Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1904-1905 - Wilbur Wright
Der Mensch kann doch fliegen - sogar im Kreis
Dayton, Ohio

Während unsere Patentanmeldung langsam ihren Weg durch das Patentamt machte, bauten wir eine zweite Maschine und flogen mit ihr im Sommer und Herbst 1904 auf einem Feld in der Nähe von Dayton. Nachdem wir uns mit dem Verhalten der Maschine bei Flügen mehr oder weniger geradeaus vertraut gemacht hatten, entschieden wir, einen vollen Kreis zu versuchen.
   Zunächst wußten wir nicht, wieviel Steuerung wir geben mußten, um einen Kreis von bestimmter Größe zu erreichen. Bei den ersten drei Versuchen fanden wir heraus, daß wir mit einem Kreis begonnen hatten, der zu groß war, als daß wir uns innerhalb der Grenzen des Feldes halten konnten, auf dem wir operierten. Deshalb landeten wir jedes Mal - ohne Unfall - vorzeitig, um die Grenzen nicht zu überfliegen. Beim vierten Versuch am 20. September schafften wir einen vollständigen Kreis und die Maschine kam sicher hinter dem Startpunkt zum Stillstand. Danach flogen wir noch mehrfach Kreise, und am 9. November zogen wir vier Kreise über dem Feld. Der Flug dauerte fünf Minuten und einige Sekunden.
   Bei all diesen Flügen waren die Steuerdrähte für die Verwindung der Flügel und des Seitenruders so verbunden wie in der Patentschrift angegeben. Um nach links zu kreisen, bewegten wir die Steuerung leicht nach links; damit bewegte sich das Heck leicht nach links und der rechte Flügel erhielt eine steilere, der linke Flügel eine flachere Verwindung. Dadurch neigte sich die Maschine, so daß der linke Flügel niedriger war als der rechte, was natürlich dazu führte, daß die Maschine sich nach links bewegte. Durch diese Seitenbewegung traf die Luftströmung das Seitenruder in einem größeren Winkel, als eigentlich nötig war, um den Unterschied im Luftwiderstand des rechten und des linken Flügels auszugleichen. Das führte dazu, daß das Heck in der Seitenbewegung langsamer war, genau wie ein gefiederter Pfeil, der mit dem gefiederten Ende zurückbleibt, wenn man ihn seitwärts wirft. So ergab die seitliche Bewegung des Rumpfes durch die veränderte Stellung der Flügel - in Kombination mit der Drehung um die vertikale Achse wegen des wetterfahnenartigen Verhalten des Hecks - einen kreisförmigen Kurs. Aber mit der Geschwindigkeitsvergrößerung des Flügels auf der Außenseite und der Verringerung auf der Innenseite - denn der innere Flügel fliegt einen kleineren Kreis als der Außenflügel - entstand eine Tendenz zu einer zu starken Schräglage, und dies wurde dadurch korrigiert, daß die Steuerung zum oberen Flügel bewegt wurde, um dessen Anstellwinkel zu verändern, und auch das Seitenruder wurde zum hohen Flügel bewegt. Dies geschah ganz langsam, gerade ausreichend, um den unteren Flügel am weiteren Sinken zu hindern, aber nicht so viel, daß er wieder in die Horizontale kam. So flog die Maschine weiter im Kreis mit dem Seitenruder nach rechts versetzt; so daß die Maschine genau in die andere Richtung drehte, die ein Boot nehmen würde, wenn man die Pinne nach rechts nimmt. Wollte man aufhören zu kreisen, brachte eine plötzliche Bewegung der Steuerung nach der oberen Seite eine Änderung der Verwindung und damit die Maschine in die Waagerechte. Nachdem die Steuerung und damit der Flügel und das Seitenruder in zentrale Position zurückgesetzt waren, flog die Maschine geradeaus mit beiden Flügeln auf gleicher Höhe. Mit dieser Maschine machten wir im Jahr 1904 etwa hundert Flüge. Gewöhnlich reagierte die Maschine exakt, wenn wir die Maschine wieder geradeaus fliegen lassen wollten, aber bei ein paar Gelegenheiten reagierte sie nicht schnell genug und die Maschine landete schräg. Die Ursache dieses Problems war völlig unklar und die Versuchssaison 1904 endete, ohne daß das Rätsel gelöst war.
    
