1899 - Otto Sverdrup
Moschusochsen
Ellesmere Island
Jeden Augenblick erwartete ich Polarochsen zu sehen, erblickte aber nichts weiter als Spuren und sprach Bay [Zoologe der Expedition] meine Verwunderung darüber aus.
Als wir noch hierüber sprachen, gewahrten wir plötzlich eine große Herde, die ziemlich hoch über dem Talgrunde auf einer Halde lag.
Sich an die Herde heranzupirschen, war absolut unmöglich; wir gingen also gerade darauf los. Die Tiere lagen still, bis wir auf 300 bis 400 Meter herangekommen waren, dann setzten sie den steinigen Abhang hinauf und bildeten ziemlich hoch oben auf einem jungen Gipfel ein geschlossenes Karree. Dort hätten wir die ganze Herde mühelos abschießen können, wenn wir es gewollt hätten; aber der Weg dort hinauf war uns zu weit, und wir fuhren daher weiter.
Später sahen wir immer kleine Herden auf den Bergweiden, meinten aber, die Verfolgung würde uns zu viel Zeit rauben. Wir brauchten zwar Hundefutter, da wir viel davon bei den Stromschnellen zurückgelassen hatten; aber wir hofften die ganze Zeit über auf eine günstige Gelegenheit. Die ließ auch nicht lange auf sich warten. In der Nähe der Wasserscheide erblickten wir gerade vor uns, aber noch ziemlich weit entfernt, vier prächtige Ochsen. Um die Tiere nicht zu verscheuchen, machten wir Halt, ich blieb bei den Hunden, und Bay ging auf die Jagd.
Die Tiere gingen talwärts weiter und kamen mir nach wenigen Minuten aus den Augen. Ziemlich kurze Zeit, nachdem Bay fortgegangen war, glaubte ich schießen zu hören, war aber meiner Sache nicht sicher, da ein richtiger Sturm wehte. Gleich darauf aber hörte ich einen gleichen Knall und hatte nun Gewissheit, dass die Jagd in vollem Gange war. Die Hunde meines Gespanns wurden durch die Schüsse ganz wild gemacht und gingen mit solcher Sturmesschnelle durch, dass ich mit knapper Not noch auf den Schlitten springen konnte.
Wie ein Schnellzug ging es über die Grasebenen hin; der Schlitten sprang von einer Schneewehe zur anderen, und ehe ich dessen versah, saß ich auf dem Schnee, eine ziemliche Strecke von meinem Schlitten, der an einen Haufen Firnschnee geprallt und umgeworfen worden war. Ich raffte mich sofort auf und sprang auf einen anderen Schlitten, der gerade vorbeisauste, und weiter ging es wieder so schnell, dass die Luft pfiff, bis der Schlitten endlich von einem steilen Sandrücken auf der Nordseite Halt machte.
Dort traf ich Bay, der in derselben Richtung unterwegs war. Ich wunderte mich, ihn dort zu treffen, denn ich hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er auf die Tiere, die ich gesehen, geschossen hatte. Sie mussten mindestens ein paar tausend Meter von ihm entfernt gewesen sein, als der Schuss krachte. Bay ließ denn auch nachher verlauten, dass er sich »weiß Gott, in der Entfernung geirrt«, es sei »weiß Gott, weiter gewesen, als er geglaubt«. Wie weit es in Wirklichkeit war, wurde ihm erst klar, als er am nächsten Tag vom Gletscher auf der anderen Seite des Tales »Kocheis« (Süßwassereis zum Kochen) holen musste.
Inzwischen hatten die Hunde die Tiere gewittert, und da die Schlitten hielten, machte ich sie von der gemeinsamen Leine los und erklomm den Abhang, begleitete von Bay, der dem Wild nachsetzte, als hätte er Feuer unter den Sohlen. Ich kam mit meiner Flinte langsam nach, es machte mir Spaß, dieser Art zuzusehen. Als ich den ersten Abhang unter mir hatte, sah ich, dass vier Ochsen Karree gebildet hatten und die heraufstürmende Hundeschar erwarteten. Sie waren augenscheinlich entschlossen, den Kampf aufzunehmen, und als die Hunde anlangten, begann ein eigentümliches Schauspiel.
