1873 - Robert von Schlagintweit
Salt Lake City
Allgemein wird die schöne Lage der in Plan und Ausführung unwillkürlich an die künstlerischen Eingebungen eines ehemaligen kleinen deutschen Dynasten des vorigen Jahrhunderts erinnernden Salzseestadt, ihr zuträgliches Klima und ihre herrliche Umgebung bewundert; in der letzteren fällt uns namentlich der sie südöstlich einschließende Gebirgszug auf, da er Gipfel enthält, die gegen 11.000 Fuß emporragen und auch im Hochsommer fast immer in den obersten Teilen mit Schnee bedeckt sind.
Drei Meilen östlich von der Salzseestadt befindet sich das am 20. Oktober 1862 angelegte Camp Douglas, ein für Utah nicht unwichtiger, von Unionstruppen besetzter militärischer Posten, der bei seiner sehr schönen Lage auf einem hohen Plateau, wenn richtig armiert, die Stadt vollständig beherrscht. Unweit des Camp kommen wir an die sehr romantischen Engpässe Emigration Canyon und Parely's Canyon, durch die sich vor Eröffnung der Pacificbahn der Hauptverkehr nach der Stadt bewegte. Interessant sind ferner die vielbesuchten, mit ganz zufriedenstellenden, wenn auch einfachen Badeeinrichtungen versehenen, eine halbe Stunde nordwestlich von der Stadt gelegenen heißen Schwefelquellen, die eine Temperatur von 31° Reaumur [39 °C] haben.
Das sogenannte in der Nähe der Stadt befindliche Fort, oder richtiger gesagt, die ursprünglich zwölf Fuß hohe, unten sechs Fuß breite und oben zwei dreiviertel Fuß dicke, auf eine Strecke von mehreren Meilen verteilte Mauer, welche die Mormonen am 26. August 1847, also wenige Wochen nach ihrer Ankunft am Großen Salzsee, zum Schutz gegen etwaige Indianerüberfälle zu errichten begannen, ist gegenwärtig im Verfall begriffen und wird bald nur noch Trümmer aufzuweisen haben. Diesem vom militärischen Standpunkt aus gänzlich wertlosen Werk hat man einige Jahre nach seiner Vollendung aus politischen Gründen eine ihm nicht im entferntesten zukommende Wichtigkeit und Bedeutung beigelegt.
Sehr vorsorglich wurde gleich bei Anlage der Stadt die Möglichkeit zukünftigen Wachstums in Betracht gezogen; daß nach einem einheitlichen Plan gebaut worden ist, ersehen wir sofort aus der Regelmäßigkeit der breiten Straßen und ihren noch zu schildernden Eigentümlichkeiten. Bei vielen anderen neuen amerikanischen Städten, namentlich bei den auf den kalifornischen Goldfeldern entstandenen, war von einer Symmetrie in der Anlage und Aufstellung der Wohnstätten anfangs keine Rede; sie waren auf das bunteste nach allen Richtungen zerstreut, bis endlich eine Feuersbrunst, die man unter obwaltenden Umständen fast als eine Wohltat bezeichnen könnte, die engen, vielgewundenen, unansehnlichen Straßen hinwegfegte und Raum für breitere und bessere Wege schaffte.
Die allgemeine Form der in zwanzig Bezirke (wards) geteilten Salzseestadt ist der eines L nicht unähnlich, wobei der längere Teil der Stadt von Osten nach Westen und der kürzere von Norden nach Süden sich erstreckt. Jede der ziemlich genau südnord- und ostwestwärts laufenden und in rechten Winkeln sich durchschneidenden Hauptstraßen ist mit Einschluß eines Bürgersteiges von zwanzig Fuß hundertzweiunddreißig Fuß breit, mit schattenreichen Bäumen bepflanzt, und wird von einem kleinen Bach durchzogen, der, künstlich hergeleitet, ein vorzügliches Wasser enthält; durch sinnreiche Vorrichtungen kann dasselbe auch den in der Nähe mancher Häuser befindlichen Gärten zugeführt werden.
Die Straßen sind nach ihrem lokalen Verhältnis zum Tempelviertel benannt, wobei die Hauptverkehrsader, die East Temple Street, die man ebenso oft als Main Street bezeichnet hört, zum Ausgangspunkt genommen wird; die östlich hiervon gelegenen Straßen führen die Namen 1. 2. 3. 4. u.s.w. East (Temple) Street, die westlich befindlichen 1. 2. 3. 4. usw. West (Temple) Street. Obschon man sich große Mühe gibt, die Straßen möglichst rein zu halten, sind sie doch im trockenen Sommer oft sehr staubig und im Winter und Frühjahr wegen des angehäuften, mit Schmutz reichlich vermischten Schnees nicht viel besser als die meisten Straßen der neuen, im fernen Westen Amerikas entstandenen Städte. Übrigens finden wir - bis jetzt allerdings nur ausnahmsweise - an einzelnen belebten Straßenübergängen Leute, die sie rein halten, in der Hoffnung, hie und da von den Vorübergehenden ein kleines Trinkgeld für ihre Bemühungen zu bekommen.
