1890-94 - Robert Louis und Fanny Stevenson
Ein Spaziergang durch Apia und Vailima
West-Samoa
Apia, Hafen und Markt zugleich, ist der Hort des politischen Unsinns von Samoa. Am Fuß eines spitzen, mit Wald bedeckten Berges ist die Küste tief eingeschnitten und bildet fast einen Halbkreis. Davor ist die Riffbarriere dort unterbrochen, wo das Süßwasser der Flüsse eintritt; kommt die Dünung von Norden, drückt sie mit kaum gebremster Kraft in die Bucht; die Kriegsschiffe rollen dann Schwindel erregend vor ihren Ankern, und am Korallensaum, der der Form der Bucht folgt, brüllt die Brandung unaufhörlich. Bei bösem Wetter, das ist allgemein bekannt, sind Einfahrt und Reede nicht benutzbar. Den ganzen Strand entlang, der überall grün und eben ist und von den Berggipfeln des Inlands überragt wird, liegt die Stadt, aufgeteilt in einzelne Reihen und kleinere Gruppen. Die westliche Spitze ist Mulinuu, die östliche Matautu. Und nun bitte ich den Leser, von der einen zur anderen Seite zu spazieren. Auf diesem Ausflug wird er mehr von der Geschichte Samoas vor seinen Augen ausgebreitet finden als in allen offiziellen und inoffiziellen Veröffentlichungen und Büchern.
Mulinuu, wo der Spaziergang beginnt, ist ein flaches, windiges Kap, mit Palmen bepflanzt und mit einem Mangrovensumpf im Rücken, auf dem ein eher elendes Dorf steht. Der Leser möge wissen, dass das die eigentliche Residenz der samoanischen Könige ist; er wird umso überraschter sein, wenn er ein Schild sieht, auf dem steht, dass dieses alte und bedeutsame Dorf Eigentum der deutschen Firma ist. So ein Schild, von denen man viele überall in der Landschaft findet, zeigt aber eher, dass diese Eigentumsbehauptungen nicht unwidersprochen hingenommen werden. Ein bisschen weiter östlich kommt der Leser an den Lagern, Büros und Baracken der Firma selbst vorbei. Von dort aus geht es durch Matafele, den einzigen richtig stadtähnlichen Teil der Kette von Dörfern, vorbei an deutschen Bars und Geschäften und dem deutschen Konsulat, bis zur katholischen Mission und ihrer Kirche, die an der Mündung eines kleinen Flusses steht. Die Brücke, die hinüber führt, die Brücke von Mulivai, bildet eine Grenze: Hier Matafele, drüben das eigentliche Apia. Hier haben die Deutschen das Sagen; drüben ist alles bis auf ein paar Ausnahmen anglosächsisch. Dort passiert der Leser die Geschäfte von Moors (amerikanisch) und MacArthur (englisch), geht vorbei an der englischen Mission, der englischen Kirche und dem alten amerikanischen Konsulat, bis er an die Mündung eines großen Flusses kommt, des Vaisingano. Auf der anderen Seite, in Matautu, führt sein Weg im Schatten von vielen Bäumen an verstreuten Wohnhäusern vorbei zu einer Reihe von Bürogebäuden, Standort eines und Denkmal für einen Deutschen, der zeit seines Lebens die deutsche Firma bekämpft hat. Sein Haus (inzwischen ist er tot) steht noch, ausgerichtet wie eine abgefeuerte Kanone auf die Zitadelle des Feindes. Es ist nur angemessen, dass zur Zeit ein Engländer darin residiert. Noch ein bisschen weiter, und der Leser kommt an die Ostseite der Bucht, wo die Lotsenstation und der Signalmast stehen, und von wo er das britische und das neue amerikanische Konsulat an der Hauptfront stehen sehen kann.
