Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1910 - Fritz Kummer
Die Regierung

Kurz vor dem Bürgerkrieg schrieb eine amerikanische Zeitschrift: "Washington ist das Elysium der Wunderlichkeiten, der Höllenrand der Abgeschmacktheiten, eine Verwirrung von albernen Unregelmäßigkeiten. Geplant war es auf einer Stufenleiter übersteigender Größe; es hat ein Denkmal, das nie fertig werden will, ein Kapitol, dem die Kuppel fehlt, eine wissenschaftliche Anstalt, die weiter nichts tut, als das Steigen und Fallen des Wärmemessers zu berichten."
   Demnach muß Washington vor einem halben Jahrhundert traurig beschaffen gewesen sein, ebenso traurig wie die Union. Inzwischen hat sich vieles geändert. Mit dem beispiellosen Aufschwung der Republik hat die Hauptstadt Schritt gehalten. Für den amerikanischen Patrioten ist sie heute die "most beautiful city der Vereinigten Staaten, wenn nicht der ganzen Welt". So weit möchte ich nun nicht gehen, doch ist viel Wahres daran.
   Schon der erste Eindruck, den man beim Austritt aus dem Bahnhof bekommt, ist gewinnend, doppelt schön für den, der aus der Backsteinwüste kommt, die sich stolz "The Empire City" nennt. Vor dem Auge ziehen breite, glatte Baumstraßen mit prächtigen Steinbauten hin; zwischen den Häuserreihen tauchen wohlgepflegte Ziergärten auf; vornehm gekleidete Leute bevölkern die Straßen. Menschen und Stadt werden beschattet von einem mächtigen Bauwerk, dem Kapitol.
   Ich blättere im Guide (Führer) und finde: Washington 311.000 Einwohner, darunter 100.000 Neger, die fortgeschrittensten der schwarzen Rasse; 265 Gartenanlagen mit weniger, 26 mit mehr als einem Acker Fläche; Sitz der Bundesregierung, des Parlaments, des Obersten Gerichtshofes, hat viele Lehranstalten, Museen und geschichtliche Denkmäler.
   Freilich ist die Größe Washingtons außerordentlichen günstigen Umständen zu verdanken. Hervorragende Kräfte gaben ihr Form und Gediegenheit; die Kosten ihres Aufbaus wurden zum guten Teil aus öffentlichen Mitteln bestritten; ihr Charakter als Regierungssitz gab ihr Übergewicht und große Anziehungskraft. Sie hat keine Industrie und infolgedessen auch keine Fabrikschlote, keine schweren Lastfuhrwerke, keine verräucherten Industrieviertel. Ihr hauptsächlichstes Gewerbe ist die Regiererei; ihre Massenerzeugnisse Verträge, Erlasse, Gesetze; ihre werktätige Bevölkerung Minister, Staatsmänner, Rechtsbeflissene, Abgeordnete, Militärs und viele Schreibergesellen. Die fünfzigtausend Beamten geben dem wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Leben der Stadt das Gepräge.
   Washington liegt in dem District of Columbia (D. C.), der im Jahre 1790 eigens für die Zwecke der Bundesregierung geschaffen wurde. Dieser kleinste Staat der Union ist eine bürgerrechtliche Absonderlichkeit. Seine Bürger haben keinerlei Wahlrecht, weder im Distrikt noch in der Gemeinde. Er wird von einer dreiköpfigen Vorsteherschaft verwaltet, die nur dem Kongreß verantwortlich ist.
   Das Kapitol ist sicherlich eines der schönsten Parlamentsgebäude der Welt. Die Wirkung seiner baukünstlerischen Pracht wird noch mächtig gesteigert durch seine die Umgegend weithin beherrschende Lage. 64 Millionen Mark wurden verwendet, um der Volksvertretung des großen Freistaates ein würdiges Heim zu schaffen. In seinen Wandelhallen spürt man einen angenehmen demokratischen Luftzug. Mit dem Beginn des parlamentarischen Werkeltages nimmt der Besucherstrom zu. Reisende aus allen Ländern und amerikanische Bürger geben sich hier ein Stelldichein. Eine freundliche Hand öffnet allen die Tür, zeigt ihnen alles, was das Kapitol zu zeigen hat.
