Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1873 - Emil Bessels
Von Robben und Robbenschlägern
Vor Labrador

Kurz vor dem Beginn der Schneeschmelze herrscht in den größeren Häfen der Insel Neufundland ein reges Treiben. Aus der Tatenlosigkeit des freudenleeren Winters tritt die seemännische Bevölkerung des Eilandes in ein geschäftiges Leben, denn nun wird die Ausrüstung jener Schiffe begonnen, welche zum Robbenschlag bestimmt sind.
   Seit die Neufundländer den Wert dieses Gewerbes kennen gelernt haben, schwärmen ihre Segel alljährlich in der Nähe von Labradors Küste. Im Jahre 1807, als die ersten Anfänge gemacht wurden, belief sich die Zahl der Schiffe nur auf dreißig, fünfzig Jahre später dagegen nahezu auf vierhundert. Damals hatte dieses blutige Handwerk seinen Höhepunkt erreicht. An dem mörderischen Vernichtungskrieg waren nicht weniger als 13.600 Menschen beteiligt, die während einer zweimonatigen Reise gegen 500.000 Robben erbeuteten, deren Wert sich zu jener Zeit auf die runde Summe von 425.000 Pfund Sterling belief. Aber es währte nicht lange, bis der Unternehmungsgeist gedämpft wurde; denn durch den rücksichtslosen Betrieb der Jagd hatten die zuvor zahlreichen Robbenherden sich so gewaltig vermindert, dass der Gewinn der Reeder ein überaus fraglicher wurde.
   Als später die Trantiere wieder in größeren Mengen erschienen, entbrannte der erloschene Eifer der Neufundländer aufs Neue …
   Wohl ist in günstigen Jahren der Gewinn des Robbenschlags ergiebig, allein das Leben des Robbenschlägers, während er sein Gewerbe betreibt, ist ein wenig beneidenswertes, reich mit Gefahren gewürztes, und sauer muss er sein Brot verdienen.
   Wenn die frühen März-Orkane und die damit verbundenen Sturmfluten das Eis brechen, welches die Häfen von St. Johns, Catalina, Harbor Grace und der übrigen Robbenschläger-Stationen deckt, so lichten die Schiffe die Anker und stechen unverzüglich in See: denn nun »setzen sich« die Robben, um ihre Jungen zu werfen. Niemand weiß, woher sie kommen; niemand, wo sie während der letzten Monate vor ihrer Ankunft sich aufgehalten. Plötzlich erscheinen sie. Aber nicht vereinzelt, nicht zu Hunderten, nein, nach Tausenden muss man sie zählen, denn dicht gedrängt bedecken sie meilenweit das Eis.
   Gewohnheitsgemäß suchen die Muttertiere als ihre Wurfplätze große Felder aus, stark genug, um dem Sturm und dem Wogendrange zu widerstehen. Denn obschon überwiegend ein Wassertier, geht die junge Robbe unfehlbar zu Grunde, wenn sie gezwungen wird, ihren Aufenthalt auf dem Trockenen vor der bestimmten Zeit gegen das Leben im Wasser zu vertauschen: Ein altes Erbübel von ihren Vorfahren, welche das Licht der Welt auf dem Lande erblickten und auch dort ihre Tage beschlossen.
   Diese Eigentümlichkeit der Tiere behält der Jäger stets im Auge. Es erfordert langjährige Übung und einen scharfen Blick, um den Ort ausfindig zu machen, wo die Robben sich gesetzt haben. Es hängt lediglich von der Beschaffenheit des Eises ab, ob die Tiere nahe an dessen Außenkante lagern oder weiter von ihr entfernt. Liegt vor der Hauptmasse des Packs eine ausgedehnte Fläche jüngeren Eises, so wird diese von den Schiffen durchbrochen, denn hinter ihr erwartet der Jäger seine Beute zu treffen. Stößt er dagegen sogleich auf ältere Felder, so folgt er deren Rändern, weil die Robben es lieben, halbinselartige Eiszungen aufzusuchen, von denen die Jungen später leicht zum Wasser gelangen können.
   Vom ersten Schein der Morgendämmerung bis zur sinkenden Nacht steht in dem Mastkorbe fortwährend eine Wache, welche, mit trefflichen Fernrohren versehen, aufmerksam das Eis untersucht. Trotz der günstigsten Anzeichen lässt sich zuweilen kaum eine Robbe blicken und der Jäger verbringt den besten und größten Teil der Jahreszeit mit fruchtlosem Kreuzen. Nicht selten hängt die Ausgiebigkeit des Fangs sogar mehr von dem Zusammenwirken glücklicher Zufälle ab als von dem Urteil und Scharfblick des Schiffsführers. So kann im Laufe weniger Tage ein Fahrzeug eine volle Ladung schlagen, während ein anderes, welches nur wenige Meilen von diesem entfernt war, völlig leer ausgeht oder nur eine geringe Beute macht. Oft wird ein Schiff vom Eis besetzt und die Mannschaft erblickt in der Ferne die Robbenherden, ohne sich ihnen nähern zu können, und muss es ruhig über sich ergehen lassen, dass Andere, denen das Glück günstiger ist, die Tiere erlegen.
   Bei stürmischer Witterung suchen die Fahrzeuge meist inmitten des Packeises Schutz, wo der Seegang minder heftig ist als vor dessen Kante. Dann ereignet es sich wohl, dass am nächsten Morgen, ohne dass abends zuvor eine Robbe sichtbar gewesen wäre, die Schiffe von ihnen förmlich umlagert sind.
