Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1908 - Fritz Kummer
In St. Franzisko

An einem prächtigen Sonntagnachmittag segelte ich von Oakland hinüber nach St. Franzisko, zum 'Wunder der Welt'. Es ist nur durch eine der großen Bahnen mit der übrigen Welt verbunden. Die meisten Linien haben ihre Endstelle in Oakland, von wo aus prächtige Fährboote den Verkehr über die Bai weiterleiten. Die Bai, geräumig genug, die Flotten der ganzen Welt zu beherbergen, bietet mit ihrem Hügelkranz, Buchten und Inseln ein Bild von seltener Naturschönheit. Nach der Westseite hin verengt sie sich zu einem Wasserarm, der zwischen hohen, mit Festungen gekrönten Felswänden - dem Goldenen Tor - hinausführt auf das Stille Weltmeer.
   Schon auf dem Fährboot lehrten mich Fröhlichkeit und Mitteilsamkeit der Leute, daß hier ein angenehmerer Menschenschlag lebt als im Osten; daß es hier dem Fremdling besser gefallen müsse als in Neujork oder Chikago. Diese beiden Riesendörfer dünken mich in jeder Hinsicht die schlechtesten Plätze für den fremden Arbeiter in Amerika. Dort ist der Lohn sehr niedrig, die Antreiberei am schlimmsten, das Lumpenproletariat am zahlreichsten; dort steht der gewerkschaftliche Zunftgeist in bösester Blüte, ist die Verspottung, um nicht zu sagen der Haß, gegen die Einwanderer am stärksten.
   Der 'Wilde Westen' ist unbestreitbar besser als sein Ruf. Wird im Osten eine unsagbar verrückte oder unerhört gemeine Geschichte erzählt, so hat sie sich selbstverständlich im 'Wilden Westen' zugetragen; im Westen hört man dann die gleichen Unsinnigkeiten dem 'Schwarzen Osten' zuschreiben.
   Den westwärts strebenden Fremdling machen die Yankees in väterlicher Weise auf die kommenden Gefahren aufmerksam. Noch am Ohio wurde ich gewarnt, nach Denver in keiner Wirtschaft einen Zehndollarzettel auf den Schanktisch zu legen, denn darauf gäbe es nichts mehr heraus; die Einforderung werde mit Hinauswurf, wenn nicht gar mit dem Schießeisen beantwortet. Diese Warnung war unnötig. Zum ersten hat ein deutscher Handwerksbursche Zehndollarzettel nicht nur so zum Hinwerfen, zum andern geht's im 'Wilden Westen' mindestens ebenso ehrlich zu wie anderwärts in Amerika. Das will nun allerdings nicht allzuviel besagen.
   Beim Betreten der Hügelstadt - St. Franzisko liegt auf fünf Dutzend Hügeln - wunderte ich mich, daß die Wirtschaften und sonstigen öffentlichen Stätten am Sonntag geöffnet waren. Demnach gehört die wirtschaftliche Hauptstadt Kaliforniens nicht zu den 'trockenen' Orten. Die Verfechter der 'Trockenlegung' behaupten, durch die Schließung der Wirtschaften am Sonntag würde verhindert, daß der Sabbat durch Schlemmerei und auf den Straßen torkelnde Menschen entheiligt werde. Diese Behauptung widerlegt das 'nasse' St. Franzisko. Hier sind sonntags nicht mehr, nein weniger Schlemmer und Betrunkene zu sehen als beispielsweise in dem am Sonntag gänzlich 'trockenen' Pittsburg oder dem nur 'gesetzlich trockenen' Neujork.
   In einigen Bezirken Amerikas ist das Zigarettenrauchen streng untersagt. Auf dieses Verbot machen einen die Bürger gewöhnlich erst immer aufmerksam, nachdem man ihnen den angebotenen Glimmstengel abgenommen und angebrannt hat. Im Eisenbahnzug machte der Kellner wiederholt bekannt, wer noch etwas trinken wolle, solle sich beeilen; wir seien bald in einem 'trockenen' Staat, wo berauschende Getränke nicht verabreicht werden dürften. Daß es aber dann, als wir durch das 'trockene' Gebiet fuhren, im Speisewagen weniger 'naß' zugegangen wäre als in einem ganz 'nassen' Staat, möchte ich nicht gerade behaupten. Viele Fahrgäste hielten sich verpflichtet, eine besondere Flasche auf das Gelingen der gänzlichen 'Trockenlegung' des Staates zu leeren. Von manchen Orten wird berichtet, daß dort das Spiel mit (neun) Kegeln verboten sei; die amerikanischen Bürger, gesetzachtend wie sie nun einmal seien, befolgten das Gebot auch buchstäblich - sie spielten eben bloß noch mit acht Kegeln.