   Vor dem Zusammentritt der Volksvertretung sind schon Stellenjäger, Bittsteller und Lobbyisten die schwere Menge eingetroffen. Die Lobbyisten, ein in anderen demokratischen Ländern glücklicherweise weniger zahlreiche Menschensorte, versuchen im Halbdunkel der Lobby (Wandelgang) solche Geschäfte zu erledigen, die helles Tageslicht nicht vertragen können. Sie trachten durch gute Worte und Silberlinge von den Gesetzgebern Vergünstigungen aller Art für sich selbst oder für die sie aushaltenden kapitalistischen Sippen zu erhalten. Ihre Bemühungen sind leider nur zu oft erfolgreich gewesen. Abgeordnete mit weitem Gewissen und noch weiteren Taschen haben sich noch immer gefunden. Die Geschichte der Bestechungen amerikanischer Volksvertreter ist so lang, daß sie eine ansehnliche Zahl Bände füllt.
   Das Kapitol ist der Sitz der Gesetzgebung der Vereinigten Staaten. Sie wird von zwei Körperschaften, von dem Senat und dem Abgeordnetenhaus gebildet, die gemeinhin Kongreß genannt werden. Der eine ist zusammengesetzt aus je zwei Senatoren der 48 Staaten, die von deren gesetzgebenden Körperschaften auf sechs Jahre gewählt werden; das andere bilden die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten. Der Senat stirbt nie; alle zwei Jahre hat ein Drittel seiner Mitglieder auszuscheiden. Das Leben des Abgeordnetenhauses ist am 4. März jedes zweiten Jahres zu Ende, es muß vollständig neu gewählt werden. Nach jeder Volkszählung wird die Zahl der Abgeordneten frisch festgesetzt. Sie beträgt für den 63. Kongreß 435, auf etwa 212 000 Einwohner einen. Die Zahl der Vertreter wird für jeden Staat nach Maßgabe seiner Bevölkerungszahl festgesetzt, der staatlichen Gesetzgebung aber bleibt es überlassen, die Wahlkreise einzuteilen. Diese Freiheit macht es den in der Gesetzgebung der Einzelstaaten herrschenden Parteien möglich, Wahlkreisgeometrie, in Amerika "Gerrymandering" genannt, zum Nachteil der Minderheitsparteien zu treiben.
   Den Senat hat der Volksmund "Millionärsklub" getauft; nach George Washingtons Ausspruch ist er der Kessel, worin das heiße Gebräu des Abgeordnetenhauses gekühlt wird. Beides ist richtig. Konservative Anschauungen und kapitalistische Interessen finden in ihm eine kräftige Stütze. Jedenfalls ist er das mächtigste Glied der amerikanischen Gesetzgebung. Er hat gesetzgebende, rechtsausübende sowie vollziehende Macht. Die Beamtenernennungen des Präsidenten, die Verträge mit fremden Staaten, die Gesetzentwürfe des Abgeordnetenhauses bedürfen der Zustimmung des Senats, um rechtskräftig zu werden. Wird ein Beamter der Union "schwerer Verbrechen und Vergehen" bezichtigt, sitzt der Senat über ihn zu Gericht. Das Abgeordnetenhaus kann den Präsidenten wegen Amtsvergehen in Anklagezustand versetzen, der Senat aber ist die richtende Behörde.
   Schon eine äußerliche Betrachtung der beiden gesetzgebenden Körperschaften läßt große Unterschiede erkennen. Das Abgeordnetenhaus ist bullerig, unstet, hitzig, der Senat gesetzt, konservativ, würdevoll. Das eine stellt sich gerne der Photographiermaschine, der andere hat es noch niemals getan. Die Abgeordneten singen während der Nachtsitzungen mitunter wie Gaudiburschen; würde einer unter den Senatoren einen Cantus steigen lassen, die sehr ehrenwerten Gentlemen fielen vor Entsetzen auf den Hinterbauch. Im Unterhaus ist es einem Mitglied oft unmöglich, das Wort auch nur für eine kurze Bemerkung zu erhalten. Die Sitte gestattet ihm, die Rede, die er gerne gehalten haben möchte, im stenographischen Bericht drucken zu lassen, ja er kann sogar in die Rede, wovon er kein Wort geäußert hat, Einschaltungen machen wie: "Zustimmung", "anhaltender Beifall", "Bravo auf allen Seiten des Hauses". (Will ein Senator oder ein Abgeordneter seine Rede für irgendeinen Zweck vervielfältigen lassen, so braucht er es nur der Staatsdruckerei mitzuteilen. Sie führt den Auftrag zum Selbstkostenpreis aus.)