Die Ochsen hatten, wie gesagt, Karree gebildet. Sie standen in bestimmtem Abstand voneinander, den Hinterleib aneinander gedrängt und den Kopf nach außen gekehrt. Der Reihe nach machte jeder einen blitzschnellen Ausfall in Gestalt einer kreisförmigen Bewegung von links nach rechts. In demselben Augenblick, da ein Ochse seinen Platz wieder eingenommen hatte, machte sein rechter Nachbar denselben Ausfall, und so weiter mit militärischer Präzision. So lange das Manöver währte, war immer einer der Ochsen in Ausfallstellung und versuchte dabei, seinen Gegner zu spießen oder fortzuschleudern.
Die Größe des Ausfallkreises wird durch den Abstand, in dem sich der Feind befindet, und durch die Terrainverhältnisse bedingt. In der Regel beträgt sie 10 bis 12 Meter von dem eigentlichen Karree; ein einziges Mal sah ich einen Ausfall sogar 100 Meter weit machen. Die stehenbleibenden Ochsen decken unaufhörlich die im Karree entstandene Lücke, machen aber ihrem Kameraden, sobald er sein Runde beendet, augenblicklich Platz. Dann und wann, wenn der Kampf zu lange dauert, verschnaufen sie sich, um darauf wieder mit ungeschwächter Kraft zu beginnen. Den höchsten Grad von Präzision erreichen gleichaltrige Ochsen, die sich gleich geübten Kampfbrüdern an ihrer Verteidigung wie an einem willkommenen Sport zu erfreuen scheinen.
Ich habe Herden von bis zu dreißig Tieren Karree bilden sehen. Die Kälber und Färsen standen in der Mitte, die Ochsen und alten Kühe hatten sich in der Verteidigungslinie aufgestellt wie die Striche einer Kompassrose. Als es an wehrpflichtigen Linientruppen zu fehlen begann, wurde die Reserve der bis zu zweijährigen Färsen mobil gemacht.
Unter solchen Umständen waren die Bewegungen selbstverständlich nicht so regelmäßig und die Disziplin nicht so streng. Zuweilen konnte ich sehen, wie alte Ochsen, die ihrer eigenen Überlegenheit todsicher waren, als eine Art Vorposten 20 bis 25 Meter außerhalb des Karrees Aufstellung nahmen. Zum Teil geschah es wohl zum Zweck der Verteidigung, um den ersten Strauß auf sich zu nehmen, aber häufiger wahrscheinlich, um auf eigene Rechnung eine richtige Schlacht zu liefern. Es geschah manchmal, um auf eigene Rechnung eine richtige Schlacht zu liefern. Es geschah manchmal, dass zunächst die ganze Herde sich zu einem Karree zusammenschloss und dass dann ein oder zwei mutige Kämpen in die Vorpostenlinie spazierten. In der Regel hatten sie aber ihren Schlachtplan von vornherein bereit.
Hatten die Tiere erst die Karreestellung eingenommen, so entflohen sie nicht, sondern blieben so lange auf ihrem Posten, bis entweder der Angriff abgeschlagen oder das ganze Karree gefallen war. Ich habe selbst den letzten Ochsen seinen Ausfall machen und dann wieder zu seinen gefallenen Kameraden zurückkehren sehen.
Hatten sie sich gegen einen einzelnen Feind zu verteidigen, so stellten sie sich bisweilen in einer einzigen Schlachtreihe ohne Flankendeckung auf und standen dann Stirn an Stirn und Horn an Horn da.
Ihr Verteidigungswesen ist im Großen und Ganzen jedem nur denkbaren Angriff von dort oben vertretenen Gegnern aus dem Tierreich absolut überlegen, sei der Angreifer nun Wolf oder Bär. Man fragt sich unwillkürlich, welcher Feind den eigentlich ihre Strategie auf so bewundernswürdige Weise entwickelt haben kann.