   Ein mustergültiges Beispiel für die amerikanische Tatkraft ist die Wiederaufbauung St. Franziskos. Die Stadt liegt im Erdbebengeblet. Von Zeit zu Zeit poltert es dort im Schoße der Erde. Die Zeitungen berichten es auch manchmal; immer davon zu erzählen, könnte dem Geschäft schaden. An einem der ersten Apriltage des Jahres 1906 schwankte der Boden außergewöhnlich stark. Der Erdstoß selbst richtete nun zwar wenig Schaden an, aber er zerriß Gasröhren und elektrische Leitungen, wodurch Feuer ausbrach, das eine Straße nach der andern zerstörte. Der Brand hätte bei weitem nicht den erschreckenden Umfang annehmen können, wären die Behörden ihrer Aufgabe gewachsen gewesen. Der Brandgeruch mußte sich verflüchtigen vor dem Gestank, der der plötzlich zum Platzen gebrachten Eiterbeule entströmte. Die Feuersbrunst zeigte zum Entsetzen der Bürger die Unzulänglichkeit der Wasserversorgung sowie des Löschwesens, die Kopflosigkeit der Behörden, die sträfliche Nachlässigkeit bei der Organisierung der öffentlichen Dienste und bei der Errichtung von Bauten. An allen Ecken und Enden scheußliche Korruption.
   Was die Kopflosigkeit der Behörde verschuldet, sollte durch die Einberufung der Soldateska verbessert werden. Diese förderte in den Stunden der wirklichen Gefahr nur noch den allgemeinen Wirrwarr. Sie arbeitete mit Flinte, Säbel, erbeutete Schnapsflaschen und Sprengstoffe zum größten Entsetzen der Bürgerschaft. Die Reichen flüchteten; die Armen wurden von dem Feuer aus ihrem Heim von Straße zu Straße bis in die Außenbezirke getrieben. Die in Eile zusammengerafften Habseligkeiten langten kaum zur Bedeckung der Blöße. Die Welt eilte der aus tausend Wunden blutenden Stadt zu Hilfe. Die gesammelten Lebensmittel konnten dank der behördlichen Mißwirtschaft nur mangelhaft verteilt werden; ein Teil verfaulte, ein anderer wurde wahllos verschleudert und nur ein geringer Teil sickerte auf die wirklich Bedürftigen durch. Vom Bargeld verschwand ein guter Teil in den weiten Taschen der Großdiebe. Die Geschichten, die noch Jahre nach dem 'großen Feuer' an allen Straßenecken über die Handlungen der Hilfsausschüsse und der Behörden in den Ohren klingen, sind zu zahlreich und zu ungeheuerlich, als daß sie wiedergegeben werden könnten. Wäre auch nur der zehnte Teil davon wahr, sie könnten die Wohltätigkeitshyänen im frommen Kalabrien neidisch machen.
   Nach einigen Tagen schreiender Not und stummer Ratlosigkeit kam die Bürgschaft wieder zu sich; der 'Geist des Westens' begann sich aufs neue tatkräftig zu regen. Mit gemeinsamen Kräften ging's wieder an den Aufbau der Stadt. In drei, vier Jahren schon war sie prächtiger und größer erstanden. Zu den alten Wolkenkratzern - die übrigens dem Feuer gut standhielten - ist eine stattliche Zahl neuer gekommen; für die zerstörten Innenbezirke sind neue, schöne Viertel im Weichbild gebaut worden. Nur in der Mitte der Stadt blieben noch Brandstätten liegen, weil sich nicht gleich jemand fand, der die maßlos in die Höhe geschnallten Preise bezahlen wollte.
