Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1864 - John Ross Browne
Nach Virginia City

Ich war darauf gefaßt, auf der Straße von Carson nach Virginia große Veränderungen zu finden. In Empire City, das bei meinem ersten Ausfluge nichts als eine Salbeiwüste darstellte, in welcher sich ein Holländer angesiedelt hatte, wurde ich von geschäftigem Treiben überrascht. Das Oberland des Carsonflusses ist ganz von Quarzstampfmühlen und Sägemühlen eingenommen, und das Getöse der Hammerwerke und das Zischen des Dampfes, die Rauchwolken, die aus hohen Kaminen aufwirbeln, samt dem wirren Geschrei der geschäftigen Menge geben uns das vollkommenste Bild einer Fabrikstadt. Hier ist in der Tat ein merklicher Fortschritt zu finden. Weiter hinaus zu Silver City begegnet man ähnlichen Anzeichen, und von dem Punkte an, wo man in die Schlucht durch das »Teufelstor« hinabsteigt bis zu der Bergstraße nach Gold Hill hinauf, trifft man auf eine ununterbrochene Reihe von Quarzmühlen, Tunnels, aufgeworfenen Steinhaufen, Schleusen, Wassermühlen, Bretterzelten und Grogläden; Gold Hill selbst ist zu einer Stadt angewachsen, denn es ist eigentlich nur eine Fortsetzung von Virginia City. Hier hat der Unternehmungsgeist seine lebhaftesten Spuren zurückgelassen, denn der ganze Hügel ist buchstäblich von Schächten und Tunnels durchfurcht und durchschnitten. An den unzugänglichsten Punkten sind Maschinen zum Heraufziehen aus den Schächten angebracht, an den Seiten der Schlucht sind Stampfmühlen der verschiedensten Größe, und die Hauptstraße ist voller Warenmagazine, Hotels, Postwagen-Büros, Salons, Restaurants und Grogschenken, ohne daß es an den sonstigen Anziehungsmitteln fehlte, die für eine blühende Minenstadt Bedürfnis sind. Selbst eine Zeitung erscheint hier, die mit Geist und recht populär geschrieben wird, denn das Volk ist schon weidlich über sie hergefallen. Bei unserem Eintreffen rannte uns ein durchgegangenes Pferdegespann, das die Straße hinabjagte, zum Willkommen entgegen, und wenig fehlte, daß unser Wagen umgestürzt wäre. In einiger Entfernung davon wurde ein Mann von ihnen niedergerannt und teilweise zermalmt; da hier aber fast täglich jemand auf der Straße seinen Tod findet, so fiel die Geschichte kaum auf.
   Wenn man den Hügel hinabsteigt, der den Gold Hill von Virginia trennt, so bietet sich ein seltsames Schauspiel, so seltsam, daß, wer es zum ersten Male sieht, sich fragen möchte, ob es nicht auf Täuschung beruhe. Vielleicht gibt es keinen zweiten Fleck in der Welt, der mit einer so schaurig ergreifenden, so wüsten Natur das geschäftige Treiben des Lebens und die menschlichen Interessen so lebhaft verbände. Es macht fast den Eindruck, als wütete hier ein furchtbarer Kampf, den der Mensch mit der Natur aufgenommen hat. Tausende gebräunter, staubbedeckter Männer sehen wir da in die finsteren alten Berge hineindringen, riesige Öffnungen aufreißend; wir sehen, wie sie dort Maschinen auffahren, die das Innere des Berges herausfördern - während andere höllische Maschinen die aus den Eingeweiden der Erde herausgerissenen Stücke zerstampfen und zermalmen und wie der Mensch inmitten des Chaos dieser Verwüstungen seine Orgien feiert! Allein, liegt auch die mächtige Erde durch die Stürme der Zeiten hier verwittert und verödet, so bietet sie dem Menschen, ihrem Feinde, doch Trotz, denn mit Krankheit und Tod straft sie ihn und spottet mit bitterem Hohne seiner winzigen Angriffe.
