. Neben uns rauscht ein wilder Gebirgsstrom bald nach links sich windend, hier sein altes Bett verlassend, auf dem nur noch Milliarden von Kieselsteinen unbenetzt liegen, dort sein neues in 3-4 Arme teilend, dort eine Insel umfließend, überall rauschend und schäumend ob der Widerstände, die ihm Baumwurzeln und Felsgestein entgegensetzen. Herrlichen Graswuchs zaubert diese Wasserfülle hervor. Zwischen den zahllosen Cypressen, Edeltannen, Lärchen steht es 2 Fuß hoch, eine willkommene Gabe der bahnbeamteten Ansiedler, die hier zwischen den Bergen hausen. Im stürmischen Dahinjagen hat der Bow River auch manchen Baum entwurzelt, der, ein Spiel der Wellen, nun im Flußbette lagert. Und nun soll ich den Anblick der Berge schildern? Das vermag ich nicht. Zur Rechten und zur Linken schauen auf uns Steinkolosse himmelanstrebend herab, die dicht bewachsen mit Kiefern sind. Hier und da liegt in breiter Ausdehnung Schnee, nicht nur in Rinnen und Spalten, sondern auch auf glatter Felskuppel. Es ist ein wilder Anblick und eine wilde Gegend. Sie ist ergreifend großartig - aber schauerlich. Wir Menschen bedürfen eines versöhnenden Ruhepunktes, wie überall so auch in landschaftlich hervorragenden Regionen. Hier ist alles abnorm - von den traurigen Resten einstiger Waldschönheit in direkter Begrenzung des Bahnzuges, bis zu dem zerrissenen Strombette und den zerklüfteten gigantischen Bergen und bis zu uns winzigen Menschen, die in diesen Höhen, in der Nähe ewigen Schnees, auf dem wir jeden schwarzen Punkt mit bloßem Auge erkennen können, frieren. Immer dicht am Strom, seinen Windungen folgend oder ihn überbrückend, geht die Bahn höher und höher an. Immer unregelmäßiger steigen die Felsen vor unseren Augen auf, wild gezackt, spitz oder kuppelförmig ihre Gipfel in den Wolken versenkend, die jetzt anfangen, wie dichte Schleier die Majestät dieser Naturschöpfung zu verhallen. Tiefe Schluchten und Versenkungen, Auflagerungen und Höhlen nehmen wir allenthalben an diesen bald uns näherrückenden, bald weit zurückweichenden Gesteinsmassen wahr. Dort oben von dem Gipfel eines solchen mehrtausendfußhohen Felskegels bricht sich senkrecht an der Felswand im jähen Sturze von Klippe zu Klippe ein Felsstrom seine Bahn, die von ferne wie ein breiter Silberfaden von dem dunklen Braun des Felsens sich abhebt. Dann wieder wechselt das Bild wie bei Banff, das durch seine Quellen berühmt ist, und aus einigen elenden Buden, worunter sich ein General Store u. eine Billard Hall bemerkbar macht, besteht. An wild zerrissene, stromdurchfurchte Granitfelsen ohne Vegetation schließen sich grüne Matten, wie sie die schönste schweizerische Landschaft nicht aufzuweisen vermag, zumal hier dann eine üppige Vegetation der schönsten Koniferen das Bild voller macht. Aus einem Talkessel jagt die Bahn in ein anderes. Sie alle sind in vorzüglicher Cultur trotz der enormen Höhe wie nicht zum zweiten Male in der Welt. Immer gewaltiger streben die Felsen gen Himmel, immer breiter lagert Schnee auf ihren Häuptern und ihrem Leibe - erschreckend, wenn man sie in der Wildheit ihrer Flächen nahe sehen kann oder an ihrem Fuße dahinjagt auf eiserner Bahn, die durch Sprengmittel ihnen abgezwungen ist. Immer kühner wird die Überbrückung tiefer Schluchten - ich stehe auf einem Treppenabsatz der hinteren Plattform und schaudere, wenn ich unter mir den gähnenden Schlund sehe, dessen Tiefe oft gewaltiger ist als die der größten auf der Rigibahn. Die Holzbrücken ächzen und stöhnen, knistern und knattern. Solcher Überbrückungen gibt es aber sicher an hundert - eine erschreckender leicht über die Tiefe geschlagen wie die andere. Und neben uns, bald über uns jagt der "Kicking Horse" durch zerrissenes Erdreich, Bäume und Sträucher mit sich reißend, Strudel auf Strudel bildend, Fall auf Fall machend dahin. Der Name soll die Tätigkeit dieses wilden Flusses bezeichnen und er trifft wirklich das Wesen. Solche reißende Kraft besitzen gewiß wenige derartige Bergströme. Viel kühner als seine Windungen sind aber diejenigen, die Menschen hier der Bahn vorgeschrieben haben. Bald im Kreisbogen, bald in Achtertouren windet sie sich mal auf mal ab, bald rechts bald links ausweichend, hier Erdreich benutzend, dort einen eigenen Weg sich bauend höher und höher hinan, bis wir, nachdem noch Tunnel auf Tunnel durchfahren, oft noch das Herz ob der schaurigen Scenerie, der grausigen überfahrenen Tiefen gebebt, in Stephen, einem nach dem höchsten Berge der Rocky Mountains benannten Stationshaus, ankommen. Den Mount Stephen freilich hatten wir lange gesehen und seine majestätische Schönheit bewundert. Jetzt waren wir an seinen Füßen.
