Winter 1903/04 - Kurt Faber
Überwinterung auf einem Walfänger bei Herschel Island
Wie überall auf der Erde, so ist auch im Eismeer die Zeit der Tag- und Nachtgleiche die Zeit der Stürme. Und fast schien es, als ob sie in diesem Jahre zu ihrem gewohnten Ungestüm noch ein Übriges tun wollte. Während des ganzen Monats September heulten die Stürme bald aus Nordwest, bald aus Nordost und begruben alles ringsum tiefer und tiefer indem weißen Schnee.
Aber das schlechte Wetter durfte uns in unserer Arbeit nicht aufhalten, denn es galt, das Schiff für die Winternacht herzurichten, ehe uns die große Kälte daran hinderte. Zunächst musste das Deckhaus errichtet werden, ein aus mitgebrachten Brettern roh gezimmertes Haus, das von der Back bis zum Achterdeck über das ganze Großdeck reichte. Es war natürlich nur eine notdürftige Behausung, die einen gewissen Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee gewähren sollte. Das Dach bestand aus großen Segeln, die über den nach vorn geschafften Besanbaum gespannt waren. Wenige Tage nach dem Einfrieren des Schiffes war diese Arbeit beendet, und wir konnten nun an die eigentliche Winterarbeit denken.
Es war an einem trüben, rauen Oktobertag, als die ganze Mannschaft, wohl ausgerüstet mit großen ungeschlachten Sägen und mit den langstieligen »Gaffhooks«, die man beim Zerlegen des Walfischs gebraucht, über Land zog. Wieder einmal tappte ich blindlings hinter der Herde her und wunderte mich, was man wohl jetzt mit mir anfangen würde. Zunächst erstiegen wir eine im Hintergrund der Bay gelegene Anhöhe. Es kostete manchen Schweißtropfen, bis alle oben angelangt waren, denn der Berg war steil und die Seebeine revoltierten energisch gegen die ungewohnte Zumutung. Aber die Aussicht allein, die man dort oben genoss, entschädigte reichlich für die Anstrengung. Tief unten lag das Schiff wie ein winziger schwarzer Käfer am Rande der endlosen Eisfläche, und vor uns erstreckte sich ein welliges Hügelland. In den Talmulden lag der Schnee in mächtigen Bänken aufgeschichtet, während auf den Kämmen der Hügel, wo der Wind freies Spiel hatte, noch überall die steifen Gräser unter der weißen Decke hervorschauten. Indes – der Aussicht zuliebe waren wir sicherlich nicht heraufgekommen. Nachdem alle Nachzügler angekommen waren, ging es weiter querfeldein durch den knietiefen Schnee, bis wir die glatte Eisfläche eines großen Teichs erreichten. Das war unser Ziel. Hier sollten wir das Trinkwassereis für den Winter schneiden. Wir machten uns mit Feuereifer an die Arbeit, denn Mr. Johnson, der die Aufsicht führte, hatte nicht verfehlt, uns gleich am Anfang auseinanderzusetzen, dass er nicht vom Platze weichen wollte, ehe der ganze Vorrat geschnitten und an Land geholt wäre. Und wir wussten, dass Mr. Johnson ein solches Gelübde nicht um der bloßen Rede willen abzulegen pflegte. Dort oben kam mir zum ersten Mal zum Bewusstsein, was es bedeutet, in der eisigen Kälte eines arktischen Wintertages eine schwere Arbeit zu verrichten. Die Temperatur – es mochten wohl zwanzig Grad unter Null sein – war erbärmlich rau, und die leichte Brise, die bald aus Norden, bald aus Nordosten wehte, machte die Kälte nur noch fühlbarer. Die Luft war dick und diesig, und die Sonne, die so kalt und lieblos durch den dicken Schleier hindurchschimmerte, war rings umgeben von einem weiten, frostigen Hof, an dessen Peripherie zwei eigentümliche Nebensonnen standen – eine Erscheinung, die sich im Herbst und Frühling an besonders frostigen Tagen zeigt und die der Seemann »Sonnenhunde« nennt.
