1859 - Francis Leopold McClintock
Erste Spuren der Franklin-Expedition
King William's Island, Kanada
Am 29. Mai erreichten wir den äußersten Westen von King William's Island bei 69° 08' N und 100° 08' W. Ich benannte es nach Crozier, dem Kapitän der Terror und dem tapferen Führer jener eitlen Hoffnung, von der wir nun Kunde erhielten. Wir marschierten an einer ebenen Küsten entlang; sie bestand aus sehr flachen Rücken von grobem Kies aus Kalkstein, nahezu ohne Fossilien. Die einzigen Tierfährten stammten von einem Bären und ein paar Füchsen, die einzigen Lebewesen waren Moorschneehühner. Hinter Kap Herschel gab es auch weniger Spuren von wandernden Eskimos, nur ein paar Steinkreise, die als Zeltplätze dienten; sie waren so von Moos überwachsen, dass man sah, dass sie sehr alt waren. Die Aussicht nach See zu war auch unfreundlich – eine raue Fläche von zerstoßenem Packeis, dazwischen viel dickes Eis. In diesen flachen, vom Eis bedeckten Meeresgegenden findet man nur selten Robben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es im Wasser genau so wenig tierisches Leben gibt wie an Land.
Hinter Kap Crozier biegt die Küste scharf nach Osten um; früh am Morgen des 30. Mai lagerten wir uns neben einem großen Boot – einem weiteren traurigen Relikt, das Hobson [1. Offizier unter McClintock und Führer eines zweiten Suchtrupps] schon vor ein paar Tagen entdeckt und untersucht hatte, wie eine von ihm zurückgelassene Nachricht vermerkte. Er hatte aber keinerlei Berichte, Tagebücher, Notizbücher oder Mitteilungen gefunden.
Eine große Menge von Kleiderresten befand sich im Boot, und die untersuchten wir zuerst. Kein Stück trug den Namen seines ehemaligen Besitzers. Wir räumten das Boot aus und säuberten es, damit wir auch nichts übersähen, dann wurde auch der Schnee um das Boot herum weggeräumt, aber es gab nichts zu finden.
Dieses Boot war 8,5 Meter lang und 2,2 Meter breit. Es war leicht und für geringen Tiefgang gebaut und offensichtlich sorgfältigst für die Einfahrt in den Great Fish River ausgestattet. Es gab weder Riemen noch Steuer, statt dessen Paddel; da wir Überreste eines großen Stückes leichten Segeltuches, gemeinhin Nr. 8 genannt, und einen kleinen Block für das Durchscheren einer Schot fanden, nehme ich an, dass es ein Segel hatte. Ein schräg geneigtes Dach oder einen Regenschutz aus Segeltuch hatte es auch. Ein Wetterschutz von 23 Zentimeter Höhe lief rings um den Rand, gehalten von 24 eisernen Stützen, die so beschaffen waren, dass sie auch als Dollen für Ruder benutzt werden konnten. Es lag eine Lotleine von 90 Meter Länge nahe beim Boot wie auch ein Eisanker. Ursprünglich war es wohl in Karweel-Bauweise gebaut worden, aber um Gewicht zu reduzieren, hatten dünne Fichtenholzbretter die sieben oberen Planken ersetzt, und es war ein Klinkerboot daraus geworden.
Das Gewicht des Bootes allein betrug zwischen 300 und 350 Kilogramm; es war auf einem Schlitten von ungewöhnlicher Größe und Stärke montiert, der aus zwei Eichenbohlen bestand, die 20 Zentimeter breit und im Mittel 6 Zentimeter dick waren. Diese Bohlen bildeten die Kufen, die durch fünf eichene Querhölzer verbunden waren, jedes 1,2 Meter lang und 10 mal 9 Zentimeter dick und mit Bolzen auf den Kufen befestigt; deren Unterseite war mit Eisen beschlagen. Auf jedem Querholz lag eine Art Sattel als Unterlage für das Boot, und die Leinen, mit denen die Mannschaft diesen ungeheuren Schlitten und seine Last gezogen hatte, bestand aus 7 Zentimeter starker Walleine.
