1879 - Friedrich Bodenstedt
Die Regierungsbauten
Nachdem wir uns in unserem Hotel an wohlbesetzter Tafel gestärkt hatten, unternahmen wir eine Wanderung durch die Straßen von Washington, aber ohne andere Befriedigung dabei zu finden, als die der Bewegung in frischer Luft nach langem Sitzen in geschlossenen Räumen. Die Straßen waren auffallend menschenleer, und diejenigen, welche wir zunächst durchwanderten, verdienten gar nicht, Straßen genannt zu werden, insofern man darunter in einer Stadt einen gang- und fahrbaren Weg zwischen zwei parallel laufenden Häuserreihen versteht. Wir fanden die Anfänge zu solchen Häuserreihen in weit voneinander stehenden Gebäuden, durch wüste Strecken Landes unterbrochen, hinter welchen aus der Ferne Lichter hervorschimmerten, wie um anzudeuten, daß hinten auch noch Menschen wohnten. Nur in den wenigen Geschäftsstraßen der Stadt war einiges Leben, wenn auch nicht absonderlicher Art, so doch bei hinlänglicher Beleuchtung, um uns zu befähigen, unter vielen andern Riesenplakaten auch eins zu entdecken, welches zum Besuch eines näher bezeichneten Volkstheaters einlud.
Das völlig Eigenartige der Stadt, wodurch sie sich von allen übrigen namhaften Städten der Union wesentlich unterscheidet, springt gleich beim ersten Überblick in die Augen und besteht darin, daß sie ihren städtischen Charakter nur durch die monumentalen Regierungsbauten erhält, welchen den einzigen Grund ihres Daseins bilden.
Die Bodengestaltung zeigt verschiedene mäßige Erhebungen, und auf der höchsten derselben ragt das imposante Capitol hervor, weithin schimmernd aus herrlichen Parkanlagen aufsteigend. Etwa eine Viertelstunde nordwestlich davon entfernt erhebt sich auf einer geringeren Erhöhung das Weiße Haus, die Residenz des Präsidenten. Es liegt ebenfalls in parkartiger Umgebung, in der Mitte eines großen Platzes, dessen vier Ecken die Paläste der Ministerien des Auswärtigen, des Krieges, der Marine und des Schatzes bilden. Als überraschend stattliche Paläste sind noch zu erwähnen das ganz aus weißem Marmor gebaute Generalpostamt, dem der Tempel des Theseus als Vorbild gedient hat, und das kolossale Patentamt, nach dem Muster des Parthenon aufgeführt.
In Amerika sind Nachahmungen des antiken Stils bei öffentlichen Gebäuden an der Tagesordnung, und Washington zeichnet sich darin vor allen anderen Städten in so herausragender Weise aus, daß es eben dadurch sein eigentümliches Gepräge erhalten hat. Ständen diese prächtigen Staatsbauten zerstreut in Weltstädten wie New York oder Philadelphia, oder auch in Chicago oder Saint Louis, so würden sie dort neben den Monumentalbauten des Handels und der Industrie wohl bewundernde Blicke auf sich ziehen, aber den Charakter der Stadt nicht ändern, der wesentlich durch die Nährquellen der Bevölkerung bestimmt wird und Ausdruck gewinnt. Washington hingegen würde ohne sein Capitol, und was damit zusammenhängt, bald wieder in das Nichts versinken, aus dem es kurz vor dem Beginn dieses Jahrhunderts erstanden ist durch sein Capitol.
Warum man gerade diesen ungesunden Fleck Landes an den sumpfigen Ufern des Potomac zum Sitz der Unionsregierung erkoren hat, würde unbegreiflich erscheinen, wenn man nicht wüßte, daß zur Zeit, als General Washington die Anlage der nach ihm benannten Stadt plante, die durch zwei Arme des Potomac gebildete Landzunge wirklich der ungefähre Mittelpunkt der Unionsstaaten war, deren Zahl sich damals nur auf dreizehn belief, während sie heute achtunddreißig beträgt und dem Unionsgebiete eine Ausdehnung gewonnen hat, deren Mittelpunkt vierhundert deutsche Meilen weiter im Westen zu suchen ist.
Mit einem so wunderbar raschen Wachstum der Vereinigten Staaten konnte die Bundeshauptstadt nicht Schritt halten, zumal keine einzige der Voraussetzungen sich erfüllen sollte, welche ihr Gründer an sie geknüpft hatte. Zunächst hielt er sie für einen strategisch wichtigen Punkt, gesichert durch ihre Lage, und im August 1814 wurde sie von einigen tausend Engländern, die teils zu Land, teils zu Schiff auf dem Potomac langsam gegen sie anrückten, ohne erheblichen Widerstand zu finden, unter General Ross leicht genommen und schnell verwüstet, wobei das Capitol, das Weiße Haus und alle Ministerien in Flammen aufgingen. Dann hielt er den Potomac für eine vortreffliche Wasserstraße, geeignet, die Stadt zu kommerziellem Aufschwung zu bringen. Auch daraus ist nichts geworden, denn der Potomac hat der Stadt nichts gebracht als fiebererzeugende Ausdünstungen. Endlich hat Washington längst aufgehört, Mittelpunkt des Staatenbundes zu sein, und damit auch seine ehemalige politische Bedeutung verloren.
So erklärt es sich, daß die Stadt, seit Beginn dieses Jahrhunderts Sitz der Bundesregierung und des Congresses, über alle Erwartung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben ist und, verglichen mit dem Plane, nach welchem sie ausgebaut werden sollte, noch überall einen unfertigen Eindruck macht und gleichsam nur als ein zerrissenes Anhängsel des sie schimmernd überragenden Capitols erscheint. Nur die Hälfte des ursprünglichen Planes ist zur Ausführung gekommen, und diese Hälfte liegt im Rücken des die Stadt in zwei Teile schneidenden Capitols, dessen prächtige Fassade ins Leere hinausschaut. Die allen amerikanischen Städten eigene schachbrettartige Regelmäßigkeit der Straßen mit ihren Blocks oder Häuserquadranten wird in Washington unterbrochen durch breite Avenuen, welche vom Capitol strahlenförmig nach allen Seiten auslaufen. Dazu kommen eine Menge zum Teil noch wüst liegender Plätze und ein großer, wohlgepflegter Park. Straßen mit mehr oder minder geschlossenen Häuserreihen gehören zu den Ausnahmen.
Natürlich fehlt es in der Bundeshauptstadt, wo außer den Herren von der Regierung auch alle Gesandtschaften ihren ständigen Sitz haben, viele Senatoren in ihren eigenen Häusern wohnen und noch mehr Congressmitglieder eine geraume Zeit des Jahres hindurch ihren Aufenthalt nehmen müssen, an eleganten Quartieren und Luxusbauten nicht, allein der weitaus größere Teil der Stadt macht einen nichts weniger als großstädtischen Einruck. Um so imposanter heben sich die einzelnen Prachtbauten von den weitum zerstreuten Häusergruppen, Strauchanlagen und Rasenplätzen ab, zwischen welchen es auch an wüsten Flecken nicht fehlt, und diese überall ins Auge springenden Gegensätze sind es, welche der Stadt ihr eigenartiges Gepräge geben. Sie ist groß genug, um Hunderttausende von Einwohnern zu umfassen, und sie zählt deren kaum 80.000, worunter 30.000 Neger.
Bodenstedt, Friedrich
Vom Atlantischen zum Stillen Ozean
Leipzig 1882