War es schon eine Arbeit, die bereits zwei Fuß dicke Eisdecke zu durchsägen, so war dies doch ein Kinderspiel im Vergleich zu der Mühe, die es verursachte, die Stücke herauszufischen und am Ufer aufzustapeln. Die »Gaffhooks«, die man dazu verwendete, waren bald nur noch ein dicker Eisklumpen. Wir vollbrachten ein großes Tagewerk. Mr. Johnson machte beinahe eine befriedigte Miene, als seine kleinen grünen Augen über die mit der Kante nebeneinander aufgestellten Eisstücke wanderten, die wie eine lange, dunkle Reihe Soldaten in der weißen, mondbeschienenen Landschaft dastanden. Er meinte auch etwas mürrisch, dass wir heute nicht so ganz faul und nichtsnutzig wie sonst gewesen seien – die höchste Skala des Lobes, zu der der Gestrenge sich aufzuschwingen vermochte. Bei völliger Dunkelheit erreichten wir endlich wieder das Schiff.
Von jetzt ab begann das regelrechte Winterleben. Über unsere seemännische Vergangenheit war der Schwamm gegangen, und wir hatten uns wieder in richtige Landratten mit einem geregelten Arbeitspensum verwandelt. Von dem Leben und besonders von der Arbeit an Bord eines eingefrorenen Schiffes während der Winternacht pflegt sich der Laie meist sehr wunderliche Vorstellungen zu machen. Was sollte es auch zu tun geben, wenn das Schiff in sicherem Hafen eingefroren ist? Oder was könnte man arbeiten, zu einer Jahreszeit, in der man tagaus, tagein vor Dunkelheit nicht die Hand vor Augen sieht? Man vergräbt sich also gleich einem Bär oder einem Murmeltier in seiner Koje und schläft durch die lange Winternacht der lieben Sonne entgegen!
Gegen solch irrige Auffassung rufe ich Mr. Johnson als Zeugen auf. Unter seiner Aufsicht hat es an Bord des Bowhead nie an Arbeit gefehlt, und die Disziplin wurde selbst in den dunkelsten Tagen stets auf einem hohen Grad der Vollkommenheit gehalten. Und das war gut so, denn wer wollte durch all die langen, gleichmäßig dahin fließenden Monate, ohne die geringste Anregung von außen, seine Gemütsruhe bewahren, wenn ihm nicht die Rettung in Gestalt einer geregelten Tätigkeit zur Seite stünde! Und dann ist die körperliche Arbeit auch das einzige wirksame Gegenmittel gegen die schlimmste Geißel aller Eismeerfahrer: den Skorbut. Wohl liegt der erste Keim dieser entsetzlichen Krankheit in dem Mangel an frischen Nahrungsmitteln, aber einen günstigen Nährboden findet sie nur in dem stagnierenden Blut eines durch ungenügende Tätigkeit erschlafften Körpers.
Und die umgebenden Umstände sorgten während des ganzen Winters für die nötige Tätigkeit. Für jemand, bei dem die Trinkwasserfrage zeitlebens mit dem Gang zum Wasserhahn erledigt war, klingt es fast unglaublich, dass fast alle unsere laufenden Arbeiten in den Winterquartieren sich allein um diese Frage drehten. Nicht weniger als sechzehn Mann wurden der »Eismannschaft« zugeteilt. Sie hatten nichts weiter zu tun, als täglich den zweimal den großen Schlitten über die Hügel nach dem fernen Eissee zu ziehen und von dort im Laufe der Zeit das Frischwassereis, das wir an jenem kalten Oktobertag geschnitten hatten, nach dem Schiff zu bringen. Alle übrige Arbeit an Bord oder in der Umgebung des Schiffes war der »Schiffsmannschaft« vorbehalten. Es war weder eine Ehre noch ein Vergnügen zu diesem letztgenannten Teil der Besatzung zu gehören, und darum setzte sie sich zusammen aus denen, die keine Gnade fanden vor den Augen der gestrengen Vorgesetzten. Selbstverständlich befand sich auch meine Wenigkeit darunter, nebst dem anderen Deutschen. Als dritter gehörte dazu ein durchtriebener Junge namens John aus Boston und zwei Eskimos, die wir Jack und Joe getauft hatten. Wir waren die »Mädchen für alles«, und man verwendete uns zu den unglaublichsten Arbeiten.
