1922 - Knud Rasmussen
Wie die Eskimos Robben fangen
King Williams Land, Kanada
Angesichts ihrer harten Lebensumstände haben die Robben-Eskimos einen erstaunlichen Grad von Einfallsreichtum und Ausdauer bei der Jagd auf das Wild entwickelt, von dem ihr Leben abhängt. Am höchsten zu beurteilen ist in dieser Hinsicht ihre Methode, Robben an ihren Atemlöchern zu harpunieren. In dieser Art der Jagd sind sie allen anderen Stämmen überlegen, und ihre Vorgehensweise und ihre Gerätschaften sind in den wichtigsten Punkten einer Beschreibung wert.
Wenn sich das Eis bildet, formt die Robbe mit ihrer Nase und mit Kratzen ein kleines Loch, um hindurchzuatmen. Man erkennt es an einer kleinen Erhebung oder einer glockenförmigen Kuppel über dem übrigen Eis. Zu diesem Zeitpunkt ist es vergleichsweise einfach, die Robbe zu harpunieren, aber die Sache wird erheblich schwieriger, wenn das Eis dicker geworden ist, bis zu zwei oder drei Metern, und darüber noch Schnee liegt. Wie es genau zugeht, kann man am besten durch die Beschreibung eines Jagdtages erläutern.
Sehr früh, bevor es noch richtig hell war, wurden Inugtuk und ich geweckt; uns wurde eine Schale mit kochendem Seehundblut gebracht. Noch kaum erwacht, essen wir die heiße, dicke Suppe mit reichlich Tran und wissen, dass für die nächsten zehn oder zwölf Stunden nichts Essbares zu erwarten ist. Dann ziehen wir eilig unsere warme Kleidung an und treffen unsere Mitjäger, und wir ziehen alle, 15 Mann hoch, in zügigem Schritt auf das Eis. Es ist bitterkalt und der Wind beißt.
Jeder von uns trägt einen Sack über die Schulter gehängt, in dem verschiedene kleinere Gerätschaften stecken. Die Harpune tragen wir in der Hand. Wir haben Hunde dabei, die die Atemlöcher wittern sollen.
Drei Stunden brauchen wir, um das erste zu finden; es gehört Inugtuk. Ich bleibe bei ihm, während sich der Rest der Gruppe in verschiedene Richtungen zerstreut. Er fängt nun mit den ersten Vorbereitungen an. Zunächst entfernt er die oberste Lage Schnee, so dass die Kuppel mehr hervorsteht. Dann schlägt er das frische Eis ab, das sich seit dem letzten Besuch der Robbe gebildet hat, und entfernt die Stücke mit einem Löffel aus dem Horn eines Moschusochsen. Dann nimmt er den »Fühler«, eine langes, gebogenes Gerät aus Horn, und stößt es hinunter in das Loch, um die Lage und Ausrichtung des senkrechten Schachtes zum Loch zu bestimmen. Das ist sehr wichtig, denn davon hängt ab, wie sich die Robbe zeigen wird, wenn sie hochkommt, um zu atmen; der Wurf der Harpune muss entsprechend erfolgen. Wenn sich das Loch direkt über der Mitte des Schachtes befindet, wird ein gerader Stoß von oben das Tier in der Regel treffen, aber wenn die Öffnung ein wenig seitlich liegt, ist Platz genug, dass die Harpune vorbeifliegt ohne zu treffen. Sobald das also festgestellt ist, wird wieder Schnee über das Eis gehäuft und mit der Harpune ein Loch durchgebohrt, so dass man eine klare Wurfrichtung hat, wenn der Moment kommt.
Das nächste Gerät, das zum Einsatz kommt, ist die »Feder«. Sie besteht aus einem Stück steifer Fußsehne von einem Karibu mit einem Stückchen Schwanendaune an einem Ende, das andere Ende ist gegabelt, so dass sie im Eisloch hängen bleibt, gerade so, dass man sie von oben noch sehen kann. Sobald die Robbe aufgestiegen ist und zu atmen beginnt, bewegt sich die Feder und der Jäger stößt zu.
Die Harpune besteht aus einem Schaft mit einer losen Spitze, an der eine Leine hängt. Wenn die Harpune trifft, bleibt die Spitze im Körper des Seehundes stecken und löst sich vom Schaft, so dass das Tier wie ein Fisch am Angelhaken hängt. Es wird dann aus dem Loch gezogen und getötet.
Sobald alles vorbereitet war, legte Inugtuk seinen Sack auf dem Schnee vor dem Loch aus und stellt sich darauf. Das vermeidet einerseits, dass der Schnee unter den Füßen knirscht, andererseits dient das auch als Schutz vor der Kälte. Und da stand er nun wie eine Statue, Harpune in Bereitschaft, und die Augen auf die Schwanendaune gerichtet, die gerade noch sichtbar war. Stunde und Stunde verging, und mir wurde klar, welch immense Menge an Geduld und Ausdauer für diese Art der Jagd nötig sind, und das bei Temperaturen um -50 °C. Vier Stunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor, aber es gibt Männer, die zwölf Stunden ohne Pause so gestanden haben in der Hoffnung darauf, den Hungrigen daheim Nahrung zu bringen.
Wir hatten uns gerade zum Aufgeben entschlossen, als wir bemerkten, dass jemand nicht weit weg einen Seehund erlegt hatte. Sobald er ihn herausgeholt hatte, rannten wir hin, um am »Jägermahl« teilzunehmen, eine immer durchgeführte Zeremonie, fast ein Sakrament. Alle knien nieder, der erfolgreiche Jäger zur Rechten, die anderen zur Linken. Ein kleines Loch wird in den Körper geschnitten, groß genug, um die Leber und eine Portion Speck herauszuholen, dann wird das Loch wieder zugesteckt, damit kein Blut verloren geht. Leber und Speck werden in kleine Stücke geschnitten und kniend gegessen. Ich empfand dieses zeremonielle Essen der ersten Bissen des Fleisches, von dem das Leben der Menschen abhängt, immer anrührend und feierlich.
Unsere gesamte Tagesbeute war dieser eine Seehund, und fünfzehn Mann waren elf Stunden dafür unterwegs gewesen. Aber meine Kameraden waren nur zu dankbar, dass sie überhaupt etwas nach Hause bringen konnten, was ganz sicher nicht immer der Fall ist. Man kann aber auch drei oder vier an einem einzigen Tage erlegen. Im Allgemeinen sind sie hier aber selten. Ich schätze, dass die durchschnittliche Beute pro Mann zwischen Januar und Juni zehn bis fünfzehn Seehunde beträgt. In einem Dorf mit 10 Familien und insgesamt 37 Bewohnern betrug die Jagdausbeute nur etwa 150 Seehunde. Ein geübter Jäger würde in Grönland etwa 200 in der gleichen Zeit erlegen, was die großen Unterschiede in den Lebensbedingungen zeigt.
Rasmussen, Knud
Across Arctic America. Narrative of the Fifth Thule Expedition
New York 1927
Übersetzung: U. Keller
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009