Dieser Spaziergang wird durch einiges an vergnüglichem und geschäftigem Hin und Her belebt worden sein. Der Leser hat viele Arten von Weißen getroffen – Seeleute, Kaufleute, Beamte, Priester, protestantische Missionare mit Tropenhelmen, und die undefinierbaren Herumlungerer, wie sie an jedem Inselstrand zu finden sind. Die Seeleute treten manchmal in ziemlich großen Mengen auf, die Einwohner aber nicht. Man könnte denken, dass es mehr Schilder gibt als Leute, denen sie gehören. Vielleicht ist es ein belebter Tag im Hafen, dann kann man alle Arten von Schiffen sehen, von Kriegsschiffen und Hochseedampfern bis zu Arbeiterschiffen der deutschen Firma und dem Inselschoner; und wenn ihm gerade nach Zählen zumute ist, kann er feststellen, dass sich in der Bucht von Apia mehr Weiße auf dem Wasser herumbewegen als in der ganzen Inselgruppe an Land. Auch wird er alle Typen von Eingeborenen, Häuptlingen und Predigern in makellos weißen Gewändern sehen; vielleicht auch den König selbst, begleitet von uniformierten Garden; lächelnde Polizisten mit Blechsternen; Mädchen, Frauen und Haufen fröhlicher Kinder. Und er wird sich ein bisschen ratlos fragen, wo die denn wohl wohnen. Hie und da hat er vielleicht in einem der europäischen Hinterhöfe ein samoanisches Haus in einer Ecke versteckt gesehen; aber seit dem Verlassen von Mulinuu hat er keines am Strand gefunden, wo die Insulaner eigentlich am liebsten wohnen, und kaum eines an der Straße. Die Handvoll Weiße hat alles. Die Eingeborenen bewegen sich in einer ausländischen Stadt. Noch vor einem Jahr hätte man auf einem Hügel hinter einer Bar ein Eingeborenenhaus sehen können, mit Wachen davor und der Flagge von Samoa darüber. Damals hätte man ihm erzählt, das sei der Sitz der Regierung, zwangsweise verlegt, wie ich leider mitteilen muss, über den Mulivai und vom deutschen in den angelsächsischen Teil. Jetzt, so erfährt er, ist der Sitz zurück verlegt an die alte Stelle. Und er wird es für bezeichnend halten, dass der König der Inseln auf diese Weise in seiner Hauptstadt hin und her geschoben wird – auf ein Fingerschnippen von Fremden. Und dann wird er noch etwas Bezeichnenderes erleben: Ein Haus, vor dem sich etwas tut, Polizisten und Nichtstuer treiben sich dort herum, ein Mann an einem Bankschalter überprüft Schiffsdokumente, vielleicht findet eine Gerichtsverhandlung auf der Vorderterrasse statt, oder die Ratsversammlung löst sich nach einer stürmischen Sitzung in kleine Gruppen auf. Und er wird daran denken, dass er sich in »Eleele Sa«, dem verbotenen Land oder neutralem Territorium befindet; dass der Beamte, den er gerade Fälle gegen einheimische Verbrecher hat verhandeln sehen, kein Beamter des einheimischen Königs ist. Und dass diese Stadt, der einzige Hafen und Ort für Geschäfte im Königreich, seine Einnahmen selbst eintreibt und für eigene Zwecke verwendet – durch weiße Berater und unter der Aufsicht der weißen Konsuln. Der Leser möge weiter wandern. Er wird finden, dass die Straßen bald überall aufhören oder durch die hier üblichen Zäune für die Schweine unpassierbar gemacht, Brücken eher unbekannt sind und die Häuser von Weißen plötzlich sehr rar werden. Abgesehen von den deutschen Plantagen, ist die Grenze sehr deutlich. Am Rande von Eleele Sa endet Europa und fängt Samoa an. Hier also findet sich eine einzigartige Situation: Alles Geld, alles Luxus, alles Geschäft ist auf einen Bereich konzentriert; und der untersteht nicht der lokalen Regierung, sondern wird von Weißen für Weiße verwaltet. Und die Weißen untereinander bewohnen es nicht gemeinsam, sondern auf feindliche Lager verteilt, zwischen denen es liegt wie ein Knochen zwischen zwei Hunden, die sich an ihrem Ende festkrallen.
Sollte Apia sich jemals ein Wappen geben, ich habe den passenden Spruch dafür: Dies ist das Gerücht, durch Zungen bezeichnet.
Die Mehrheit der Einheimischen arbeitet extrem wenig. Die Mehrheit der Weißen sind Kaufleute mit ungefähr vier Lieferungen im Monat, Ladenbesitzer mit zehn bis zwanzig Kunden pro Tag, und alle leben vom Klatsch. Die Stadt brummt von den Neuigkeiten des Tages und die Bars sind voller Amateurpolitiker. Manche sind hinter offiziellen Posten her und liegen Konsuln und König in den Ohren, betreiben die Absetzung von Beamten und schielen auf deren Gehalt. Manche sind humorig und haben einfach Spaß an der Cliquenwirtschaft. Einer sagte mal: »So was Gutes wie dieses Apia gibt es anderswo nicht – jeden Tag kann man in einer neuen Verschwörung stecken!« Andere aber machen sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft des Landes. Die Viertel sind so nahe beieinander und alles ist so klein und eng, dass man nicht erwarten kann, dass sich jeder immer im Zaum hält. Jeder erzählt alles, was er weiß – das ist die Krankheit des Landes. Fast jeder wurde mal getäuscht oder übers Ohr gehauen und hat das später beim Erzählen ein bisschen aufgebauscht. So verbreitet sich die Krankheit weiter. Und die Neuigkeiten sind schnell wie der Wind, und alle Zungen sind in Bewegung, und Fäuste werden geschüttelt. Ein Hexenkessel an Gerüchten!