   Die Stadt liegt auf einem sehr steilen Hügel, und es wäre schwer, sagen zu wollen, nach welchem Prinzip oder Plan sie entworfen wurde. Auf mich machte es den Eindruck, als hätte man nie an einen Plan gedacht, als hätte man sich bei den Bauten bloß an die Senkungen, die Vorsprünge und Winkel des berühmten Comstock-Lagers [Silbervorkommen] gehalten. Einige Straßen laufen gerade genug, andere scheinen in spitzen Winkeln hin und her zu ziehen, als suchten sie einen Ausweg, wie wenn Grubenarbeiter unter der Erde nach einer Ader suchen. Mitunter gibt es am unerwartetsten Punkte eine Querstraße, während sich da, wo man sicher eine erwarten würde, keine findet. Wer in der Eile vom oberen Hügel der Stadt nach dem entgegengesetzten Punkte in der Tiefe will, müßte unter dem Boden oder über die Dächer der Häuser sich Bahn machen, will er nicht den gewohnten Weg einer halben Meile zurücklegen. Alle Welt scheint da gebaut zu haben, wo man sich Grund und Boden erworben hatte. Die zwei Hauptstraßen sind freilich insofern regelmäßig, als sie ziemlich die Richtung des Comstock-Lagers einhalten. Sieht man aber von einem Nachbarhügel aus auf den unteren Abhang hinab, auf das sogenannte »Plateau«, so bietet die Stadt das Aussehen eines Haufens Schindeldächer, zufällig hingeworfen wie ein auseinandergefallenes Kartenspiel. Alle Straßen sind eng, mit Ausnahme derer, wo nur einige Häuser stehen, dann sind sie weit genug! Der eigentliche Geschäftsteil der Stadt ist erstaunlich rasch ausgeführt worden, denn im Frühling 1860 fanden sich nur einige Bretterhütten und Segeltuchzelte und ein paar Häuschen aus rohen Steinen vor. Heute aber bietet die Stadt schon die charakteristischen Eigentümlichkeiten einer Hauptstadt. Große solide Häuser aus Ziegeln, drei bis vier Stockwerke hoch, mit verzierter Front, haben die meisten leeren Stellen ausgefüllt, und viele Neubauten ähnlicher Art sind im Bau begriffen. Allein die Wunderlichkeit der Anlage, verbunden mit der mannigfaltigsten Architektur, worin sich die meisten Baustile der Alten vereint finden, zugleich aber auch Bauformen, die der modernen Welt wenig bekannt sein mögen, geben der berühmten Stadt ein hochkomisches, wenn nicht malerisches Ansehen, das bei genauerem Zusehen sich noch steigern mag.
   In den engen Straßen bewegen sich riesige Lastwagen mit wuchtigen Rädern und Achsen, die unter den ungeheuren Erzladungen für die Mühlen oder unter Warenmassen aus Kisten, Ballen, Säcken und Körben seufzen. Kräftige Gespanne - Pferde, Maulesel oder Ochsen, acht bis sechzehn Tiere an jedem Wagen - bieten die allergrößten Anstrengungen auf, um diese Lasten durch die Gebirge zu schleppen - einmal hinauf - dann durch die Senkungen dieser sich auf und nieder ziehenden Straßen. Es ist ein erbarmungswerter Anblick, diese Tiere zu sehen, wie sie vor Anstrengung und Schweiß dampfen und der schweißfeuchte Staub von ihnen herabfließt, wie sie anziehen, wie sie einen Satz tun und stöhnen, wie sie zurücksinken und dann wieder voran, dann niederstürzen und wieder emporschlagen, um von neuem anzuziehen unter den unerbittlichen Peitschenhieben; so leben, so arbeiten diese armen Tiere sich ab für ihr dürftiges Heu und die wenige Gerste, bis sie vor Erschöpfung tot hinsinken! Wie willkommen müßte ihnen der Tod sein, wenn sie eine Seele hätten. Allein der Mensch, er hat eine Seele und muß für sein kärgliches Stück Brot auch hart arbeiten. Die Fuhrleute, die die sich abmühenden, erschöpften Tiere antreiben, scheinen das Leben so lieb zu haben, daß sie der Ewigkeit spotten. Es sind gebräunte, bärtige Kerle mit Gesichtern, die mit Staub und Erde verziert und von der brennenden Sonne und dem trockenen Winde der Straßen so lederfarbig gegerbt sind, daß man sie wohl für Hindus halten könnte. Mit welcher boshaften Lust lassen sie ihre Lederpeitschen durch die Lüfte pfeifen, und welche wilden Verwünschungen stoßen sie dabei aus! Nein - ein solches Fluchen, eine solche aufsteigende Skala von Flüchen, im Vergleich mit welcher das Fluchen in allen anderen Teilen der Welt nur das Gemurmel eines freundlichen Baches gegen den Sturz und das Donnergetöse eines Wasserfalles ist. Die Fruchtbarkeit ihrer Erfindungskraft im Fluchen, der Reichtum ihrer Bilder dabei, ihr Genie für die wunderlichste, aber ergreifende Verbindung ihres Jargon mit dem Heiligsten, die komische Originalität, mit der sie ihre Verwünschungen ausstoßen und steigern, ihr kindischer Glaube dazu, daß die stummen Tiere sie verstanden - alles dies vereint würde ihnen bei einem edleren Beruf einen Platz im Tempel des Ruhnis verschaffen müssen! Wenn Morden aber zu den freien Künsten in Virginia gehört, so scheint das Fluchen trotzdem noch höher in der Meinung zu stehen.