   Wenn man die Geschwindigkeit des amerikanischen Städteaufbaues richtig verstehen will, darf das Hirn allerdings nicht durch Gedanken an europäische Baugesetze beirrt werden, noch darf hundertjährige Dauerhaftigkeit und Sicherheit den Ausgang der Betrachtungen über Hausbau bilden. Über papierne Hindernisse und mit Sorgen über das, was nach ihm sein wird, grämt sich der Yankee nicht. Wenn man vom Lande der Wolkenkratzer hört, darf man nicht denken, die ganze oder halbe Bevölkerung des Landes sei in solchen aus Eisen und Zement verfertigten Ungetümen untergebracht. Die sechzehn Millionen Familien des Onkel Sam wohnen nahezu alle in Ein-, Zwei- oder Dreifamilienhäusern. Am Goldenen Tor ist das Dreifamilienhaus fast allgemein. Eine Familie bewohnt ein Stockwerk mit etwa vier Zimmern nebst Baderaum. Die milde Witterung erlaubt Nachlässigkeit in der Vorsorge gegen Kälte.
   Über die Häuserbauerei im 'Wilden Westen' wird der europäische Fachmann sich höchlich ergötzen. Das dreistöckige Werk wird aus stärkeren Dachlatten und zölligen Brettern buchstäblich zusammengenagelt. Die Kunst des Anordnens der Latten und Bretter ist die eigene Erfindung der eingeborenen Zimmerleute. Manchmal sieht man auch drei Zoll starke Bretter, ja selbst vierzöllige Balken verwendet. Die Wände sind natürlich sehr schwach. Ein eindringender Drahtstift geht womöglich in des Nachbars Spiegel. Aber das ist nicht von Bedeutung. Übrigens, warum hängt das Grünhorn seinen Spiegel gerade vor die Nagelspitze? Nachdem die ganze Holzkiste säuberlich mit Gips und Farbe übertüncht ist, ist ein amerikanisches Haus, Klasse II, wohnfertig. Da und dort werden an der Vorderseite Backsteine bis unter die zweiten Fenster aufgeschichtet und ruinenfarbig angestrichen. Das erhöht die Dauerhaftigkeit nicht wenig. Wenn dann noch ein Schild mit den Worten: Feuerfest und erdbebensicher! angebracht wird, so sind alle Bedingungen erfüllt, die der Bürger an ein standsicheres Heim billigerweise stellen kann.
   Diese Art des Bauens hat den Vorteil der Billigkeit. Dank ihrer ist es dem Mann mit kleinem Geldbeutel, dem Arbeiter, leichter möglich, in die Kaste der Hausbesitzer zu treten. Am Goldenen Tor trifft man weit mehr Industriearbeiter mit eignem Heim als in Europa. Die höheren Löhne erleichtern die Ansammlung eines Sümmchens. Der weitergehende Arbeiter benützt es als Anzahlung für ein 'Lot', ein Stück Land in Sacktuchgröße. Noch ehe er es abgezahlt, hat er gewöhnlich schon mit dem Errichten eines Hauses begonnen, wenn er nicht vorgezogen haben sollte, Land und Haus für, sagen wir, 3 000 Dollar auf Abzahlung zu nehmen. Zinsen und Abzahlungsrate sind immer noch niedriger als die Miete.
   Hat der hausbauende Arbeiter einige Freunde in der Zimmerergewerkschaft, so sind sie schließlich nicht abgeneigt, ihm jeden Sonntag ein Stockwerk zusammenzunageln. Natürlich muß er ihnen den Mindestlohn und noch den Zuschlag für Sonntagsarbeit zahlen, daneben genügend Zeit und Mittel geben, die sonntäglichen Sägemehlstaub doppelt schwer verdauenden Kehlen zu netzen. Die von den Zimmerleuten noch ungetan gelassene Arbeit verrichtet der werdende Hausbesitzer oft selbst. Große Eile und Geschicklichkeit sind dazu nicht nötig. Immerhin, er hat ein Heim und zieht mit seiner Familie ein. Mit der Vollendung des Daches muß er sich natürlich beeilen, wenn der November, die Regenzeit, heranrückt.
   Daß die aus rasseldürren Brettern und Latten zusammengenagelten, durch feuertechnische Maßnahmen kaum geschützten Behausungen ausgezeichnet brennen, braucht nicht besonders gesagt zu werden. Wenn Feuer ausbricht, werden gleich ganze Häuserreihen vernichtet. Darüber braucht man sich nicht zu grämen. Die Versicherungsgesellschaft deckt den Schaden, sie deckt sich aber schon im voraus durch übermäßig hohe Raten. In Amerika beträgt die Versicherungsgebühr für das Hundert oft soviel wie in Europa für das Tausend des versicherten Wertes.
