1831 - John Ross
Am magnetischen Nordpol
Wir befanden uns nun nach meinen Berechnungen 14 Meilen von dem magnetischen Nordpol, und meine Sehnsucht, diesen Platz zu erreichen, gestattete mir nicht, irgend etwas zu unternehmen oder zu dulden, was mein Ankunft an diesen Platz hätte verzögern können; ich beschloss daher, den grösseren Teil des Gepäcks und der Mundvorräte zurückzulassen und nicht mehr mitzunehmen als durchaus notwendig war, aus Furcht, schlechtes Wetter oder andere Zufälle möchten mir die Möglichkeit rauben, nach einem Orte zu gelangen, dessen Erreichung mir so sehr am Herzen lag.
Da wir vergleichsweise entbürdet waren, traten wir einen schnellen Marsch an, beharrten mit aller Macht, und erreichten am 1. Juni um acht Uhr des Morgens den berechneten Platz. Ich muss es Anderen überlassen, sich den freudigen Stolz zu denken, als wir endlich bei diesem großen Ziele unseres Ehrgeizes angelangt waren; es war uns fast, als hätten wir Alles getan, weswegen wir von so weit her gekommen waren, als wäre unsere Reise mit allen ihren Beschwerden zu Ende, und als bliebe uns nichts mehr übrig, als heimzukehren, und den Rest unserer Tage glücklich zu sein. Allerdings gab es Nachgedanken, welche uns sagten, wie viel wir noch zu dulden und zu arbeiten hatten, aber sie drängten sich damals nicht auf, und wenn sie es getan hätten, würden wir sie in unserer Aufregung weggebannt haben: denn wir waren glücklich, und wünschen es so lange zu bleiben, als wir konnten.
Das Land ist an dieser Stelle an den Küsten sehr niedrig, erhebt sich aber eine Meile einwärts zu Hügeln von fünfzig bis sechzig Fuss Höhe. Wir wünschten, dass ein so wichtiger Platz durch irgend etwas Auffallendes bezeichnet worden wäre, ja ich könnte es sogar jedem verziehen haben, wenn er so romantisch oder albern gewesen wäre, zu erwarten, dass der magnetische Pol ein so in die Augen fallender und geheimnisvoller Gegenstand sein würde wie der fabelhafte Berg Sindbad, oder ein Berg von Eisen, oder ein Magnet so gross wie der Montblanc. Die Natur hatte aber kein Denkmal errichtet, um den Ort zu bezeichnen, welchen sie als Mittelpunkt einer ihrer grossen und verborgenen Mächte gewählt hat, und wo wir selbst wenig dazu tun konnten. Wir mussten uns daher unterwerfen, und zufrieden sein, durch mathematische Zahlen und Zeichen – Dinge von weit grösserer Wichtigkeit im System des Erdballs – das zu bemerken, was wir auf jede andere Art kaum unterscheiden konnten.
Wir waren so glücklich, hier einige Hütten der Esquimeaux zu finden, die seit noch nicht langer Zeit verlassen worden waren. Ohne Kenntnis des Wertes, welchen nicht nur wir, sondern die ganze zivilisierte Welt dem Platze zulegte, wäre es von unserer Seite ein vergeblicher Versuch gewesen, ihnen über unser Entzücken Rechenschaft zu geben, wenn sie auch da gewesen wären. Es nützte uns mehr, dass das nicht der Fall war, weil wir dadurch in den Stand gesetzt wurden, ihre Werke in Besitz zu nehmen, und unsere Beobachtungen mit grösserer Gemächlichkeit anzustellen. Indessen lagerten wir doch um sechs Uhr des Abends auf einer Landspitze eine halbe Meile westlich von diesen verlassenen Schneehütten.
Die nötigen Beobachtungen wurden unverzüglich begonnen, und diesen ganzen Tag und einen grossen Teil des folgenden fortgesetzt. Die wissenschaftlichen Details sind der königlichen Gesellschaft mitgeteilt worden, auch ist seitdem in den Annalen derselben eine Abhandlung erschienen, welche Alles enthält, was Naturforscher interessieren kann. Ich habe daher nicht nötig, sie hier zu wiederholen.
Es wird jedoch die allgemeine Neugierde befriedigen, die auffallendsten Resultate auf eine einfache und populäre Weise darzustellen. Der Platz unseres Observatoriums war dem magnetischen Nordpol so nahe, als meine beschränkten Beobachtungsmittel es nur immer zu bestimmen möglich machten. Die Abweichung meiner Magnetnadel zeigte eine Abweichung von 89° 59’, es fehlte also nur eine Minute zur lotrechten, und es wurde ferner die Nähe des Pols, wenn nicht seine wirkliche Gegenwart auf dem Platze, wo wir standen, durch die gänzliche Untätigkeit der horizontalen Nadeln, welche ich bei mir hatte, beweisen. Diese waren zwar auf die zarteste Weise verfertigt, aber auch nicht eine einzige zeigte die geringste Neigung, sich aus de r Lage zu bewegen, in welcher sie sich befanden: eine Tatsache, welche, wie auch der am wenigsten Unterrichtete wissen muss, beweist, dass der Anziehungsmittelpunkt in einer sehr geringen, wenn ja in irgend einer horizontalen Entfernung liegt.
Sobald ich über diesen Punkt vollkommen im Klaren war, teilte ich meinen Gefährten das erfreuliche Resultat unserer vereinten Anstrengungen mit, worauf wir unter gegenseitigen Glückwünschen die britische Flagge auf dem Orte aufpflanzten, und von dem magnetischen Nordpol im Namen Grossbritanniens und König Wilhelm des Vierten Besitz nahmen. In den Bruchstücken von Kalkstein, welche den Strand bedeckten, hatten wir Baumaterialien genug, und wir errichteten einen Steinhaufen von einiger Höhe, und legten darunter eine Blechbüchse, worin sich die Nachricht von dieser interessanten Tatsache befand; wir bedauerten nur, dass wir nicht die Mittel besassen, eine Pyramide von grösserer Dauerhaftigkeit zu bauen, welche im Stande wäre, den Anstrengungen der Esquimeaux zu widerstehen. Aber, wenn es auch die Pyramide des Cheops gewesen wäre, hätte sie unter den Gefühlen dieses aufregenden Tages unseren Ehrgeiz kaum mehr befriedigen können. Die Breite diesen Ortes betrug 70° 5’ 17 ‚’’ und die westliche Länge 96° 46’45’’.
Die zweite Entdeckungs-Reise des Capitain John Ross nach den Gegenden des Nordpols …
Leipzig 1835