Unsere erste Aufgabe war, das Schiff mit einem Schneewall zu umgeben. Die Sache war durchaus nicht so einfach, wie man annehmen sollte. Es vergingen Wochen, ehe wir damit fertig waren. Da die umgebenden Schneebänke, aus denen das Rohmaterial gewonnen wird, stets hart gefroren sind, müssen sie mit der Säge bearbeitet und der Schnee in Würfeln von etwa einem Kubikmeter Größe nach dem Schiff gebracht werden, wo diese von einem als Architekt abkommandierten Bootsteurer geformt und geschnitten und dann in kunstgerechter Weise längs der Schiffsseite abgebaut werden. In dieser Weise wird allmählich rings um das Schiff ein etwa zwei Meter dicker Wall aufgeschichtet, der bis zur Höhe des Hausdaches reicht. Mittschiffs führt ein breites, mit Schneemauern eingesäumtes Portal nach dem Inneren der Festung. Denn wie eine Festung steht das Ganze da, wenigstens solange der treibende Schnee die festen Umrisse des Baus noch nicht verwischt hat. Eine Märchenfestung aus Eis und Schnee. Anfang November war diese Arbeit beendet, und nun mochten unseretwegen die Winterstürme heranbrausen und ihre ohnmächtige Wut an den Masten und Rahen, Ketten und Tauen der hohen Takelage ausheulen! Wir waren gerüstet für ihr Erscheinen.
Man sollte meinen, dass die Temperatur auf einem derartig eingehausten Verdeck auf eine ganz behagliche Höhe steigen würde. Doch das war durchaus nicht der Fall, vielmehr herrschte dort während des ganzen Winters eine barbarische Kälte. Alles war hart und steif gefroren, und Dach und Wände waren mit einer dicken Reifschicht überzogen, bei deren Anblick mich jedes Mal eine Gänsehaut überlief. Nur der durch eine Bretterwand abgeteilte Achterteil des Deckhauses, von der Mitte der Großluke bis zum Rande des Achterdecks, war bewohnbar. Das war der »Bullroom«, der Salon des Schiffes. Hier hausten Steuerleute und Bootsteurer und andere Götter aus dem Achterteile. Hier saßen Sam und Schneeball beim warmen Ofen und spannen lange Garne mit bedächtig abgewogenen Worten. Zuweilen dröhnte dort auch die sonore Stimme des Kapitäns, gleich dem Brüllen des Löwen unter der Schar der geängstigten Lämmer. Den sonderbaren Namen Bullroom – eine Verunstaltung des Wortes » boil room« - hatte der Raum deshalb erhalten, weil hier das Frischwassereis geschmolzen wurde. In der Mitte waren zwei mächtige, aus leeren Petroleumtanks hergestellte Kessel aufgestellt, unter denen Tag und Nacht ein wohl genährtes Feuer brannte. In dem einen Kessel wurde Eis zu Koch- und Trinkwasserzwecken geschmolzen, während in dem anderen das als Waschwasser dienende Schneewasser hergestellt wurde.
Geradezu ungeheuerlich war der Holzverbrauch dieser Öfen, und es stellte sich bald heraus, dass der mitgebrachte Vorrat auch nicht annähernd imstande war, ihrem gesunden Appetit gerecht zu werden. Von nun ab wurde jeden Tag ein Hundeschlitten nach der Lagune geschickt, von wo wir im Herbst, kurz vor dem Einfrieren, die Holzladung an Bord gebracht hatten. Diese Schlittenpartien, die immer von einem Eskimo und einem Weißen begleitet werden mussten, waren nichts weniger als populär, denn der Holzplatz lag reichlich fünfzehn englische Meilen entfernt, was bei Hin- und Rückweg schon eine ganz ansehnliche Leistung war, ganz abgesehen davon, dass an Ort und Stelle das Holz erst mühsam unter dem Schnee hervorgeholt werden musste. Von Rechts wegen sollte jedermann der Besatzung der Reihe nach mit dem Schlitten gehen, aber da gewöhnlich niemand wusste, an wem die Reihe war, so musste Mr. Johnson ein Machtwort fällten, das dann immer zuungunsten derer ausfiel, die er am meisten liebte. So kam es, dass ich im Laufe des Winters sehr, sehr oft nach dem Holzplatz an der Lagune wandern musste.
Ganz unversehens war der Winter in aller Strenge hereingebrochen. Immer kürzer wurden die Tage, immer matter und kraftloser das Licht der Sonne, die nur noch zur Mittagszeit langsam und zögernd hinter der bläulichen Eisfläche hervorkam, die den Horizont im Südosten begrenzte. Übernatürlich groß schien der feurige Ball und blutigrot, wie das Bild eines kranken, verlöschenden Auges. Dann kam der Novembertag, wo noch einmal um Mittag der oberste Rand der Feuerkugel auftauchte, um Abschied zu nehmen für zwei lange, lichtlose Monate. Die Winternacht hatte begonnen.