   Im Senat besteht eine Anzahl ungeschriebener Gesetze. Hohes Alter hat sie geheiligt, die Überlieferung hat sie unantastbar gemacht. Als erster Grundsatz gilt ungehemmte, gründliche Auseinandersetzung. Die Verhandlungen durch Schlußanträge zu beenden, ist nicht üblich. Jeder kann so oft und so lange sprechen, wie er will. Diese Freiheit bringt die Möglichkeit, mißliebige Anträge zu Tode zu reden. Der geeignetste Zeitpunkt hierzu kommt mit dem Lebensende des jeweiligen Abgeordnetenhauses, also alle zwei Jahre kurz vor dem 4. März. Um diese Zeit häufen sich die dringenden Geschäfte. Einigen lungenstarken Senatoren ist es gegeben, die paar Tage mit Reden auszufüllen. Allein diese Gelegenheit wird selten benutzt. Im Oberhaus ist die Neigung zu Streitigkeiten gering. Es faßt in der Regel seine Beschlüsse einstimmig.
   Fast so lange als Amerika politisch besteht, gibt es zwei Parteien, die demokratische und die republikanische. Diese Beiwörter, die für europäische Ohren einen guten Klang haben, scheinen in den Vereinigten Staaten nur gewählt zu sein, um den großen Lümmel Volk zu täuschen. Die sogenannten dritten Parteien, die neben den beiden großen hier und da entstanden sind, verschwanden - abgesehen von der sozialistischen - schneller als sie kamen. Jede der zwei alten Parteien hat das eine Hauptziel: Macht. Macht wollen sie, um mit Zarathustra zu sprechen, und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld. Beide werden bewegt von kapitalistischen Interessen. Die eine besitzt die Herrschaft, die andere erstrebt sie; ihr Wesensinhalt aber ist sich fast gleich.
   Schriftstellerische Sherlock Holmes wissen zwar in den Wahlschriften der zwei Parteien grundsätzliche Unterschiede zu entdecken; aber nach Unterschieden in den Taten werden auch sie vergeblich suchen. Die Redner und Blätter der einen Partei berichten vor der Wahl viel über die Rückständigkeit und Volksfeindlichkeit der andern. Nach der Wahl finden sich Republikaner und Demokraten im Halbdunkel des Parlaments freundschaftlich zusammen zur Förderung ihres gleichartigen Zieles.
   Von der Tätigkeit der Volksvertreter dringt selten etwas in die Öffentlichkeit. Die Zeitungen, die tagaus tagein lange Spalten für das Räuspern und Spucken der "oberen Vierhundert" und die Vereinsmeierei übrig haben, finden sich nicht bemüßigt, die Tätigkeit der Volksvertretung zu schildern. Einen Verhandlungsbericht, wie er in England oder Deutschland immer gegeben wird, habe ich trotz aller Mühe in keiner amerikanischen Zeitung gefunden.
   Das darf nun aber nicht zu der Annahme führen, die amerikanischen Volksvertreter täten nichts. Behüte, sie arbeiten, daß einem angst und bange werden kann. Der Wähler mit Wünschen sind es sehr viele. Schon um deren Gunst zu behalten, muß der Abgeordnete, wenn auch nicht arbeitseifrig sein, so doch arbeitseifrig tun. In der zwischen zwei Unterhauswahlen liegenden Zeit werden im Parlament "nur" an die 45.000 Anträge und Gesetzesvorlagen eingebracht. In der zweiten Hälfte des Jahres 1907 wurden vom Kongreß 2.227.000 Pfund Drucksachen durch die Post versandt. Mit dem Einbringen der Anträge und Gesetzentwürfe ist die Arbeit für den Volksvertreter in fast allen Fällen beendet. Sie verschwinden im Papierkorb oder in den Aktenschränken der Ausschüsse.