Ein Dining Car war nicht mitgenommen worden, weil die Tour mit möglichst wenig Wagen befahren werden muß. Das Stationsgebäude gehört natürlich der Compagnie. Es lehnt sich ziemlich an die Felswand. Eine mächtig breite, aus wenigen Stufen bestehende Treppe führt auf einen Vorplateau und von diesem in das Gebäude, das aus Holz erbaut, innen einen sehr freundlichen Eindruck macht. Ein großer Speisesaal stand uns paar Reisenden zur Verfügung; die Tische schön gedeckt, das Geschirr sauber und appetitlich. Lachsforellen nehmen wir heute ausnahmsweise neben unseren typischen Eiergerichten. Ich suchte oder besser pflückte noch draußen Alpenblumen, und nun ging es mit 2 Lokomotiven - eine vorn, die andere hinten - wieder abwärts und vielmal noch aufwärts.
Vor Leamhoil, das schon in British-Columbien liegt, kamen wir etwa um 1/4 12 Uhr in zwei auf einander folgende, von so gigantischen, schneebedeckten Felsen umgebene Täler, daß man schaudern mußte. Überall trifft man auf Bahnarbeiter, die ausbessern, revidieren und besonders lockere, überhängende Steine entfernen. Erbärmlich wohnen sie - oft in Zelten, gewöhnlich in mit Lehm verschmierten Holzbaracken, während der Inspektor ein gutes Haus bewohnt, in dem sich auch die Lebensmittelvorräte finden; denn diese Arbeiter ebenso wie die zahlreichen Holzfäller, welche die Compagnie beschäftigt, erhalten freie Station, neben etwa 1 1/4 -1 1/2 Dollar täglich - immerhin eine Besoldung, die in Europa nirgend auch nur im entferntesten für derartige Beschäftigung gefunden wird.
Stellenweise zeigen Täler, durch die wir nun kamen, trotz ihrer himmelanstrebenden Umgebung einen freundlichen Charakter, so daß man wohl versucht sein könnte, hier ein paar Wochen zuzubringen.
Wir sehen nun eine Zeit lang nur die Spitzen der Berge, während dichte Wolken die Abhänge verhüllen. Erstaunlich ist die unbeschreibliche Fülle von Bäumen. Hier kann man für "zahlreich wie Sand am Meer" substituieren: zahlreich wie die Bäume in Canada. Ich glaube, wenn einst das letzte Stück Steinkohle auf der Welt verbraucht sein wird, in Canada noch Bäume genug sein werden, um Europa und die anderen Erdteile mit Brennmaterialien zu versorgen.
Nahmen die Höhen auf der einen Seite unserer Fahrt bisher etwas ab, so sahen wir sie alsbald wieder höher und höher werden. Wir näherten uns den Selkirks, einem Gebirgszuge, der an Wildheit und Zerrissenheit seiner Felsmassen, der Schönheit und Fruchtbarkeit seiner Täler den Rocky Mountains nicht nachsteht. In ein solches Tal sind wir jetzt gelangt. Wir befinden uns im Columbiastrom-Tale. Neben ihm fahren wir hin. Wir haben ihn aus kleinen Anfängen entstehen sehen. Jetzt wirbelt und tost er in einer Weise in einem von Fels gebauten, von Fels begrenzten Bette, daß sein Lärmen eine Unterhaltung kaum gestattet. Wo Felsstücke im Strombette liegen, bildet er schöne Kaskaden - jetzt stürzt er noch über solche Hindernisse fort - sie werden doch noch endlich von ihm zerkleinert werden! Er windet sich so häufig, daß ich mich wohl 7 oder 8 Male bald rechts bald links wenden muß, um ihn wieder zu erblicken - so häufig wird er überbrückt - endlich gewinnt er das Freie, und wir sind bei der Station Golden - eine Station, aus ein paar Häusern bestehend. "Queens Hotel", eine Bretterbude und ein "Golden Saloon" fehlen natürlich nicht.
Hinter Golden erscheinen fruchtbare grasreiche Ebenen, mit hübschen Laubbäumen, Sträuchern, aber auch wieder mit regionenweise verbranntem, gefälltem und verfaultem Holze. Immer noch sind wir am Columbia, der hier schmal ist, aber doch noch in seinem Strombette schön bewachsene Inseln, Sandbänke und zu seiner Linken die schneebedeckten Selkirks, zu seiner Rechten die Rocky Mountains hat.