Die Eisbären können es nicht gewesen sein, denn sie treten nicht in Scharen auf und kommen auf dem Treibeis rascher vorwärts als an Land. Außerdem bin ich überzeugt, dass ein Polarochse einem Bären Herr wird. Er ist so schnell in seinen Bewegungen, hat eine so gewaltige Kraft in seinem Nacken und ist mit so gefährlich spitzen Hörnern ausgerüstet, dass er dem Bären gegenüber ruhig sein kann.
Welchen anderen Feind sollte er in diesen Gefilden zu fürchten haben? Den Wolf? Ja, dieser ist der einzige. Aber der Wolf tritt hier nicht in größeren Rudeln auf; er streift am liebsten einzeln oder paarweise umher (die größte Zahl, die ich je beisammen gesehen habe, war zwölf) und ernährt sich hauptsächlich von den unschuldigen Polarhasen, von denen es hier wimmelt. Andere Feinde aus dem Tierreich hat der Polarochse in den arktischen Regionen, in denen er sich jetzt aufhält, nicht. Er muss also entweder aus Gegenden, wo er gefährlichere Feinde gehabt hat, eingewandert sein, oder der Wolf muss früher in so großen Scharen aufgetreten sein, dass die gemeinschaftliche Verteidigung notwendig gewesen ist.
Ich neige letzterer Ansicht zu. Die ganze Einrichtung ihres Verteidigungswesens und ihre Taktik lassen darauf schließen, dass sie sich gegen Massenangriffe von Feinden haben verteidigen müssen, von denen sie infolge deren großer Anzahl hätten überwältigt werden können, die sie aber einzeln leicht hätten zu besiegen vermocht. Die ständigen Ausfälle mit stets frischen Kräften geschehen augenscheinlich zu dem Zweck, einen oder mehrere Feinde zum Angriff zu verlocken, um dadurch Gelegenheit zu erhalten, sie einzeln zu töten und so allmählich ihre Zahl zu verringern. Wenn das nicht die Absicht wäre, würde das Karree an und für sich schon genügen, um jeden Angriff zu widerstehen. Aber dann würden die Ochsen, die Wiederkäuer sind und deren Ernährungssystem häufige Nahrungszufuhr erfordert, von den Angreifern, die wie die Mehrzahl der Raubtiere Hunger und Durst wochenlang ertragen können, ausgehungert werden.
Bei der Gelegenheit von der ich hier erzählt habe, kamen unsere Hunde mehrmals sehr ins Gedränge. In einem Augenblick hatte einer der Ochsen den Zaum des einen Hundes erfasst, und ich glaubte schon, der Hund sei geliefert, aber er kam doch noch mit heiler Haut davon.
Bay stellte sich in guter Treffweite auf und begann zu schießen. Schuss auf Schuss fiel; aber die Tiere bleiben stehen als sei nichts geschehen. Nach meinem Rate zielte er nun auf die Köpfe, und jetzt fiel auf jeden Schuss ein Tier.
In meinem Tagebuch lese ich:
»Es waren vier große Ochsen. Zwei von ihnen waren alte Veteranen mit abgebrochenen Hörnern, die von siegreichen Kämpfen zeugten. Doch sie hatten es sicher noch nie mit dem schlimmsten Raubtier, dem Menschen, zu tun gehabt. Ich war sehr froh, dass ich bei dieser Gelegenheit nicht Schütze zu sein brauchte und dass Bay die Schlachterarbeit so bereitwillig übernahm. Es widerstrebt mir, friedliche Tiere, die sich so gut verteidigen, niederzuschießen. Das ist kein Sport mehr, das ist reines Morden; dazu bedarf es keines Geschickes, und es erregt auch keine Spannung. Ein jeder kann eine Koppel Hunde auf die Spuren loslassen und dann gemächlich mit der Flinte hinterdrein spazieren, dicht an die Tiere herangehen und die ganze Herde niederschießen.«
Doch was sollten wir tun? Fleisch mussten wir haben, und Not kennt kein Gebot.
Sverdrup, Otto
Neues Land
1. Band, Leipzig 1903