Das Haus von Vailima ist widersprüchlich beschrieben worden: Als ein Ort, an dem der Meister inmitten Haufen von servilen Vasallen thronte, und als ein schäbiger, armseliger Platz im Dschungel, wo das Essen knapp war und die Armut dem ermatteten Dichter im Genick saß, ihn zu immer neuen, fieberhaften Anstrengungen anspornend. Weder das eine noch das andere stimmt. Das Haus von Vailima war ein einfaches, großes, hölzernes Gebäude mit großen Veranden und vielen Türen und Fenstern. Unsere Bediensteten, die sich nicht als Diener betrachteten, sondern als Familienmitglieder, waren in der Regel tüchtige Leute, insbesondere Talolo, der Koch. Wir hatten unsere eigenen Möbel, Tischwäsche, Geschirr und Porzellan von zu Hause mitgebracht und lebten fast wie in England, mit ein paar amerikanischen Neuerfindungen. Für jemanden, der gerade von einer Tour durch die Inselwelt kam, war ein Abend im Haus von Vailima zweifelsohne wie ein Hauch von Paradies mit den gebohnerten Böden und den alten Teppichen, die Räume hell erleuchtet, Glas und Silber glitzernd, blumengeschmückte Hausdiener, die sich geräuschlos bewegten. Ein Tourist aus den Kolonien [Australien] oder San Francisco jedoch fände das ganz gewöhnlich, würde aber mit Missfallen die bloßen Füße unseres Butlers registrieren und wäre am nächsten Tag höchst ungehalten, wenn die zum Putzen vor die Tür gestellten Schuhe klatschnass davon Kunde gäben, dass sie innen wie außen unter dem Gartenschlauch gereinigt worden waren.
Alle zwei Wochen brachte uns ein Dampfer Eis, frische Austern und andere Vorräte aus den Kolonien oder San Francisco. In Apia gab es einen guten Bäcker und einen guten Fleischer, Fisch konnte man am Strand kaufen. Aale und Süßwassergarnelen gab es im Überfluss in unseren eigenen Flüssen [zum Anwesen der Stevensons gehörten vier], Wildtauben konnte man von der Hintertür aus schießen, und Hühner und Eier aus eigenem Stall waren ausgezeichnet. Ohne größere Ausgaben konnten wir sehr angenehm leben.
Gesellschaftlich war Samoa ganz bestimmt nicht langweilig. Diplomaten und Beamte, viele von ihren Familien begleitet, mieteten Häuser in der Umgebung von Apia und bewirteten Gäste, jeder auf seine Art. Ich habe erlebt, wie Apia sich vor Lachen bog angesichts des Problems, wem von zwei Beamten des gleichen Landes, die beide den Ehrenplatz bei offiziellen Veranstaltungen beanspruchten, denn nun der Vorrang gebühre. Dringliche Depeschen wurden in dieser Angelegenheit verfasst und die jeweils vorgesetzte Behörde angerufen. Apia hat man zu Recht den »Kindergarten der Diplomatie« genannt.
Außer einheimischen Festen gab es Einladungen zum Tee am Nachmittag, Abendempfänge, Einladungen zum Essen, private und öffentliche Bälle, Schnitzeljagd zu Pferde, Polo, Tennisveranstaltungen und Picknicks. Mein Mann nahm an allen diesen Festivitäten teil, einmal wurde er sogar bei einer Schnitzeljagd in schwierigem Gelände Zweiter. Da er schon als Kind krank war, hatte er nie Tanzen gelernt. Den Bällen in Apia fern zu bleiben, an denen fast die gesamte weiße Bevölkerung teilnahm, wäre ein Zeichen gewesen, dass man sich zu gut für so etwas dünkte. Hinzugehen und den Abend auszusitzen war langweilig. So lernte er im Alter von vierzig das Tanzen, aber ich glaube nicht, dass er sich in der Öffentlichkeit jemals an mehr als eine einfache Quadrille gewagt hat.
Diese gesellschaftlichen Ablenkungen hatten aber auf die literarische Arbeit meines Mannes keine nennenswerten nachteiligen Auswirkungen. Üblicherweise fing er mit der Arbeit in den frischen und kühlen Morgenstunden an, wenn es im Haus noch ruhig war. Einer von den Hausdienern war immer in Bereitschaft für die Glocke im Arbeitszimmer, und beim ersten Läuten eilte er, um Tusitalas Frühstück zu bereiten, das ihm dann im Bett serviert wurde. Es vergingen noch mindesten zwei volle Stunden, bevor sich der Haushalt regte.
Das Arbeitszimmer war ein kleiner Raum neben der Bibliothek, eigentlich nur ein ausgebauter Teil der Veranda. Die zwei vorderen Fenster zeigten auf die See, das hintere gab einen Ausblick auf Mount Vaea, wo mein Mann nun ruht. An allen Wänden gab es mit Büchern beladene Regale. Die einzigen Möbelstücke waren ein großer Holztisch, ein paar Stühle, ein verschließbarer Gewehrschrank für sechs Repetiergewehre, und ein schmales Bett, auf das sich mein Mann während der Arbeit manchmal zurückzog sowie ein besonderer Tisch, der über das Bett geschwungen und in der Höhe nach Belieben verstellt werden konnte.
Stevenson, Robert Louis and Fanny
Our Samoan Adventure
London 1956
Übersetzung: U. Keller