1905 bauten wir eine weitere Maschine und nahmen unsere Versuche auf dem gleichen Feld bei Dayton wieder auf. Hauptziel war, das Rätsel zu lösen, das uns bereits im vergangenen Jahr oft beschäftigt hatte.
   Bei allen Flügen bisher waren wir knapp über Grund geflogen, üblicherweise unterhalb von drei Metern, damit wir sicher landen konnten, wenn etwas Neues und Rätselhaftes geschah. Da man sein Leben nur einmal verlieren kann, hielten wir es nicht für angebracht, Unbekanntes in einer solchen Höhe zu erforschen, daß ein Absturz unseren Bemühungen ein Ende gemacht hätte und das Rätsel ungelöst geblieben wäre. Die Maschine war zu schnell gelandet in den sonderbaren Fällen, die ich schon erwähnt habe; daher konnten wir nicht feststellen, ob der Fehler auftrat, weil die Steuerung zu langsam war oder weil sich die äußeren Bedingungen geändert hatten; im letzteren Fall, bei noch stärkerem Einfluß, hätte sich die Maschine überschlagen und wäre damit außer Kontrolle des Piloten gewesen. Infolgedessen war es nötig oder zumindest empfehlenswert, die genaue Ursache dieses Phänomens zu bestimmen, bevor Flüge in größerer Höhe stattfanden.
   Lange Zeit konnten wir die genauen Bedingungen, unter denen mit diesem Problem rechnen mußten, nicht ausmachen. Aber mit der Zeit fiel uns auf, daß es für gewöhnlich dann auftrat, wenn wir einen eher kleinen Kreis flogen. Deshalb flogen wir manchmal kleine Kreise, um das genaue Verhalten der Maschine vom Auftreten des Problems bis zur Landung zu studieren. Einmal dachten wir, es könnte daran liegen, daß die Maschine beim Kreisen nicht genau in die Richtung der Bewegung zeigte. Um das zu prüfen, lösten wir den Steuerdraht des Seitenruders vom Flügeldraht und bewegten das Ruder ganz getrennt. Das Problem blieb jedoch bestehen. Am 28. September 1905 wurde ein Flug durchgeführt, bei dem Ruder- und Flügeldrähte ganz getrennt waren. Als der Pilot bemerkte, daß die Maschine sich schräg stellte und auf einen Baum zuhielt, nahm er die Maschine mit der Nase nach unten und stellte dann fest, daß sie sofort die Balance wiederfand. Die Lösung lag in besserer Handhabung der Maschine und nicht in einer Änderung der Konstruktion. Das Problem rührte daher, daß während des Kreisens die Maschine zusätzlich zu ihrem Eigengewicht Zentrifugalkräfte bewältigen muß, denn der tatsächliche Druck, den die Luft tragen muß, ist die Resultierende dieser beiden Kräfte. Die benutzte Maschine hatte nur ein wenig mehr Motorleistung als für Geradeausflug erforderlich, und da die Belastung durch das Kreisen um so mehr stieg, je kleiner der Kreis war, wurde schließlich eine Grenze erreicht, jenseits derer die Maschine nicht mehr schnell genug war, um sich in der Luft zu halten. Und da am inneren Flügel der Auftrieb wegen der geringeren Geschwindigkeit einen großen Teil des durch einen größeren Anstellwinkels gewonnenen Auftriebs neutralisierte, war die Reaktion auf eine Veränderung der seitlichen Neigung so langsam, daß die Maschine meistens landete, bevor sie wieder horizontal ausgerichtet war.
   Nachdem wir den wahren Grund für dies Problem erkannt hatten und wußten, daß es grundsätzlich dadurch beseitigt werden konnte, daß wir die Maschine nach vorn neigten, damit die Fluggeschwindigkeit wieder stieg, fühlten wir uns bereit, Flugmaschinen auf den Markt zu bringen.

The Papers of Wilbur and Orville Wright
Band 1; New York/Toronto/London 1953
Übersetzung: U. Keller mit fachlicher Unterstützung durch G.-D. Schmidt

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002

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