   Das Haus hat einen eigenen Priester, der bei Beginn einer jeden Sitzungszeit den Beistand des Allmächtigen und die Gnade des Allgütigen auf das Parlament herabfleht. Das ist auch sehr notwendig, denn im Kapitol sind und werden Handelsgeschäfte zwischen Abgeordneten und Lobbyisten abgeschlossen, die gegen alle zehn Gebote Gottes verstoßen.
   Das amerikanische Abgeordnetenhaus ist die teuerste gesetzgebende Körperschaft der Welt. Seine jährlichen Kosten sind (ohne die Ausgaben für Drucksachen) über 24 Millionen Mark. Die (persönlichen) Ausgaben für die Mitglieder des Kongresses betragen 14 1/2 Millionen Mark im Jahr. An Taggeldern erhält der Abgeordnete wie der Senator jährlich 31.500 Mk. sowie eine Reiseentschädigung von 84 Pf. die Meile für Hin- und Rückfahrt zwischen dem Wohnort und Washington, daneben noch eine jährliche Vergütung von 6300 Mk. - Senatoren mitunter dreimal mehr - für Schreibhilfe.
   Von der Ostseite des Kapitols fährt eine breite, schöne Straße, die Pennsylvania Avenue, direkt hinunter zum Weißen Haus, dem Sitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten. In dieses Gebäude dermaleinst einzuziehen ist der schönste Traum eines jeden amerikanischen Jungen; da hinein einen der ihrigen zu bringen, das heiße Streben einer jeden politischen Richtung.
   Der Präsident wird alle vier Jahre durch Wahl erkoren. Auf dem Stimmzettel, der die Namen der Bewerber für das Abgeordnetenhaus, die Gemeindevertretung, Richterbank usw. enthält, findet der Bürger auch die der Wahlmänner (Electors), denen die Erkürung des Präsidenten obliegt. Ihre Zahl ist in jedem Staat gleich der seiner Senatoren und Abgeordneten im Bundesparlament. Sie kommen an einem Tag nach den allgemeinen Wahlen in ihrem Staat zusammen, um sich für eine Person als Präsident (und für eine als Vizepräsident) zu entscheiden. Wer die überhälftige Mehrheit der Wahlmännerstimmen des Staates auf sich vereinigt, gilt als vom ganzen Staate erkoren. Das Ergebnis der Abstimmungen wird dann dem Präsidenten des Senats zugesandt, der in Anwesenheit des Kongresses die Stimme bekannt gibt und die Person als Präsident (oder Vizepräsident) verkündet, wofür sich die überhälftige Mehrheit der Staaten erklärt hat.
   Es wird gesagt, der amerikanische Präsident habe mehr Machtbefugnisse als ein verfassungsmäßiger Fürst. Dagegen ist nicht viel einzuwenden. Er ist oberster Befehlshaber der gesamten Streitkräfte, er ernennt mit Zustimmung des Senats die Botschafter, Richter sowie die höheren Bundesbeamten und schließt mit fremden Mächten Verträge ab. Was keinem gekrönten Staatsoberhaupt eines parlamentarisch regierten Landes gestattet ist, ist ihm erlaubt: er setzt sich sein Ministerium nach eigenem Gutdünken zusammen. Seine Minister sind nur ihm verantwortlich; keine Kammermehrheit kann sie stürzen. (Gewiß ist er gehalten, für die Ministerernennungen die Zustimmung des Senats einzuholen; allein das ist bloße Formsache: Er teilt sie dem Senat mit und die Bestätigung geht ihm postwendend zu.) Weder der Präsident noch seine Minister haben dem Parlament Rechenschaft abzulegen, noch erscheinen sie vor der Volksvertretung (die Minister gegebenenfalls nur in den Ausschüssen), um ihre Pläne zu entwickeln oder zu verteidigen.
   Die (moralische) Macht des Präsidenten ist bedeutend größer als die eines andern Teiles der Staatsverwaltung: Er ist aus der Abstimmung des ganzen Volkes hervorgegangen; er ist der Inbegriff des Volkswillens; seine Stimme ist die Stimme des Volkes.