Wir gelangen nach Donald, dem Ende einer der 12 Divisionen, in welche die Canadian Pacific zerfällt. Es regnete etwas. Eine zahlreiche Gesellschaft, aber nur Männer, waren auf dem Perron. Riesige Zedernholzstämme lagen hier zum Export bereit - auch diese produzieren die canadischen Wälder. Die Häuser der Compagnie sehen sehr freundlich aus, sind olivgrün angestrichen und hübsch verziert. Aber die übrigen Wohnstätten? Baumstammbaracken, dünne Bretterbuden, Erdhöhlen. Liquors, Wines, Bakery, Chinese Laundry werden an diesen elenden Behausungen angezeigt. Wir überschreiten wieder den Columbia, der hier besonders wild erscheint und wie schon in seinem oberen Laufe eine ganz eigenartige blaugrüne Färbung zeigt. An Wald und Feld, durch Felsen und fort am Stromufer jagen wir dahin. Man wird müde zu sehen und zu staunen und sich mit Eindrücken vollzusaugen wie ein trockener Schwamm, der immer noch Aufnahmekapazität, aber auch das Bestreben zeigt, einen Teil seiner Ladung wieder anderen Medien mitzuteilen. Du, meine geliebte Cläre, bist dieses andere Medium dieses Schauers, der noch viel übrig behalten wird, was er Dir vielleicht besser als schriftlich mitteilen kann!
Ein anderer reißender Strom netzt bald die Räder unserer Wagen. Der Beaver River, der einen Anblick bietet, als seien in Entfernungen von 2-3 Minuten Mühlenstauwerke angelegt, lärmt und schäumt, strudelt, bäumt seine Wasser, läßt sie in Felsversenkungen verschwinden und stürmt über Riesenblöcke dahin! Dabei ist er stellenweis kaum etwas mehr wie zimmerbreit! Das muß ein Hausen für Biber sein! In der Tat kann man vielfach unter Felsüberhängen, die etwas höher wie das Wasserniveau liegen, vielfach an Baumstämmen die Spuren ihrer Tätigkeit erkennen. In dem Orte Beaver, wo die Compagnie eine Sägemühle arbeiten läßt, sahen wir bei diesem Etablissement eine große gackernde Hühnerschar, die munter über die Jahrhunderte alten Baumriesen, die halb angebrannt am Boden liegen, hüpfen. Von hier steigt die Bahn wieder an.
Vor Bear Creek sind wir schon wieder hoch oben und fahren hart an Abgründen vorbei, die mehr als die lebhafte Empfindung drohender Gefahr erwecken. Hier treffen wir bald wieder auf den nun mächtig breiten Columbia. Auf einer Brücke von 750 Fuß Länge und 295 Fuß Höhe, die herzustellen 1 Million Mark gekostet hat, zu der tausende und abertausende von Bäumen niedergelegt werden mußten, überfliegen wir ihn. Es ist ein Riesenwerk, würdig, in dieser Umgebung zu stehen, wo alles gigantisch, mehr als lebensgroß erscheint. Bald taucht auch der Hermit vor unseren Augen auf, den bereits gesehenen Bergen nicht nachstehend, wir gelangen weiter auf den 4300 Fuß hohen Roger Paß, die größte Höhe der Selkirks, und sind endlich in Glacier House, einem Erfrischungsgebäude der Compagnie. Auf dem Wege dahin sahen wir noch staunenerweckende Bauten. Um den von noch ca. 3-4000 Fuß hohen, über das Niveau der Bahnsole hervorragenden Bergen sich herabwälzenden Schnee und Steingeröll fernzuhalten, sind tunnelartige Bauten an den gefährdeten Stellen in großer Zahl angelegt. Stämme von Armumfang dienen als Träger, darüber und daneben liegen als Decke und weitere Stütze Bohlen und Stämme aus dem schönsten Rotholz, das man in Europa wohl als Möbelverzierung, nur zum Furnieren wegen seiner Kostbarkeit gebraucht! Beim Übergange über den Roger Paß starrt uns der ca. 10.000 Fuß über dem Meere hohe Mt. Carrol mit seiner zackigen Spitze entgegen. Rings umgibt uns hier Schnee auf den Bergen - um uns aber herrliches Waldesgrün. Aber diese Eindrücke werden noch von Glacier House übertroffen.
Nachdem die Bahn ganz für unmöglich zu haltende Kurven geschlungen, an Felsabhängen und über Schluchten dahin gerollt war, befanden wir uns (2 Uhr) eigentlich auf einem Plateau, denn unter uns oder besser weiter fort erkannten wir Talsenkungen. Aber ringsumher starrten uns nur schneebedeckte Berge entgegen - vor allen Dingen aber erhob sich dicht beim Stationsgebäude, vielleicht in 1/2 Stunde zu erreichen, ein Gletscher. Breit liegt die große Schnee- und Eisfläche da, blendend weiß hebt sie sich vom Himmel ab. Dabei ist die Grenze zwischen Belaubung und Eis ganz merkwürdig gering. Es ist das ein ganz eigenartiger Anblick - hier ewig Eis und Schnee, dort schöner Nadelwald. Vor dem Hause springt eine dreistrahlige Fontäne. Es ist bitter kalt, und der im Speisesaal glühende Ofen tut uns mit seiner strahlenden Wärme wohl.