   In solchen Fällen gilt es rasch und mit Umsicht zu handeln. Mit Ausnahme des Befehlshabers und einer geringen Besatzung greift nun ein jeder zu dem Robbenknüttel, einer festen Stange von etwa anderthalb Meter Länge, welche an einem ihrer Enden einen schweren Doppelhammer trägt. Von wilder Mordlust erfüllt, zerstreuen sich Hunderte von Menschen in alle Richtungen über das Eis, um mit jedem Schlage ein armes, wehrloses Geschöpf zu vernichten.
   Die Tiere, gewöhnlich so scheu, dass es eines gewiegten Jägers bedarf, um sie zu schießen, und einer noch erfahreneren Hand, sie zu harpunieren, haben plötzlich, unter der Sorge um die Jungen, ihre Furcht gänzlich abgelegt und lassen sich widerstandslos töten. Nur in Ausnahmefällen, wenn das Kleine zu klagen beginnt, wobei es Laute ausstößt, welche dem Blöken eines Lammes oder dem Schreien eines Kindes gleichen, verteidigt die Mutter ihre Brut mit wilder Verzweiflung. Sie beißt wütend um sich, sie kratzt und lässt es sogar nicht an vergeblichen Versuchen fehlen, den Jäger in die Flucht zu schlagen.
   Dieser jedoch kennt kein Erbarmen. Er wird nur von Gewinnsucht geleitet, welche ihn hier blind macht für die Leiden und Qualen der armen Geschöpfe und dort seinen Blicken die Schärfe des Fernrohrs verleiht, dass er die Beute selbst dann noch erspäht, wenn sie weit entfernt von ihm ist und sich nur als dunkler Punkt am eisigen Horizonte zeigt.
   Nicht ohne den tiefsten Abscheu zu empfinden, kann man ihr zuschauen, dieser unweidmännischen Jagd, welche diesen Namen kaum mehr verdient; denn sie ist niedriger als die niedrigste Ausjägerei, in einem Maße ausgeführt, welches Grauen erregt. Bis auf wenige Schritte nähert sich der Jäger dem Muttertiere, welches, langsam das Haupt erhebend, ihn mit großen, glanzvollen Augen wehmütig anschaut. Ihr Blick ist zweifellos menschenähnlich. Wer diesen Ausdruck in dem Antlitz eines Menschen gewahrte, würde zurückschrecken vor der unendlich tiefen Seelenqual, die sich mit grausamer Deutlichkeit darin spiegelt.
   Ihn jedoch rührt dieses Augenpaar nicht, von welchem die Sage meldet, dass es Tränen der Wehmut vergieße. Fester nur fasst er die Mordwaffe, erhebt sie dann zu wuchtigem Schlage und zerschmettert den Schädel seines Opfers. Dieses zuckt im grimmen Todeskampfe oder sucht, wenn nur schlecht getroffen, sich mit ungelenken Bewegungen durch die Flucht seinem Verfolger zu entziehen. Er aber wendet nur die Waffe, erhebt sie abermals und schlägt die scharfe Spitze des Hammers in den Rücken des gequälten Tieres. Und es so zum Halt bringend, erhält es einen zweiten Schlag auf den Schädel und einen dritten, bis dieser zertrümmert ist. In diesem Moment, unter doppelten Schmerzen, bringt die Mutter häufig ihr Junges zur Welt. Und das Tierchen, welches kaum die Luft geatmet, die es umgibt, kaum das Licht geschaut, dessen Strahl sich zitternd an den Eisbauten bricht, stirbt im Augenblick, da es ins Leben tritt, während das Pochen seines Herzens fast noch geleitet wird von den Schlägen des rasch erlahmenden Mutterherzens. Ein Fußtritt auf das noch weiche Haupt bereitet ihm gewöhnlich ein rasches Ende; nur selten bedient sich der Schlächter des Hammers, dessen Handhabung mehr Kraft und Zeit verlangt, als das Heben des Fußes. Nicht umsonst darf er sich Ermüdungen aussetzen; nicht nutzlos seine Zeit vergeuden, denn viel blutige Arbeit harrt seiner noch.
   So rasch er zum Schlage ausholen kann, so oft erlegt er eine Robbe, wenn dieser richtig geführt war. Und er steht nicht allein in diesem grausamen Vernichtungskriege, denn in derselben Weise wie er wüten seine zahlreichen Genossen. Jeder Einzelne kann im Laufe einer Minute drei bis fünf dieser Tiere erlegen; und die Anzahl der Minuten ist beträchtlich in einer Stunde, lang ist der Tag unter jenen Breiten und ehe es dunkelt, nimmt das Morden kein Ende. Das Eis ist blutgetränkt wie ein Schlachtfeld; der Schnee meilenweit gerötet von den Fußtritten der Schlächter, welche mit dem Anbruch der Nacht nach dem Schiffe zurückkehren, dessen Führer, das Fernrohr in der Hand, dem grauenvollen Gemetzel in allen seinen Bewegungen folgte.
   Zu umfangreichen Haufen getürmt, bedeckt die regungslose Beute die Umgebung. Diese aber ist eine trügerische. Ein leichter Wind kann das Eis in Gang bringen, eine hohe Flut die Felder zertrümmern – und dann sind Tausende armer Geschöpfe zwecklos gemordet und verfallen dem Meere, dem sie entstammen.

Bessels, Emil
Die amerikanische Nordpolexpedition
Leipzig 1879

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

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