   Wenn man in die Hauptstraße einlenkt, so muß man an der oberen Seite an riesigen Haufen Erde und Erz vorbei. Die Abhänge der Hügel sind in einer Ausdehnung von mehr als einer Meile hin wellenförmig durchlöchert! Welches Schauspiel! Dampfmaschinen lassen ihren Dampf ausfahren, aus den langen Reihen der Schornsteine erheben sich dichte Rauchwolken, welche die Luft verfinstern, die Quarzbatterien sind in voller Tätigkeit, und die Hämmer lassen ihr Echo ertönen! Die Sprengungen in der Tiefe reißen die Erde auf, an den kostbaren Felsen arbeiten Piken und Brechstangen; allenthalben erstehen Bretterhütten, wo die Schreiner mit Sägen und sonstigen Arbeiten beschäftigt sind; die Magazininhaber rollen ihre Waren auf der Straße ein und aus, die Obstverkäufer bieten ihre Früchte feil, und die Fuhrleute laden Waren und Erz auf und ab. Die Trinksäle schimmern mit ihren prachtvollen Schenktischen voll bunter Gläser mit vielfarbigen Likören, wo die durstigen Gäste das brennende Gift mit Wonne einschlürfen. Auktionäre, umgeben von kauflustigen oder gaffenden Spekulanten, schreien die Aktien insolventer Aktionäre mit lauter Stimme aus, und Orgelspieler leiern ihre Melodien dazu her und quälen dabei ihren hektischen Affen ab, indes Leiermädchen bacchanalische Lieder in ihren Spelunken absingen. Jüdische Kleiderhändler verkaufen wunderbaren Plunder wertloser Kleidungsstücke zu Spottpreisen. Zettelanschläger ziehen durch die Straßen, um ihre Zettel anzuschlagen, in denen Auktionen, Theatervorstellungen und neue Salons empfohlen werden; die Zeitungsverkäufer schreien sich die Kehlen heiser, indem sie die Stadtjournale mit den letzten telegraphischen Berichten ausrufen! Die Postwagen fliegen unterdessen mit ihren Passagieren nach Reese fort, während Passagiere beständig auf dem Wege von Frisco eintreffen und die unermüdlichen Wells, Fargo u. Comp. ihre Briefe, Pakete und Zeitungen an die harrende Menge verteilen, mitten unter schimmernden Haufen Silberklumpen und einem wunderbaren Durcheinander von Briefkästen, Rechnungsbüchern und Zwanzig-Dollar-Stücken! Mit einem Worte, das Leben ist hier eine unausgesetzte Aufregung, unterhalten durch Geldgier, Genußsucht, teuflische Begierden und einigen Unternehmungsgeist! Nirgends ist ein solcher Ort wiederzufinden. Eine der charakteristischsten Eigentümlichkeiten in Virginia ist die rastlose Leidenschaft der Einwohner für Annoncen. Nicht nur sind die Spalten der Zeitungen mit allen erdenklichen Arten von Anzeigen angefüllt, sondern auch die Straßen und Hügelabhänge sind mit glänzenden Anzeigezetteln beklebt. So kündigt der Besitzer eines kleinen Bretterhauses an: »Schaut herein! Für 50 Cents könnt ihr einen guten Bissen bekommen im »Salon der heulenden Wildnis«! Unter dem guten Bissen ist ein kräftiges Essen von Schweinefleisch und Bohnen, Zwiebeln, Kohl und sonstigen Lebensmitteln zu verstehen, die den Magen eines Minenarbeiters zu füllen vermögen.