   So mangelhaft wie der Oberbau ist der Unterbau der Häuser. Ein starkes Grundmauerwerk wird zumeist für entbehrlich gehalten. Die hölzerne Bude wird auf einige Schichten Ziegelsteine oder Zementlagen gesetzt und dem Himmel überlassen, sie darauf zu halten.
   Der freie Raum zwischen Erd- und Fußboden bildet für Ratten einen molligen Unterschlupf. Wo sollten sich sonst die armen Tiere aufhalten, die sich von aller Welt her in der Hafenstadt zusammenfinden? Leider sind viele von diesen vierbeinigen Weltumseglern mit Pest behaftet. Da sie sich den Gesundheitsbehörden nicht zur Untersuchung vorstellen, müssen sie eben am Lande in ihren Versammlungsplätzen aufgesucht werden.
   Kurz vor meiner Ankunft in St. Franzisko war den Ratten wieder einmal der Krieg erklärt worden. Von Washington hatte die Stadt einen Fachmann kommen lassen, der mit einer Schar rüstiger Gesellen die Vertilgung der vierbeinigen Pestträger nach allen Regeln der Wissenschaft versuchte. Häuser, Kisten, Böden, kurz alles wurde aufgebrochen, wo man den Feind vermutete. Darob fluchten die ruheliebenden Bürger. Um ihnen die Notwendigkeit des Krieges darzutun sowie sie die Riesensummen, die er kostete, vergessen zu machen, marschierten Rattenfänger, ein Beutestück auffällig am Schwanze schlenkernd, herum, von einem Knappen begleitet, der unter der Last einer für kleinere Bären bemessenen Falle keuchte. Nachdem viele Wochen lang Ratten geködert, gefangen, gesichtet, gemessen und getötet, ihre Herkunft, Rasse, Alter und Farbe festgestellt, das Ergebnis wissenschaftlich gesichtet, verarbeitet, besprochen und veröffentlicht worden war, endete der Krieg zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Die Ratten haben wieder Ruhe, die Steuerzahler behalten ihr Geld, die Krieger freuen sich, einen so 'easy job' (leichte Arbeit) für städtischen Mindestlohn und bürgerliches Höchsttrinkgeld gehabt zu haben und sie hoffen, daß in der Chinesenstadt bald wieder ein Pestfall oder ähnliches vorkommen möge, damit der Rattenkrieg wieder beginne.
   Das 'Wunder der Welt' breitet sich über fünf Dutzend Hügel aus. Die Straßen sind schnurgerade über die Anhöhen gezogen. Hügel scheinen für die Stadtplanmacher nicht vorhanden gewesen zu sein. Ihre in der Kanzlei auf gerades Papier geworfenen Zeichnungen sind rücksichtslos ausgeführt. Da gibt es Häuser, die hinten bis zum Dach in der Erde stecken und vorn vielleicht die 'größte Zigarrenhandlung der Welt' beherbergen. Die Rohre für Zu- und Ableitung des Wassers im Hausinnern anzubringen, gilt hier nicht immer als vorteilhaft. Sie werden einfach an der Außenseite hinaufgenagelt und lassen sich so besser ausbessern. Gasmesser sah ich oft außen an der Hausseite auf die Erde gestellt, wohl damit dem Beamten der umständliche Weg erspart bleibe.
   Der Schönheitssinn ist in den amerikanischen Gemeinden erst im Keime vorhanden. Um die Verschönerung der Städte oder die Reinigung der Straßen wird kaum ein Pfifferling gegeben. Nicht doch, im Gegenteil: es werden jahraus, jahrein schwere Summen dafür ausgeworfen. Die Verträge für Straßenreinigung und -ausbesserung sind viel gesucht, denn sie stellen eine günstige Gelegenheit dar, die Stadtkasse in unauffälliger Weise zu plündern. Für die Erlangung dieses Vorrechtes werden Tausende von Dollar an Bestechungsgeldern an die Stadtväter gezahlt. Einmal den Vertrag in der Tasche, hält der Unternehmer den besten Teil der übernommenen Arbeit für beendet. Die Fortschaffung des Unrats als auch die Ausbesserung der Straßen wird zur Nebensache.

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Stuttgart 1913, Nachdruck 1986

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002

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