Ich habe ausgerechnet, dass das Gewicht des Schlittens bei 300 Kilogramm lag. Weniger kann es nicht sein, eher erheblich mehr. Das Gesamtgewicht von Boot und Schlitten betrug um die 650 Kilogramm, was eine Riesenlast für sieben starke, gesunde Männer wäre.
Die einzigen Zeichen befanden sich auf dem Steven des Bootes, daraus erfuhren wir, dass es von einem freien Bootsbauer stammte und auf der Werft von Woolwich im April 184** angenommen worden war und die Nummer 61 trug. Es wird wohl eine weitere Zahl gegeben haben, aber der Steven war schmaler gemacht worden, um das Gewicht des Bootes zu verringern. Der Grund, auf dem der Schlitten ruhte, war der übliche Kies, ganz eben, und möglicherweise jeden Sommer überflutet, denn die Steine waren in Eis eingebettet.
Das Boot lag nur noch teilweise in seiner Halterung auf dem Schlitten, und zwar so, dass ich annahm, dass es ein starker Nordweststurm herumgeworfen hätte. Es lag kaum, wenn überhaupt, oberhalb des Flutsaumes von gelegentlichem Hochwasser.
Hundert Meter landeinwärts lag der Stumpf einer Fichte, 3,7 Meter lang und 40 Zentimeter im Durchmesser in einem Meter Höhe über den Wurzeln. Das Eis hatte ihn zwar rau behandelt, während er an diesen Strand getrieben wurde und jede Spur von Rinde abgeschliffen, aber das Holz war völlig intakt. Es mag hier schon zwanzig oder dreißig Jahre lang liegen und in dieser Zeit in dieser frostigen Weltgegend weniger leiden als in einem Sechstel der Zeit zu Haus. Innerhalb eines halben Meters um den Stamm herum wuchsen ein paar kleine Grasbüschel.
Aber das alles fiel uns erst später auf. Was im Boot lag, erfüllte uns mit Grauen. Es waren die Teile zweier Skelette. Eines gehörte zu einer schlanken, jungen Person, das andere zu einem großen, kräftig gebauten Mann mittleren Alters. Ersteres wurde im Bug des Bootes gefunden, aber in der Lage zu sehr gestört, als dass man bestimmen konnte, ob der Mann auch dort gestorben war. Große kräftige Tiere, wahrscheinlich Wölfe, hatten einen Großteil dieses Skeletts zerstört, das vielleicht einmal ein Offizier war. Nahebei fanden wir Reste von bestickten Hausschuhen. [Hier folgt eine Zeichnung und eingehende Beschreibung, damit daheim in England sie vielleicht jemand wiedererkenne könne.] Ursprünglich waren sie 28 Zentimeter lang gewesen, mit Kalbsfell besetzt und die Ränder mit rotem Seidenband eingefasst. Daneben fanden wir ein Paar kleiner, fester Jägerstiefel. Das andere Skelett war besser erhalten (vom Schädel wurden bei beiden nur der Unterkiefer gefunden) und in Kleidung und Felle gehüllt. Es lag quer im Boot unter der Achterducht. Dicht daneben lagen fünf Uhren, und zwei doppelläufige Gewehre – jeweils ein Lauf geladen und gespannt – standen mit den Läufen nach oben an die Bootswand gelehnt. Es ist klar, dass wir diese traurigen Überreste mit starkem Interesse untersuchten und gespannt jeden Kleidungsrest umdrehten, um Taschen, Notizbücher, Tagebücher oder auch einfach nur Namen zu finden. Fünf oder sechs kleine Bücher wurden gefunden, mit einer Ausnahme, dem »Vicar of Wakefield«, religiöse Werke. Ein kleines Buch »Christliche Gesänge« zeigte auf der Titelseite eine Inschrift des Gebers an G.G. – Graham Gore? [Offizier auf der Erebus.] Eine kleine Bibel enthielt zahlreiche Randnotizen und unterstrichene Abschnitte. Außerdem fanden wir noch die Einbände eines Neuen Testaments und eines Gebetbuches.