Nach wenigen Minuten haben wir bereits das bestellte Frühstück, absolvieren dies und sehen uns das wunderbare Bild näher an. Erstaunlich ist die Üppigkeit der Vegetation um uns her. Mehrere Fuß hohe Farne leuchten mit ihrem schönen Grün überall, wo der Fuß hintritt, auch Blüten in reicher Zahl neben dichtem Baumwuchs auf abfallender und ansteigender Felswand erblickt man überall.
Nun rollen wir wieder bergab, über kühne Brücken, jene Holztunnels. Durch lange Felsdurchbohrungen, vorbei an Gebirgsströmen, Wäldern, Schneefeldern - ja, ich kann Dir nicht die Varianten alle aufzählen! Es ist scheinbar dasselbe und doch wieder nicht. Die Umgebung der einzelnen Dinge wechselt in jedem Augenblicke, und deswegen ist die Scenerie auch immer eine wechselnde. Diesen Totaleindruck kann man keinem schildern, das muß man selbst gesehen haben. Eben noch eingezwängt in einer wilden Schlucht, schafft uns eine Biegung der Bahn einen weiten Blick über Berge, Wälder, Ströme. Was haben Menschenhände hier geschaffen! Wie bewunderswürdig ist die Ausdauer dieser Arbeiter! Freilich ist es der Kampf um das Brot, der solche Werke bildet, und keine Lust am Erfolge, kein Streben ohne Selbstsucht! Aber nichtsdestoweniger bewundern wir es als ein Zeichen menschlicher, geistiger und mechanischer Entwicklung.
Es ist 4 Uhr und fast dunkel. Dicht über uns lagern schwere Regenwolken. Da blitzt es auf! Hunderfältig klingt der Donner zwischen diesen Felswänden nach. Aus beladenem Gewölk strömen Fluten nieder. Hier ist sogar der Regen gigantisch. Wir sollen eben alles zu sehen bekommen! Unvergeßlich wird mir dieses Gewitter sein. Wir kamen in Illicilliwaet, einer kleinen Ansiedlung der Compagnie, an. Das grausige Unwetter hält noch immer an. Blitz folgt auf Blitz, und die Felsen zittern unter dem Dröhnen des Donners. Der Illicilliwaet tost und schäumt und macht das Bild nur noch grausiger.
Nach einer Stunde scheint die Sonne wieder hell, wir haben die Regenregion verlassen. Hier und da steckt schon wieder ein Berg seinen Gipfel hervor, die Regentropfen brechen das Licht in schönen Farben und noch immer rauscht der Bergstrom neben uns! Er holt uns doch nicht ein; denn wo es nur einigermaßen das Terrain gestattet, da saust der Zug dahin, um die durch das Langsamfahren verlorene Zeit wieder einzuholen. Die Spuren vernichtender menschlicher Arbeit, traurige Baumreste, gefällte und verbrannte Stämme sind hier wirklich sichtbar.
Welche immense Industrie wird hier einst nur auf Grundlage
dieser Waldschätze aufblühen! Wie viele Milliarden Dollars liegen hier herum! Viel sprechen wir noch am Abend über diese Dinge, dann suchen wir, ermüdet durch die erdrückende Menge der Eindrücke, die heute auf uns einstürmten, das Bett auf.
Donnerstag, 25. August
Das war eine schreckliche Nacht! Ich möchte sie lieber nicht durchgemacht haben! Mitten im Schlafe wurde ich plötzlich durch einen gewaltigen Stoß aus dem Schlafe geweckt. Ich sprang sofort von oben herunter u. schlüpfte in mein Zeug. Wir waren 11 1/2 Uhr dicht vor Notch Hill, der Porter kam schon von draußen herein und teilte mir mit, daß die Lokomotive und der Bagagewagen entgleist und einen nicht sehr hohen Abhang heruntergestürzt seien. Die Kuppelung zu den drei Personenwagen hätte sich gelöst, so daß wir dem Unglück entgangen seien. Es seien Menschen verwundet, ob ich ihnen helfen könnte. Mehrere andere Passagiere waren auch wach geworden und wir gingen aus dem Wagen heraus. Onkel schlief fest und ich mochte ihn nicht wecken. Draußen bot sich ein unvergeßlich grausiger Anblick dar. Bäume waren zur Beleuchtung der Verwüstung angezündet worden. Die Entgleisung war durch die Kühe, die sich auf den Schienen ihr Nachtlager bereitet hatten, herbeigeführt worden.
