1867 - Max Eyth
Stadtplanerische Schrecknisse
Eine wunderliche und vorderhand keineswegs sehr schöne Stadt! Das trostlose ABC der Straßen, das fast in allen anderen Städten des Ostens wenigstens durch ein paar alte Viertel gemildert ist, in welchen die Vorfahren der jetzigen Generation ihren Freiheitssinn durch eine wohltuende Confusion krummer Gassen ausdrücken, ist in Washington in seiner ganzen Blüte vorhanden. Eine Linie durch das Kapitol von Ost nach West – eine zweite von Süd nach Nord. Von der ersten gerechnet: Straße 1. 2. 3. bis 27. Ost. Von der zweiten an A. B. C. bis W. Nord, und A. B. C. bis W. Süd. X, Y und Z fällt unglücklicherweise in den Potomac, ist aber auf dem Stadtplan auspunktiert für künftige Wasserbewohner oder Pfahlbauern. Jetzt kommt aber das Schlaue! Nachdem der große Washington oder sonst jemand seinen Plan so weit fertig hatte, muß ihm noch der Gedanke gekommen sein, daß das System zwar schön, aber unendlich langweilig sei. Deshalb zog er sternförmig durch das Kapitol vier weitere Strahlen, die unbarmherzig durch die schönen Quadrate schneiden; und dann zog er eine Reihe Parallelen mit diesen Strahlen in Distanzen von sechs oder acht Häuserquadraten des ursprünglichen Plans. Auf diese Weise bildet das Kapitol des Centrum einer wunderbaren Straßensonne, die Schnittpunkte der Parallelen mit den schiefen Hauptstraßen aber eine Anzahl Straßensterne zur vollständigen Consternation und Verwirrung der Feinde des Landes. Es ist Mannheim in Karlsruhe hineingebaut. Trotz des ABCs und 1.2.3.s findet aber kein Mensch seinen Weg und man ist glücklich, sich in West H Straße anzutreffen, die man seit einer Stunde gesucht hat – der nächste Stern ist sicher, den harmlosen Wanderer nach M oder D hinauszustrahlen, und dann mögen ihm die Götter wieder zurückhelfen!
Die Stadt besteht nebst den Straßen aus einem halben Monument, fünf Gebäuden, einer Unzahl von backsteinernen Wohnkästen und einer großen Anzahl Lehmgruben. Da sie von hinten angefangen wurde und erst halbfertig ist, so existiert die vordere, schönere Hälfte im Osten des Kapitols noch gar nicht. In gerechtem Grimm kehrt das Kapitol der bewohnten Hälfte den Rücken zu, was jedoch die unbewohnte nicht lebendiger macht. Washington ist die einzige amerikanische Stadt, die nicht wachsen will.
Eine merkwürdige Tatsache! Und doppelt merkwürdig, wenn man vom Gipfel des Kapitols die herrliche Lage betrachtet, die wie gemacht scheint für eine Weltstadt und die mit dem stattlichsten Bau des Kontinents begann. Das Kapitol ist unstreitig schön. Die Summen, die es gekostet, hätten vielleicht mit größerem Vorteil verwendet werden können; die weiße Reisenkuppel, von einer Statue der Freiheit gekrönt, mag für den Unterbau zu hoch sein; die Verschwendung von Gold im Innern macht nicht den Eindruck, als sei besonders viel geschehen für Kunst und Geschmack; dennoch bleibt der Bau mit seinen korinthischen Pilastern und seinen schimmerndem Marmor ein imposanter und prachtvoller Anblick.
Der mittlere Teil, das alte Kapitol, welches das Centrum des neuen bildet, ist ein längliches Viereck mit einer Rotunde in der Mitte, über der sich die jetzt vergrößerte Kuppel erhebt. Zwei neuerbaute Flügel, mit ihrer längeren Seite quer gegen das alte Gebäude gestellt, enthalten die Halle für den Senat auf der einen und die für Repräsentantenversammlung auf der anderen Seite. Alles das ist aber vermutlich in hundert Büchern besser zu lesen, als ich es zu beschreiben gedenke.
Das zweite Gebäude ist ein Marmorhaus in ionischem Stil, das Schatzhaus (treasury), worin Greenbacks fabriziert werden.
Zwischen beiden befindet sich ein dorischer Marmorbau, das Patent Office, das schönste und reinste von den dreien. Über dieses und seinen Inhalt später vielleicht einen Mammutaufsatz.
Das post office in korinthischem Stil ist das vierte und das Haus des Präsidenten in einem einfachen Grasgarten und in gar keinem Stil ist das fünfte der Gebäude.
Das halbe Monument ist ein aufgemauerter Obelisk von künftig 600 Fuß Höhe, der jetzt vielleicht 200 Fuß hoch ist, Washingtonmonument heißt und das Scheußlichste ist, was bis jetzt in monumentalen Bauten geleistet wurde.
Das ist nahezu alles. Hollah – ich vergaß das Smithonian, ein Museum, d. h. ein in rotem Sandstein und romanischen Stil ausgeführtes klösterliches Schloß oder burgartiges Kloster, eine architektonische Missgeburt, wie sie nur in Amerika möglich ist. Im Inneren enthält es ein Institut und eine Sammlung von Naturalien aller Art, ziemlich hübsch für Amerika, aber nicht zu vergleichen mit den reichhaltigen Sammlungen der alten Welt.
Und das ist nun wirklich alles, was zu sehen ist. Das Leben auf den Straßen hat etwas von Mannheim oder Ludwigsburg an sich, natürlich ohne Soldaten. Und doch konnte ich mich fünf Tage lang nicht losreißen. Das Patentmuseum ist in der Tat einzig in seiner Art und jeden Morgen stürzte ich mich mit frischem Mut in dieses Schauerbad von mühevoll ausgearbeiteten und kühngedachten, von genialen und wahnwitzigen Ideen, obgleich ich sicher war, am Abend wie ein Düppel herauszukommen.
Max Eyth
Wanderbuch eines Ingenieurs
Band 3, Heidelberg 1893