Unter der erstaunlichen Menge an Kleidungsstücken fanden sich sieben oder acht Paar Stiefel verschiedener Art: Stoffstiefel für den Winter, Seestiefel, schwere Halbstiefel und feste Schuhe. Ich bemerkte auch seidene Taschentücher in schwarz, weiß und gemustert, Handtücher, Seife, Schwämme, Zahnbürsten und Kämme. Wasserdichte Gewehrhüllen, mit schwarzem Tuch gefüttert und außen in Farbe mit der Bezeichnung A12 markiert; dann gab es noch Schnüre, Nägel, Sägen, Feilen, Bürsten, gewachsten Faden, Segelmacherhandschuhe, Pulver, Kugeln, Schrot, Kartuschen, Pfropfen, lederne Kartuschenbehälter, Messer (Klappmesser und normale Tafelmesser), Nähzeug, einige Bajonettscheiden, zu Messerscheiden zurechtgeschnitten, zwei Rollen Bleitafeln, und, kurz gefasst, erstaunlich viele unterschiedliche Dinge, die moderne Schlittenreisende in diesem Teil der Welt eher als totes Gewicht denn als nützlich betrachten würden, und die vermutlich die Kraft der Schlittenmannschaften verbraucht hatten.
Die einzigen Nahrungsmittel, die wie finden konnten, waren Tee und Schokolade; von ersterem war nur noch wenig da, aber fast 40 Pfund Schokolade. Nun sind diese Artikel allein zur Lebenserhaltung in diesem Klima nicht hinreichend, aber Hartbrot oder Fleisch irgendeiner Art gab es nicht. Dann wurden noch ein Paket Tabak und eine leere Pemmikan-Dose gefunden, die 10 Kilo enthalten hatte und mit einem E markiert war; sie hat wohl der Erebus gehört. Kein von den Schiffen mitgebrachter Brennstoff war in dem oder um das Boot zu finden, aber an Brennmaterial gab es keinen Mangel, denn Treibholz lag in der Nähe am Strand, und wenn die Mannschaft etwas zum Verfeuern gebraucht hätte, hätten sie Paddel oder Bodenbretter aus dem Boot nehmen können.
Im achteren Teil des Bootes fanden wir elf große Löffel, elf Gabeln und vier Teelöffel, alle aus Silber, von diesen 26 Stück zeigten acht das Wappen von Sir John Franklin, die anderen hatten Wappen oder Initialen von neun verschiedenen Offizieren, nur eine Gabel war ungraviert. Von diesen neun Offizieren gehörten fünf zur Erebus und drei zur Terror. Ich weiß nicht, wem die mit einer Eule gravierten drei Stücke gehörten oder die nicht gravierte Gabel, aber die identifizierten Eigentümer gehörten zum größeren Teil zur Erebus. Auf einer der Uhren war das Wappen von Mr. Couch von der Erebus, und da die Pemmikan-Dose auch von den Erebus kam, neige ich dazu anzunehmen, dass auch das Boot von diesem Schiff kam. Die Behörden in Woolwich könnten nach der Nummer feststellen, zu welchem Schiff es gehörte, aber die Nummer ist unvollständig und das Boot deshalb nicht identifizierbar. Und einer der beiden Taschenchronometer, die im Boot gefunden wurden, zeigte die Inschrift »Parkinson & Frodsham 980«, der andere »Arnold 2020«, sie hatten zu beiden Schiffen gehört.