Im ersten Wagen lag der am schwersten Verwundete, bleich und blutbefleckt. Er sah scheußlich aus. Ich nähte ihm seine ganz aufgerissene Stirn. Außerdem hatte er beide Beine bis zu den Knien verbrüht, so daß keine Spur von Haut mehr darauf war. Sie hing überall in Fetzen herab. Mit Mühe fand sich etwas Öl. Ein Laken aus dem Sleeping Car wurde zu Binden zerrissen. Ich verband den Ärmsten, lagerte ihn. Holz wurde zu einer Schwebe für die Decke geschnitten, so daß ich damit etwa um 1 1/2 Uhr fertig war. Der zweite hatte zwei böse Lappenwunden an der Nase u. der Stirn. Ich mußte mit Nähzwirn, für den sich glücklicherweise etwas Wachs fand, nähen. Auch dieser wurde so gut es ging verbunden.
Mittlerweile war der Superintendent der Bahn, der sich auf dem Zuge befand, auf einer Dräsine nach der nächsten Station gefahren, und hatte von einem höher gelegenen Divisional Point eine Lokomotive telegraphiert. Sie warteten mit dem Abfahren, bis ich fertig genäht hatte. Um ca. 3 Uhr fuhren wir wieder zurück, damit unterdes das Geleise gereinigt werden konnte. Ich ging erst um 4 Uhr wieder in mein Bett, schon mit Kopfschmerzen, schlief kaum, stand um 6 Uhr auf - der Zug stand auf einer Weiche - vermochte aber vor Kopfschmerzen nichts zu tun. Um etwa 12 Uhr war die Strecke frei und wir fuhren vorbei an der Unglücksstätte, wo Onkel es ebenfalls sehen konnte, hinaus in die sonnige Landschaft. Der Bahnarzt war geholt worden - er dankte mir, aber kein Mensch von der Bahndirektion. Ich konnte kaum vor Migräne mit ihm sprechen und mußte unbeweglich liegen. Die Sonne und die Ruhe taten mir wohl, aber es vibrierten doch die Eindrücke der Nacht noch so mächtig in mir, daß ich immer daran denken mußte.
Die Landschaft hatte aufgehört, bergig zu sein. Nur gewölbte, runde, in einander übergehende Hügel sah man zur Rechten und Linken der Bahn. Wir befanden uns, nachdem der Ort Kamloops, wo der Hauptverwundete auf einer Bahre in das Hospital geschafft wurde und der Doktor abstieg, im Tale des Thompson River. Kamloops ist ein großer Ort mit vielen Holzhäusern und einem Chinesenviertel. Allenthalben sieht man sie in diesem - man fährt durch dasselbe - vor den Häusern stehen, stumme Gestalten, die ihre Zwecke hartnäckig verfolgen und in diesem Lande scheinbar mächtig Wurzel geschlagen haben - denn man trifft überall auf sie.
Von Kamloops an fahren wir scheinbar endlos lange am Thompson River entlang, immer links vom Wasser hart am Ufer über zahllose Brücken, durch Engpäße, Tunnels. Welch kolossale Wassermasse! (Vielleicht ist es auch ein See, der später erst in den Thompson übergeht, ich habe es nicht entscheiden können.) Ganz vereinzelt zeigen die gegenüberliegenden, gelblich, lehmig aussehenden, aber doch steinigen Felsmassen Baumwuchs, gewöhnlich in der Mulde zwischen zwei Hügeln.
Wie menschlicher ist diese ganze Gegend! Selten sieht man als Zeichen, daß ein menschlicher Fuß hier schon gewandelt, ein Canoe klein und schmal am Ufer liegen. Schon stundenlang fahren wir dahin; obgleich sonnendurchglüht und felsig, hat die Gegend doch den Charakter, als müsse man Menschen sehen! Vergebens! Immer häufiger werden die Felsendurchbrüche oder besser Aufbrüche. Statt erst die Felsen sorgfältig zu durchbohren, hat man hier, da es sich nur um weit bis ans Ufer herabreichende Massen handelt, sie gesprengt. So entstanden Felsentore oder Pässe mit einer Wand zum See, mit der anderen zum Lande, zwischen denen der Zug hindurchbraust. Mittlerweile sind wir wieder allmählich von der Ebene hinaufgestiegen. Endlich eine Ansiedlung! Ein Goldgräber - oder Goldwäscherdorf aus ein paar Hütten bestehend. Der See verschwindet, und an seiner Statt erscheint ein stark strömender Fluß, der Thompson River, dessen felsige rechte Uferwand merkwürdig zerrissen ist, so daß man Burgen mit Zinnen, Schlösser mit Fenstern etc. vorgetäuscht erhält. Diesem Ufer rückten wir allmählich näher. Wir unterschieden jetzt ganz gewaltige Gesteinsflächen von rotem Granit, hier und da eine Tanne aufweisend. An dem Fuße dieser Granitfelsen und ihren Ausläufern bricht sich tosend der Strom. Wir fahren etwa 150 Fuß hoch über dessen Niveau, so hart an der steil abfallenden Wand, daß man beim Heraussehen schwindlig wird. Die Ueberbrückungen der Schluchten - ich habe sie nicht zählen können - sind zahlreich. Besonders beängstigend ist der häufige Wechsel zwischen schnellem und langsamem Fahren. Fortwährend ist die Dampfbremse in Tätigkeit - hört sie zu hemmen auf, dann geht es auch wieder in einem so rasendem Tempo vorwärts, daß man glaubt, der Zug müsse jeden Augenblick in die Tiefe stürzen. Auf dem jenseitigen Ufer erkenne ich einen schmalen Saumpfad, der sich bald in die Höhe windet, bald in der Nähe des Flußufers sich hinzieht.