   Im Anzeigenstil zeichnen sich die indischen Kleiderläden durch bewunderungswürdigen Erfindungsreichtum aus. Auf den langen Trottoirs blicken Dir Zettel entgegen, in den Fenstern, sogar auf dem Flur, während an allen zum Verkauf ausgehängten Kleidungsstücken Zettel angebracht sind. Neue Kleidungsstücke wie auch zweifelhafte werden in diesen unerschöpflichen Magazinen feilgeboten, die immer zum Kostenpreis oder zu einem ruinierenden Preis ausverkaufen, obwohl der Vorrat nie geringer wird. Ich glaube, ich sah in der Tat an der Tür eines solchen Ladens ein Paar Strümpfe wieder, das mir vor ein paar Jahren in Strawberry gestohlen worden war.
   Die große Zahl von Wirtshäusern führt zum lockendsten und verführerischsten Anzeigenstil. Die Zettel werden gewöhnlich mit ausgeschmückten und sorgfältig vergoldeten Buchstaben gedruckt und häufig gar mit Phantasiebildern verziert. Unter den prächtigsten Namen treten Erholungslokale auf, z. B. »Komfortable Herberge«, »Asyl der Minenarbeiter«, »Gesellschaftshalle«, »Im traulichen Schatten«, »Zur freien Laune«, und solchen Anzeigen schließt sich gewöhnlich noch eine Liste ausgesuchter Liköre und die Empfehlung eines prächtigen Billards an.
 »Oh - hier, hier, hier! Auktionsverkäufe an jedem Tag!« Dies ist eine andere Art Anzeige für einen sehr ergiebigen Geschäftszweig. In Virginia wie in San Francisco ist es eine wahre Manie geworden, Tag und Nacht Auktionen abzuhalten. Was auf keine andere Weise an den Mann zu bringen ist, wird auf diesem Wege verkauft, aber auch manches, was verkäuflich ist. Aktien, Pferde, Maulesel, Stiefel, Spezereien, Zinn, Materialwaren und Arzneimittel samt verlegenem Plunder aller Art werden auf glänzenden Anschlagzetteln angepriesen und dem Meistbietenden gegen bar zugeschlagen.
   Ein Zigarrenladen, nicht viel größer als feine große Warenkiste, hat seine Elefantenzettel über der ganzen Stadt und gar an den Hügeln prangen, worin dem verehrlichen Publikum die außerordentlichen Assortiments von »Regalias«, »Principes«, »Cheroots« empfohlen werden, samt den ausgesuchtesten Marken von »Gelbblättern«, von »Honigtau«, »Trostblatt<, »Eureka« und was nur immer im Bereich der Zigarrenwelt und des Tabakmarktes zu finden ist. Würde ein Archimedes hier aus seinem behaglichen Bade hinaus nackt durch die Straßen von Virginia rennen und sein »Eureka« verkünden, so würde man dies bloß als ein geschicktes Mittel ansehen, um eine Sendung feingeschnittenen Tabaks bald an den Mann zu bringen! Quacksalberpillen, Sirup und Reinigungsmittel schimmern in roten, schwarzen, blauen und weißen Lettern an jedem Schmutzwinkel, an Felsstücken oder Pfosten, umziert mit Hieroglyphen, geschmückt mit dem Leichengesicht eines sterbenskranken Menschen, gegenüber das von Gesundheit strotzende Bildnis eines angeblich Geheilten.
   Alle Handelszweige, alle nur erdenklichen Mittel zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib werden dem Publikum in dieser Weise vorgeführt. Das Zettelankleben zählt hier zu den Schönen Künsten, die von den bemerkenswertesten Persönlichkeiten von Virginia betrieben werden. Sie haben ein spezielles Interesse an gewissen Ecken, Aushängeschildern, gewissen Kästen, Erd- und Felshügeln, die ihnen mittels Pinsel und Kleister ein hübsches Einkommen abwerfen. Wer diese Zettelmanie zum ersten Male hier beobachtet, auf den macht sie einen eigentümlichen Eindruck, denn er meint, der ganze Platz hätte sein Inneres nach außen gekehrt, da ihm von jedem Standpunkte aus das Treiben eines jeden entgegenleuchtet.
 
Browne, John Ross
Reisen und Abenteuer im Apachenlande; Jena 1871

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