Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1868 - Ann Eliza Young
Bei den Mormonen: Der Prophet unterwegs
Murray, Utah

Brigham Young wurde bei seiner Ankunft in South Cottonwood sehr herzlich begrüßt; alle Bewohner hatten sich auf der Straße eingefunden, um ihn willkommen zu heißen.
   So ist es üblich, und deshalb sind seine Fahrten durch sein Land eine einzige Triumphtour. Er wird in der Regel von einigen Mitgliedern seiner Familie begleitet, vielleicht von einer oder mehreren Ehefrauen oder einem seiner Söhne - in der letzten Zeit war es immer Brigham jr., der sein Nachfolger werden und in die rechten Verfahrensweisen eingeführt werden soll -, einem oder mehreren Beratern, einigen Aposteln und wem immer sonst noch einzuladen Brigham gefällt. Sie fahren in Kutschen und bilden allein schon eine ziemliche Prozession.
   Bereits vor jeder Siedlung, der sein Besuch gilt, wird er von einer Reitertruppe empfangen. Ein bißchen näher am Ort, gerade am Ortseingang, erwartet ihn ein anderer Trupp: manchmal nur die Kinder, aber häufiger, in den großen Ortschaften, wo man sich eifrig Mühe gibt, alles bestens zu machen, alle, die laufen können: Männer, Frauen und Kinder, vorneweg eine Blaskapelle, stellen sich auf, um den Propheten zu begrüßen. Sie bilden verschiedene Gruppen, von denen jede ihr eigenes Banner hat. Männer mittleren und hohen Alters sammeln sich hinter dem Banner »Väter in Israel«, die gleichaltrigen Frauen hinter dem Banner »Frauen in Israel«. Die jungen Männer sind stolz auf die Inschrift »Verteidiger von Zion«, die jungen Mädchen stehen frisch und lieblich unter dem Banner »Die Töchter von Zion - Tugend«, und die Kleinsten, ganz am Schluß, sind »Die Hoffnung von Israel«. Andere Fahnen entlang dem Wege tragen Inschriften wie »Heil dem Propheten«, »Willkommen dem Präsidenten«, »Gott schütze Brigham Young«, »Der Löwe des Herrn« oder ähnlich.
   Während der Präsident und seine Begleitung an den Leuten vorbeiziehen, spielt die Kapelle, die Leute jubeln, Männer schwenken ihre Hüte, Frauen ihre Tücher, und junge Mädchen und Kinder werfen Blumen. Und ihr Prophet - sollte er gute Laune haben - verbeugt sich und lächelt im Vorbeifahren. Alles ist freundlich und fröhlich und guter Dinge, und die Leute sind überglücklich, weil der Empfang des Propheten so gut abläuft.
   Hin und wieder aber gießt die Hauptperson der ganzen Veranstaltung kaltes Wasser über die Freude, und alle Bemühungen waren umsonst; so war es neulich in Salt Lake City. Brigham war lange im Süden von Utah unterwegs gewesen, um den »United Order of Enoch« zu gründen, hatte aber damit nur wenig Erfolg gehabt; demzufolge war er alles andere als zufrieden mit seinen »widerspenstigen Leuten«.
   Bei seiner Rückkehr wurde er am Bahnhof von Tausenden seiner Anhänger erwartet, die sich in außergewöhnlich großer Zahl und unter außergewöhnlich großem Aufwand versammelt hatten. Als er ausstieg, brausten Jubelrufe, die Kapelle spielte, und aller Augen suchten ihn, um seine Anerkennung ihrer Bemühungen zu sehen. Zur allseitigen Überraschung und Verärgerung stieg er aus dem Wagen in die Kutsche, schloß den Verschlag und fuhr davon, ohne auch nur die geringste Notiz von dem zu nehmen, was um ihn herum vorging.
   Die Heiligen gingen nach Hause, ausgesprochen traurig und verletzt, aber am nächsten Sabbat unternahm der Prophet den Versuch, ihre Gefühle zu besänftigen und die ganze Angelegenheit beizulegen, indem er erklärte: »Brüder und Schwestern, ihr wart vielleicht ungehalten darüber, daß ich Euren Empfang nicht zur Kenntnis genommen habe. Wenn dem so ist, tut es mir leid. Aber ich hatte gerade einen Anfall von Rheumatismus in meinem linken Fuß.«
   Die Entschuldigung wurde akzeptiert, was anderes kam auch nicht in Frage. Der Prophet hatte getan, was er für eine angebrachte Geste hielt; einige seiner Brüder jedoch waren so wenig folgsam, daß sie hinterher meinten, der Rheumatismus hätte wohl eher im Kopf gesessen wegen eines neuerlichen Mißerfolges, die Leute zu ihrem religiösen und seinem weltlichen Fortschritt zu bewegen.
   Meistens ist er sehr gut gelaunt, strahlt auf seine Gefolgschaft mit einem gnädigen und gönnerhaften Lächeln herunter und nimmt alle Verehrung hin, als ob sie ihm durch göttliches Recht zustünde. Selbst ein König könnte alle Verehrung nicht für selbstverständlicher halten als dieser ehemalige Glaser, der für wenig Geld arbeiten mußte und der den Farmer, bei dem er eine Tagesarbeit abgeleistet hatte, um eine neue Jacke anging, weil seine alte zu schäbig war. Er wollte darin auf Predigertour gehen, denn gerade hatte ihn der »Geist« von der Arbeit in die Methodistenversammlung der nächsten Stadt gerufen.
   Wenn er auf Reisen ist, wird er immer im besten Haus am Platze untergebracht, und alles wird getan, damit er es bequem hat. Seine Gefährten werden in anderen Häusern der Stadt einlogiert, abends gibt es einen Tanz, der den Empfang, wie er sonst üblich ist, ersetzt; Kapellen und Chöre bringen ihm Ständchen, und in der Nacht wird um sein Hauptquartier Wache gegangen. Es ist doch etwas Besonderes, auf Besuchstour zu gehen, und der Prophet hat den meisten Spaß daran. Für die Heiligen ist es das Ereignis des Jahres, und sie treffen so umfangreiche Vorbereitungen, daß sie noch monatelang später den Gürtel enger schnallen müssen.

Young, Ann Eliza
Wife No 19, or: The Story of a Life in Bondage
Hartford 1876
Übersetzung: U. Keller

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002

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