Bei einer ärmlichen Indianererdhütte kamen wir vorbei, die sich kaum 2 Fuß über dem Erdboden erhebt. Mann und Frau, braune Gestalten, beschäftigten sich auf einem kleinen Stück Acker, womit, konnte ich nicht erkennen. Viel, so glaube ich, können sie auf diesem Boden nicht ernten. Wahrscheinlich wird er ihnen genug liefern, um zusammen mit dem Fischreichtum des Thompson ihnen ihre Nahrung zu liefern. Vielleicht sind diese Menschen zufriedener wie viele Weiße, die besseres als sie haben gesehen und es nicht erlangen können.
Um 3 1/4 Uhr gelangen wir an einen für columbische Verhältnisse größeren Ort, Ashcroft, mit Stores etc. Meine Kopfschmerzen haben durch die Ruhe soweit nachgelassen, daß ich wieder Interesse an der Umgebung habe. Am diesseitigen Ufer sehe ich auf einem Paßpferde einen Falstaff ähnlichen Mann, ein Handpferd nach sich ziehend, auf diesen Ort zureitend. Bestaubt und verschmutzt sieht er aus - gewiß ein Goldgräber, der seine Funde hier in Münze umsetzen will. Das Pferd ist nach mexikanischer Art gesattelt. Mehr als handbreite Steigbügel, über denen breite, mit Verzierungen versehene Lederlätze hängen, ein vorn erhöhter, ebenfalls verzierter Sattel und eigentümliche Aufzäumung.
Immer grandioser werden die Thompson Ufer. Auf einer Felsklippe entdecke ich ein ganz vereinzeltes Indianerzelt. Ich konnte nicht erkennen, wie oder wo dasselbe zugänglich ist. Überall ist hier der Felsen nackt und kahl. Kein Halm, kein Strauch grünt hier auf ihm. Noch im Beschauen der jenseitigen, wieder höher und höher ragenden Felsen versunken, deren Konturen wieder gewaltig den Wolken zustreben, höre ich das Rollen unseres Wagens über eine Brücke - ein dreistöckiges Bauwerk, das eine Schlucht überbrückte, und im nächsten Augenblick passieren wir eine Kurve von so frecher Kühnheit, daß einem das Herz pocht.
Die Sonne brannte so heiß, daß es dem Indianerweib nicht zu verdenken war, daß sie nackt ihrer Arbeit nachging - konnte sie doch sicher sein, daß der Zug schnell genug vorbei schlüpfte, um profanen Augen ihre braune Schönheit zu entziehen!
Nach einiger Zeit zeigt sich auf den Höhen wieder etwas Wachstum - hier u. da ein Strauch, eine Blume und an den Flußufern Bäume. Die Felsen bilden hier messerhafte Grate, erheben sich sehr hoch, sind aufeinandergetürmt, gehen sacht in einander über - alle erdenklichen Formationen nimmt man wahr, aber - überall auch Wildheit der Szenerie. Mitten auf dem erwähnten jenseitigen Paßwege, da wo die Felsen etwas zurücktreten und Raum genug für eine Niederlassung bilden, haben Menschen eine Rancherie gegründet. Es ist erstaunlich, daß auf diesem scheinbar nacktem, sonnverbranntem Gestein eine kleine Oase hervorgezaubert ist, die das Auge und gewiß mehr ihre Besitzer erfreut. Wahrscheinlich ist es ein Haltepunkt für alle diejenigen, die mühselig zu Fuß oder zu Pferde diese Straße ziehen.