Sir John Franklins Silber war vielleicht an seine Männer verteilt worden, um es weiter zu verwenden; und es ist wahrscheinlich, dass mit dem der Offiziere genau so verfahren wurde, denn es fand sich kein einziger eiserner Löffel, wie sie von normalen Seeleuten benutzt werden.
Es war merkwürdig, dass von den zwanzig oder dreißig Männern, die zu diesem Boot gehörten, nur die Überreste von zweien gefunden werden konnten. Es gab auch keine Gräber in der näheren Umgebung; aber wenn man bedenkt, zu welcher Jahreszeit diese arme Seelen ihre Schiffe verließen, so weiß man, dass zu dieser Zeit die Erde hart gefroren war und das Ausheben eines Grabes deshalb sehr mühselig.
Ich wunderte mich, dass der Schlitten in Richtung Nordosten zeigte, genau auf den Punkt an Land, zu dem auch unsere Marschrichtung führte.
Das aufgegebene Boot war etwa achtzig Kilometer mit dem Schlitten über Land von Point Victoria entfernt, und somit hundert Kilometer von den Schiffen. Nach einiger Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass das Boot zu den Schiffen zurückkehren wollte. Es gibt keine andere Erklärung für das Zurücklassen der beiden Männer, als dass die Mannschaft nicht mehr in der Lage war, das Boot weiter zu ziehen, und dass die beiden mit ihren Kameraden nicht mehr Schritt halten konnten und zurückblieben mit so viel Proviant, wie die anderen entbehren konnten, und der ihnen bis zur Rückkehr der anderen mit frischen Vorräten vom Schiff reichen musste.
Ob es Absicht der zurückmarschierenden Gruppe war, eine Zeit lang an Bord der Schiffe zu bleiben oder den Spuren der Hauptgruppe zum Great Fish River zu folgen, können wir nicht entscheiden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gruppe vorhatte, zum Boot zurückzukehren, nicht nur wegen des zwei Männer, die bei ihm zurückblieben, sondern auch wegen der Schokolade, der fünf Uhren und vieler anderer Dinge, die sonst nicht zurückgelassen worden wären.
Die Gründe, die wohl für die Rückkehr dieser Gruppe maßgebend waren, sind wohl auch entscheidend dafür, dass sie nicht zum Boot zurückgekommen ist. In beiden Fällen scheinen sie ihre Kräfte und damit auch die Entfernungen, die sie innerhalb bestimmter Frist zurückzulegen im Stande waren, deutlich überschätzt zu haben.
Wenn man die Sache so betrachtet, wird verständlich, warum ihre Vorräte nicht im entferntesten für die Distanzen ausreichten, die sie hätten überwinden müssen, und warum sie von den Schiffen Nachschub besorgen mussten und dafür so viel Proviant wie möglich vom Boot mitnahmen. Ob die ganze Gruppe oder irgendjemand die Schiffe wieder erreicht hat, ist unsicher; wir wissen nur, dass niemand wiedergekommen ist, denn es gibt ja keine weiteren Skelette in dieser Gegend. Die Eskimos berichten, dass niemand an Bord am Leben war, als ein Schiff strandete, und dass sich nur eine Leiche auf dem Schiff befand.
Als wir das Boot verließen, folgten wir dem unregelmäßigen Verlauf der Küste nach Norden und Nordwesten bis zu einem deutlich sichtbaren Kap, dass vermutlich von Sir James Ross von Point Victoria aus gesichtet und Point Franklin genannt worden war; so heißt es auch heute noch.
Ich muss nicht betonen, dass wir während der ganzen Reise am Ufer von King William's Land entlang scharf Ausguck nach See zu hielten, um möglichst das Schiff zu sichten, von dem die Eingeborenen gesprochen hatten; aber in dieser Hinsicht war unsere Suche vergeblich.
McClintock, Francis Leopold
A voyage of the Fox in the arctic seas: A narrative of discovery of the fate of Sir John Franklin and his companions
London 1859
Übersetzung: U. Keller
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009