   Den wirtschaftlichen und politischen Gruppen kann es nicht gleichgültig sein, wer im Weißen Haus atmet. Die Volksvertretung macht zwar die Gesetze, aber der Präsident führt sie aus; sie bewilligt in einem Jahr eine Milliarde Dollar, der Präsident aber bestimmt die Einzelheiten der Aufbringung und Verwendung dieser Riesensumme. Er kann als militärischer Oberbefehlshaber den Unternehmern in Streikfällen Truppen zur Verfügung stellen oder vorenthalten. Er ist der gabenreiche Verteiler von Stellungen und Fettämtchen. Mit einem Federstrich vermag er das berufliche Dasein von Tausenden von Beamten auszulöschen. Da nach Marcys drohendem Wort auch in der Politik "dem Sieger die Beute" gehört, so haben die verschiedenen Gruppen Grund genug danach zu streben, daß ein ihnen freundlich gesinnter Mann ins Weiße Haus einzieht.
   In der Staatsverwaltung der Vereinigten Staaten sind an die 400.000 Leute beschäftigt. Der Jahreslohn der Beamten schwankt zwischen 315.000 Mk., dem Gehalt des Präsidenten, und 21 Mk, die dem Postmeister im Hinterwald für die Abstempelung der bei ihm einlaufenden Briefe gezahlt werden. Im Landesdurchschnitt ist der jährliche Gehaltssatz 3.981 Mk.
Solange noch das Wort "dem Sieger die Beute" uneingeschränkt Geltung hatte, betrachtete es die zur Herrschaft kommende Partei als ihr selbstverständliches Recht, die bisherigen Beamten zu entlassen und an deren Stelle ihre Anhänger zu setzen. Der republikanische Präsident Harrison hat in einem Jahre an die 30.000 Angestellte der Post auf die Straße gesetzt, bloß weil sie Demokraten waren. Die Stellungen galten (und gelten) als Belohnung für Parteidienste. Selbst in die "offizielle Familie" (Ministerium) wurde ein Philadelphiaer Schnittwarenhändler genommen, weil er der republikanischen Parteikasse größere Beiträge zugeführt hatte.
   Seit der Schaffung des Zivildienstgesetzes (Civil Service Act 1883) ist eine Wandlung zum Bessern eingetreten. Zwar ernennt der Präsident auch jetzt noch Tausende von Beamten, wie Minister, deren Abteilungsvorsteher, Bundesrichter, Postmeister usw., die Masse aber darf erst, gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes, nach Ablegung einer Prüfung angestellt werden. Im Jahr 1911 wurden von den 391.000 Bundesbeamten 10.064 unmittelbar vom Präsidenten erkoren, 222.000 stellten die Zivildienstausschüsse nach bestandener Prüfung und 60.500 (Handarbeiter und dergl.) ohne Prüfung an. Fast 100.000 Stellungen fallen nicht unter das Zivildienstgesetz. Der beste Teil dieser Stellungen bildet heute noch die Beute des herrschenden Politikantentums.
   Nach alledem braucht nicht besonders gesagt zu werden, daß ein tatkräftiger und kluger Mann als Präsident sehr viel Segen für Land und Volk stiften kann. Schade nur, daß, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, immer bloß menschliche Durchschnittsware ins Weiße Haus kam. Beruft der Präsident, der immer am 4. März nach der Wahl sein Amt antritt, den Kongreß nicht zu einer außerordentlichen Tagung zusammen, so hat er bis zum Herbst Zeit, sich einzuarbeiten und seine Botschaft an das Parlament vorzubereiten, worin er seine Politik entwickelt. Der Volksvertretung steht es frei, sich die Ansichten der Botschaft zu eigen zu machen. Der Präsident hat keinen zwingenden Einfluß auf die gesetzgebenden Körperschaften. Es hat an Reibungen zwischen beiden Teilen nicht gefehlt, im großen ganzen aber haben sie einträchtig miteinander gelebt. Beide Seiten werden, wenn nicht durch politische Klugheit, dann durch den nackten Parteivorteil bestimmt, über ihren Streitigkeiten die Sonne nicht allzuoft untergehen zu lassen.

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Stuttgart 1913

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