Eine ebensolche angenehme Unterbrechung bietet Spencer Bridge dar, wo wir um 1/2 5 Uhr ankommen. Der bisher so breite Thompson River findet hier zu kompakte Felsmassen vor, als daß er sie durchbrechen könnte. Nur eine Schlucht ist es eigentlich, in der er jetzt strudelt, und oberhalb deren wir fahren. Es ist eine schauerliche Fahrt sowohl durch den Fahrboden als durch das Vis à vis - nichts als Fels und Fels - Granit in allen erdenklichen Farbabtönungen von Gelb oder Grau bis zum gesättigten braunrot, zerrissen und zerklüftet und zum Fluß in kompakten Stücken abfallend, die glatte Flächen von hunderten von Fuß bilden. Es ist heute der Anblick ein so durchaus anderer wie gestern. Ich kann für diese Wildheit nicht den adäquaten Ausdruck finden. Es ist, als wenn eine steinerne Welt vom Himmel gefallen wäre, und nun noch die Schwere des jähen Falles in ihrem Zerrissensein zeigt. Und diese Bahn! Die Menschen sollten hierher pilgern, um diese Wunderwerke der Natur und der Menschenhand anzustaunen!
Um 1/4 6 Uhr fuhren wir in Lytton ein. Es ist dies ein Goldsucher- und Indianerdorf. Die Indianer sind christianisiert. Ihr Gebiet ist durch einen weit umfassenden Zaun abgegrenzt. Einige kamen an den Zug. Die Weiber unmöglich gekleidet - grelle Farben sind bevorzugt. Die Männer sahen starkknochig aus. Wir sahen gerade einen berittenen Zug dieser Indianer das Dorf verlassen. Voran ging ein Mann, die lange Flinte auf den Rücken geworfen, sein bepacktes Pferd an der Hand führend, dann folgte ein mit breitem Strohhut bekleideter Mann zu Pferde, dann zwei Weiber und zuletzt wieder ein Mann, die Flinte quer vor sich. Alle Pferde waren hoch beladen. Wahrscheinlich tauschten sie ihr Gold irgendwo aus. Ihre Ansiedlung sah sauber aus. Die Holzhäuser, die ich sah, hatten ein ringsherum laufendes Spitzdach. Die Lage dieses Ortes ist vorzüglich gewählt. Hier ergießt sich der Thompson in den Fraserfluß.
Im Ganzen fand ich den Fraser River nicht breiter als den Thompson. Die Szenerie bleibt die gleiche. Bald sind wir in der Nähe des Flusses, bald steigen wir wieder in die Höhe, überfahren Schluchten und Abgründe, folgen aber dem Flusse und sehen ihn in jedem Augenblicke. Er ist unbeschreiblich schön. Von den Felswänden stürzen schäumend Bäche herunter in den wild dahinrauschenden Fraser. Sie können den schmalen Pfad, auf dem wir uns bewegen, nicht unterwaschen; denn hier wurden sie in eingelegten Holzrinnen aufgefangen, und so unschädlich gemacht, können sie dann den Abhang zum Fluß nach ihrem Belieben wieder herabstürzen. Das jenseitige, rechte Ufer zeigt nun wieder schneebedeckte Berggipfel. Wir fahren jetzt an manchen Stellen, die besonders gefährlich sind, in langsamstem Schritt, so daß meine geliebte Gurfi mithalten könnte. Plötzlich machen wir eine Biegung, befinden uns auf einer Brücke über den Fraser, haben nicht Zeit, schwindlig zu werden oder unserem Erstaunen über die Großartigkeit Ausdruck zu geben - schneller als ich dies hinschreibe, sind wir darüber hinweggeflogen und befinden uns in der Dunkelheit eines Tunnels.
Wir fahren jetzt auf dem rechten Fraser Ufer, erkennen sowohl an unserer als an der gegenüberliegenden Seite manche Indianersiedlung - die Hütten halbmannshoch, meist unter Laub, das hier wieder reichlich vorhanden ist - sehen ihre Vorrichtungen zum Fischen sowohl hart am Flusse als, wo das Bett nicht so zugänglich ist, auf in den Fluß herüberragenden Felsvorsprüngen und genießen, versunken in dem Beschauen dieses wunderbaren Weltstückes, das Glück, das leider nur so wenigen zu Teil wird, ihren Horizont zu erweitern. Hinausschauen, oder besser hinabsehen darf man nicht - so scharf fahren wir zwischen Fels und Abgrund. Noch eine Chinesenansiedlung passieren wir - elende Holzhütten, die furchtbar schmutzig aussehen, und sind um 1/2 7 Uhr in North Bend, einem Divisional Point der C. P. R., auf einer plateauartigen Erweiterung des Felsens gelegen. Welch wunderbare Lage, ganz im Grünen zwischen Felsen! Schöne Holzhäuser, etwa 6-8, einige auch für Sommeraufentalt von Gästen eingerichtet, finden sich hier, ziemlich nahe an die Felswand sich anlehnend. In dem Compagniehaus nahmen wir etwas zu uns. Die Preise sind hier ein für allemal fixiert - 75 cents, also 3 Mark für ein Dinner oder Breakfast, 50 cents für Lunch - aber dafür ist alles reichlich, reinlich und gut.
Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen. Wir jagen zwischen Felsen, Wasser und Fels dahin - eine wahre wilde Jagd nach unserem Ziel, das noch 132 Meilen entfernt ist. Abendnebel stiegen auf, so daß nur das gegenüberliegende und nächste erkannt wird. Graufarben wälzen sich jetzt die Wassermassen des Fraser dahin. In schwindelnder Höhe bewegt sich auf dem Paßweg gegenüber ein Mensch. Gefährliches Wandern!
Auf dem Boden liegend - ich erkenne es noch deutlich - Holzstäbe, die so weit über den Felsrand hinausragen und an ihrem freien Ende durch Querstangen gestützt sind, daß ein Mensch oder ein Tier gehen kann! Wehe dem, der hier fehltritt! In Atome zerschellt, würde er in die rauschende Woge stürzen. Kein Geländer, kein Halt! Über 200 engl. Meilen zieht sich dieser Pfad hin.
Fast am Wasserspiegel, in einer Felsspalte, entdeckte ich jetzt ein Licht - Indianer waschen hier Gold, d. h., sie suchen in dem von dem Berge kommenden Gießbach nach diesem Metall.
Wie ein Vorhang ist der Abendnebel über die großen Schönheiten des linken Ufers gefallen - hier und da leuchtet noch ein weißes Zelt aus dem Nachtgrau heraus, und dann sehen wir nur noch unsere nächste Umgebung - links die jäh zum Strom abfallende Wand, rechts die zu nicht mehr erkennbarer Höhe aufstrebenden Felsen. Goldig rot steht der Mond am Firmament, erwartungsvoll den letzten Rest der Sonnenwirkung verschwinden zu sehen, um allein zu leuchten. Jetzt ist es Nacht geworden über Columbien. Gellend tönt das Heulen der Lokomotive, wenn eine Abnormität in der Bahn kommt, und weckt hundertfaches Echo zwischen den Felswänden. Ich denke an Euch, meine Welt, nach der ich mich zurücksehne, Ihr geliebten guten Wesen! Und wie jetzt, so habe ich in jeder Minute dieses so ereignisreichen Tages an Euch gedacht, die Ihr meine guten Engel gewesen seid!
Freitag, 26. August
Der Zug war in der Nacht an dem Endpunkt unserer canadischen Bahnfahrt angelangt. Wir standen früh auf, um uns Vancouver anzusehen, von wo Mittags 1 Uhr die Reise nach Victoria mit Steamer weitergehen sollte. Die Stadt ist im Entstehen begriffen. Die Meeresbucht, an der sie sich befindet, gestattet großen Seeschiffen die Einfahrt. Leider war Post und Telegraphenbureau noch nicht geöffnet - erst um 3/4 9 Uhr bequemten sich die Herren zu kommen! Wir wollten, was wir ja auch später getan haben, Euch depeschieren, um Euch Besorgnis zu nehmen, falls die Nachricht von dem Eisenbahnunfall - im Ganzen unwahrscheinlich - zu Euch gelangen sollte. Wir gingen durch die Stadt. Enorm breit angelegte, fast ganz mit Holzhäusern bebaute Straßen, viele, viele leere Bauplätze, in denen noch riesige Baumstümpfe oder verkohlte Baumreste stecken, mit deren gänzlichem Abbrennen wir an anderer Stelle Chinesen beschäftigt sehen, Kneipe an Kneipe, eine schmutziger und widerlicher wie die andere, herumlungernde Menschen, Spekulanten, Landmakler, Spieler etc., Trödler, die aus "second hand" Pistolen, alte Kleider, Zaumzeug u. Stiefel feilbieten, Chinesen, die auf dem flachen Dache ihrer Holzbude Wäsche trocknen lassen, Straßendämme, die mit dem schönsten Rotholz belegt sind, und ebensolche, etwa 2 Fuß höher liegende, zu beiden Seiten des Straßendammes laufende Fußsteige. Ich sage Fußsteige! Denke Dir, die Rabenstraße sei in ihrer ganzen Breite mit fast 1/2 Fuß dicken, nicht geflickten, sondern die ganze Damm- und Bürgersteigbreite ausmachenden Bohlen belegt! Überall Telegraphendrähte, Telephonverbindung, keine Laternen sondern allenthalben Glühlichtlampen - große Reklamefelder voller Humbug, junge Mädchen mit Stöcken gehend, - puh, wie widerlich sieht dies aus! - als Überbleibsel und Zeichen früherer hiesiger urwaldlicher Schönheit vielfach vor Häusern Baumdurchschnitte von ca. 3 met. Durchmesser, enorm hohe Preise für die einfachsten und schlechtesten Sachen, ein ganz miserables, ungenießbares, verdorbenes Essen in dem ersten Hotel - das bietet Vancouver, ein Ort, der wahrscheinlich noch einmal große Bedeutung erlangt, weil von hier aus die kürzeste Route nach Yokohama geht. Hier nahmen wir auch von unserer Reisegesellschaft Abschied.
Lewin, Louis
Durch die USA und Canada im Jahre 1887 - Ein Tagebuch
Berlin 1990