Bereits durchzieht eine der City Railroad Company gehörende Pferdeeisenbahn die wichtigsten Straßen der Stadt; die am 24. Januar 1872 mit einem Kapital von 180.000 Dollar zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft, die bis jetzt sehr zufriedenstellende Einnahmen gemacht hat, beabsichtigt, ihre am Utah Central Bahnhof beginnende Linie nach den eine halbe Stunde nordwestlich von der Stadt gelegenen, vielfach benutzten Schwefelquellen, sowie später auch in östlicher Richtung gegen Camp Douglas zu auszudehnen.
Die Salt Lake City Gas Company, am 25. Mai 1872 mit einem Kapital von 150.000 Dollars incorporiert, versorgt die ganze Stadt seit dem Sommer 1873 mit diesem Beleuchtungsmaterial.
Viel geschieht ferner für die elegante und geschmackvolle Einrichtung von Läden und Magazinen aller Art. Wie sich auch in Zukunft die Verhältnisse gestalten mögen: Salt Lake City wird stets eine der schönsten und interessantesten Städte Nordamerikas bleiben.
Mit wenigen Ausnahmen sind die fast nie aus Stein, sondern aus Holz und vorwiegend aus Adobes gebauten Wohnhäuser unansehnlich; denn außer dem Parterre haben sie selten mehr als einen Stock. Adobes sind ungebrannte Backsteine , die aus zwei Dritteln Sand und einem Drittel leichten Lehm bestehen, an der Sonne getrocknet und sehr fest werden; Gebäude aus diesem Material können nur in einem so trockenen Lande wie Utah bestehen.
Vor einer großen Anzahl der niedlichen und äußerst sauber gehaltenen Häuser Salt Lake City's befindet sich ein kleiner, mit Obstbäumen oder Gebüschen und Sträuchern verschiedenster Art bepflanzter Raum; von einer Anhöhe aus betrachtet gleicht daher die in ihrer Art einzige Stadt einem großen Garten, in welchem eine bedeutende Anzahl von Villen, kleinen Häusern und sonstigen Gebäuden von mannigfachem architektonischen Stil zerstreut umherliegen. Übrigens fehlen der Salzseestadt große öffentliche Plätze; auch enthält sie bis jetzt keine parkähnlichen Anlagen, die wie die Squares von London und anderen englischen Städten nicht bloß zur Verschönerung, sondern auch zur Gesundheit beitragen. Mögen die zur Zeit noch schwebenden Verhandlungen, wie man diesem Mangel, der sich mit zunehmender Bevölkerung der Stadt immer fühlbarer machen wird, abhelfen kann, einen günstigen Verlauf nehmen!
Unter der Anzahl von eigenartigen Gebäuden, welche die Salzseestadt aufzuweisen hat, ist vor allem Brigham Young's Residenz zu nennen; sie besteht aus zwei Hauptgebäuden, dem sogenannten Bienenkorb (bee hive) und dem Löwenhaus (lion house) und mehreren Büros (darunter auch das Zehentamt) und ist ringsum klosterartig mit einer elf Fuß hohen Mauer umgeben.
Die wenigen Zimmer, die ich in einem der Wohnhäuser Young's sah, waren mit elegantem Geschmack und großem Komfort eingerichtet; die Möbel waren durchgehend sehr gut und solid, den Boden bedeckten dicke Teppiche, an den Wänden hingen in Öl gemalte Brustbilder hervorragender Mormonen; nirgends machte sich übertriebener Luxus unangenehm geltend.
Das architektonisch sonderbare, aber unbestreitbar geschmackvolle Adlertor mit dem daran stoßenden Schulhaus zeigt uns das Wappen der Mormonen, einen Bienenkorb, auf welchem ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln steht.
Im modernen Stil gebaut ist das unweit Young's Wohnung gelegene, für das Archiv bestimmte Gebäude (historian and recorder's office). Hier befindet sich auch die Bibliothek, die in seltener Vollständigkeit alle auf das Mormonentum bezügliche Schriften und Werke, auch die seiner heftigsten Gegner, außerdem aber nur wenige Bücher enthält. Eine Zierde der Bibliothek ist der dort aufgestellte große Globus.
Den neuen, am 6. Oktober 1867 zum ersten Mal benutzten Tabernakel hat man nicht unpassend mit einem großen umgestülpten Boot verglichen. Dieses sonderbare Bethaus ist oval und wird von einem gewölbten, tief herabreichenden Dach bedeckt, das auf sechsundvierzig roten Sandsteinsäulen ruht; diese quadratischen Säulen, von denen jede sechzehn Fuß hoch und vier Fuß dick ist, befinden sich jedoch nicht am äußersten Rand des Daches, das vielmehr verandaartig über dieselben hinausragt. In dem 250 Fuß langen, über 150 Fuß breiten und 80 Fuß hohen Inneren findet man nichts als leere Wände und Decken, eine ringsumlaufende Galerie, lange Reihen von ganz gewöhnlichen, mit hohen Lehnen versehenen Holzbänken, auf denen gegen zwölftausend Menschen Platz finden, und eine kolossale, aber meiner Ansicht nach äußerst plumpe, von den Mormonen selbst mit einem Aufwand von 70.000 Dollars erbaute Orgel. Der Gottesdienst findet jeden Sonntag um 10 Uhr morgens und 2 Uhr nachmittags statt.
Schlagintweit, Robert von
Die Mormonen oder Die Heiligen vom Jüngsten Tage
Köln & Leipzig 1874