Um 1907 - Fritz Kummer
Von Denver nach Kalifornien
Über die Rockies
Hinter Denver beginnt die 'bilderreichste Bahnstrecke der Welt'. In wurmartigen Windungen steigt die Riograndebahn ins Felsengebirge von Kolorado. Herrliche Aussicht auf Tal und Schneeberge. An alten Bergwerken und verlassenen Goldwäschereien geht's vorüber. Der in Rauchwolken gehüllte Industrieort Leadville, bekannt durch reiche Erzlager wie durch schwere Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, kommt heran. Unter Pusten und Ächzen erreicht das Dampfroß den Breckenridgepaß. Bei Boreas ist die höchste Stelle des Felsengebirges (3500 Meter) erreicht. Der Aufenthalt genügt gerade, durch Laufen im Schnee die steifgewordenen Glieder wieder beweglich zu machen. Das mit scharfem Glase bewaffnete Auge findet bald das Holy Cross, eine mit ewigem Schnee gefüllte kreuzförmige Bergrinne. Nachdem die Wasserscheide vorüber ist, geht es in stellen Windungen wieder bergab.
Eine fremdartige, bezaubernde Gebirgslandschaft versinkt im Hintergrund. Die Berge gemahnen von weitem an Riesenschlösser, an mammutartige Burgruinen mit roh behauenen Vorderseiten, die bei der Näherung zu Felsen mit senkrechten Wänden werden, denen Wind und Wetter in vieltausendjähriger Arbeit Kanten gebrochen, Höhlen ausgespart, Form gegeben hat.
In der Zehnmeilenschlucht donnern Wassermassen zu beiden Seiten in die Tiefe. An den fast senkrechten Abhängen wühlen in schwindelnder Höhe Menschen gleich Maulwürfen im Eingeweide der felsigen Erde nach dem glitzernden Erz. Vom Zuge aus gleichen sie lebenbegabten Erdklümpchen. In harten Felsen getretene Pfade schlängeln zu ihnen hinan, die von ziemlicher Höhe an von Wasserleitungen talwärts begleitet werden. Die Pflanzenwelt ist armselig genug. Erst weit unten beginnt sich die Kahlheit der Natur zu vermindern und schließlich einer bunten Farbenpracht zu weichen.
Aber diese wechselt nur zu bald wieder mit einer trostlosen Wüste.
Viele Stunden rollt der Zug über versteinertem Lavaboden unmerklich aber stetig der niedrigsten Stelle der Tiefebene zu. Kein Baum, kein Wässerchen zeigt sich dem Auge; kein Vogel, kein Tier, kein Mensch hat sich in diese Sahara verirrt. Die Schatten der Bergriesen versinken in der Ferne. Soweit der Blick reicht, ein grauschwarzes Einerlei. Unerträglich wird die wüste Endlosigkeit, unmöglich der Ausblick, unausstehlich die Langweiligkeit. Man hält den Atem an, man schlummert unbewußt ein. Man träumt:
Durch die endlose Ebene keuchen Ansiedler mit ihren Planwagen. Die müden Gespanne sehnen sich nach einer Oase, nach frischem Wasser und Gras. Vergeblich spähen ihre Hirten nach Wegweisern. Kein anderer Fingerzeig will ihnen kommen als die gebleichten Knochen vorfahrender Schicksalsgenossen am Wege. Auf dem von den ersten Schrittmachern getretenen Pfade ziehen lange Wagenreihen mit kräftigeren, mutigeren Begleitern westwärts: die Mormonen. Ihnen folgen Forschungsreisende mit bewaffneter Begleitung und selbstlaufendem Lebensmittelvorrat, den Viehherden. Die Mannschaft erzählt, ohne die schußbereite Flinte aus der Hand zu lassen, von anstrengenden Märschen, von ihren Kämpfen mit den Rothäuten, die, von nagendem Hunger oder Raubgier oder wahnsinniger Lust nach Fleisch getrieben, ihre Herden im Nachtlager überfielen, aber blutig abgewiesen wurden. Aus diesem Stimmengewirr glaubt man die Manen der Mühlenbergs herauszuhören, die von friedlichem Tauschhandel mit den Indianern erzählen, von deren Friedfertigkeit und Hilfsbereitschaft; die berichten, wie die Tugenden der rothäutigen Nomaden mit den Beweismitteln des christlichen Zeitalters, mit List, Betrug, Schnaps, Blei und Pulver vernichtet wurden. Den Kundschaftern auf dem Fuße folgen mit Picke und Schaufel bewehrte vierschrötige Gestalten, deren Gesichtszüge an Italien und Südosteuropa erinnern. Sie werfen Schienenstränge, die den amerikanischen Osten mit der ersten auf dem Wüstenwege nach dem Westen gelegenen Oase verbinden, mit der Mormonenstadt am großen Salzsee.
Die mormonische Ansiedlung Salt Lake City, heute eine Stadt mit '200 000 glücklichen und zufriedenen Seelen', wurde 1847 von religiösen Eigenbrödlern gegründet. Dank ihrem bienenmäßigen Fleiß entstand um die Ansiedlung ein farbenprächtiger Rahmen. Aus der Stadt der 'Heiligen der letzten Tage' ragt weithin leuchtend das Tabernakel empor.
Nach der Salt Lake City folgt der Bahnknotenpunkt Ogden, in schattigem Grunde gelegen. Der Zug fährt auf einer 37 Kilometer langen Holzbrücke über den Salzsee, steigt dann allgemach bergan, hinauf in die letzte Bergkette, die uns von Kalifornien trennt, in die bezaubernde Gebirgslandschaft der Sierra Nevada.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913, Nachdruck Leipzig und Weimar 1986