Für den, der es nicht erlebt hat, ist es nicht möglich, sich einen richtigen Begriff davon zu machen, was man unter einer Polarnacht versteht. Sie ist durchaus nicht identisch mit dem Begriff der kohlpechrabenschwarzen Finsternis. Im Gegenteil! Wenn etwas an ihr imstande ist, dem Menschen als bleibende Erinnerung anzuhaften, so ist es das eigenartige Spiel des wechselnden Lichts. Es mag wohl die frostige Luft und die reflektierende Wirkung der grellen Schneedecke sein, die das Licht der zahllosen Gestirne so scharf und feurig erscheinen lässt. Selbst das Tageslicht war mit der Sonne noch lange nicht verschwunden. Zu Anfang der Nacht lag die Dämmerung täglich stundenlang über dem Horizont und tauchte den ganzen südlichen Himmel in glühende Farben von flammendem Rot und leuchtendem Blau, und selbst zur Zeit der Sonnenwende huschte um die Mittagsstunde ein verstohlener Streifen von fahlem Dämmerlicht durch das Dunkel der Nacht.
Ja, es ist wunderbar, das nördliche Eismeer, aber seine größten und schönsten Wunder enthüllt es nur dem, der sie mit den kalten Monaten der langen Winternacht bezahlen will.
Langsam schlichen die dunklen Tage vorüber, eine einzige, endlose Nacht, in der die Tage sich zu Monaten und die Monate zu Ewigkeiten verzerrten. Zuweilen lag in langen Wochen zu jeder Stunde des Tages das bleiche Mondlicht über der Landschaft, und dann wieder kamen andere Wochen, wo ringsum alles schwarz und dunkel war, wo die Sterne, kalt und klar und übernatürlich groß, wo funkelnde Stahlspitzen am frostigen Nachthimmel standen und nur ab und zu ein unstetes Nordlicht einen flimmernden Schein durch das Dunkel warf. Und wie das alles sich tagaus, tagein in gleichem Wechsel abspielte, da war es uns allen, als ob das immer so gewesen wäre, als ob es nie einen Sommer gegeben hätte und die lange Winternacht kein Ende nähme. Gab es wirklich noch irgendwo auf dieser Erde eine Stelle, wo stolze Bäume ihre Äste zum Himmel recken und der lustige Bach im lachenden Sonnenschein durch das Wiesental eilt? Und gar erst die Städte mit ihrem Menschengewimmel, die Autos, die elektrischen Straßenbahnen – das alles war sicher nur ein Traum, und das einzig Wahre und Gewisse war Nacht und Eis, und die weltverlassene Insel mit ihren Eskimo-Iglus und der Bowhead und Johnny Cook mit seiner pomadigen Miene und der leuchtenden Glatze, und dieser Mr. Johnson.
Doch auch eine arktische Winternacht hat einmal ein Ende. Ganz unmerklich kam es: der fahle Schein des Dämmerlichts, der alltäglich um die Mittagsstunde über die Gipfel der Berge huschte, die im Süden das Gesichtsfeld begrenzten, breitete sich mit jeder Wiederkehr weiter aus, und bald stand er stundenlang am Himmel, ein buntes, wechselndes Farbenspiel von Rot und Blau. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne wider käme. Und sie kam!
Wieder wie damals, vor beinahe zwei Monaten, als wir sie zum letzten Mal gesehen, war es ein klarer, bitterkalter Tag, und wieder war der Himmel lebendig mit tausend Farben. Die hohe Bergkette des Festlandes glühte in dunkelvioletten Farben, und ihre scharfkantigen Gipfel waren getaucht in ein Meer von flammendem Rot. Kaum drei Minuten war die oberste Kappe der roten Feuerkugel zu sehen, aber dennoch lange genug, um einen Strahl der Hoffnung in die Seelen von Mensch und Tier zu senden, denn selbst die Hunde begrüßten die Erschienung mit freudigem Geheul. – Wer nie im Schatten einer arktischen Winternacht gelebt hat, der weiß nicht, wie viel Trost und wie viel Freude in diesem ersten Sonnenblick liegt!
Faber, Kurt
Unter Eskimos und Walfischfängern
7. Auflage, Stuttgart um 1917