Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1873 - Isabella Bird
In den Rocky Mountains
Colorado City und Colorado Springs

Der nächste Morgen war grau und unfreundlich; während des Tages wurde es aber heller und wärmer. Nach einem Ritt von zwölf Meilen besorgte ich Brot und Milch für mich und Futter für Birdie in einem großen Haus; dort gab es acht Gäste, von denen jeder mit mehr als einem Fuß im Grab zu stehen schien. Mir wurde empfohlen, die Hauptstraße zu verlassen und einen Umweg durch Monument Park zu machen; es war ein Ritt von zwölf Meilen durch phantastische Felsformationen. Ich verirrte mich aber, und in einer wilden Schlucht hörte der Pfad auf. Ich ritt etwa sechs Meilen zurück, folgte einem anderen Weg und ritt ungefähr acht Meilen, ohne ein Lebewesen zu sehen. Dann kam ich zu einer ungewöhnlichen Schlucht mit wunderbaren aufrecht stehenden Felsen in allen Formen und Farben, und durch ein Felsentor reitend kam ich in ein Tal, das Glen Eyrie sein mußte, ein Tal, wie man es sich wilder und romantischer nicht vorstellen kann. Der Weg ging dann hinunter, unter wilden Bergspitzen, eine kalte und furchteinflößende Szenerie. Nach mehrfachem Durchreiten eines Baches kam ich zu einer heruntergekommen aussehenden Gruppe von Häusern mit dem hochtrabenden Namen Colorado City, und zwei Meilen weiter sah ich vom Rücken der Foot Hills die einfachen, weit verstreuten Häuser des aufstrebenden Bades Colorado Springs, dem Ziel meiner Reise über hundertfünfzig Meilen. Ich saß ab, zog einen langen Rock an, und ritt im Damensitz durch den Ort, der allerdings kaum so aussah, als ob man sich hier den üblichen guten Sitten fügen müßte. Ein merkwürdiger Ort ist hier im Entstehen, auf der offenen Ebene, noch klein, aber er wächst und wird weiter wachsen, und hat einige große und bekannte Hotels. Es gibt einen schönen Ausblick auf die Berge, insbesondere Pike’s Peak; die gefeierten Quellen sind bei Manitou, drei Meilen weit weg, in einer wirklich schönen Umgebung. Für mich kann kein Ort unattraktiver sein als Colorado Springs, denn es gibt weder Baum noch Strauch weit und breit.
   Ich besuchte die Familie ..., die in einem kleinen Zimmer untergebracht war, das zugleich als Empfangszimmer, Schlafzimmer und Küche diente und den Komfort aller drei vereinte. Es war darüber hinaus bewohnt von zwei Präriehunden, einer kleinen Katze und einen Jagdhund. Es war sehr gemütlich. Mrs. ... briet ein erstklassiges Steak und ihr Mann bereitete den Tee zu. Sie verzichten auf den zweifelhaften Nutzen und unzweifelhaften Nachteil eines Dienstmädchens. Mrs ... ging mit mir zu dem Gasthaus, in dem ich wohnte, und wir saßen eine Zeitlang in der Halle und unterhielten uns mit der Wirtin. Mir gegenüber stand eine Tür in ein Zimmer weit offen, und gegenüber dieser Tür stand ein Bett, auf dem ein sehr krank aussehender junger Mann halb saß und halb lag, voll bekleidet, von einem anderen gestützt; und noch einer, der genauso aussah, ging ab und zu hinein und heraus oder lehnte völlig erschöpft am Kamin. Dann wurde die Tür angelehnt und jemand kam und sagte in Eile: »Schnell, eine Kerze!« Und dann hörte man, wie sich jemand im Raum bewegte. Die sieben oder acht Leute, die mit mir im Raum waren, unterhielten sich die ganze Zeit über, lachten, spielten Backgammon und niemand lachte lauter als die Wirtin, die so saß, daß sie die ominöse Tür genauso gut sehen konnte wie ich. Die ganze Zeit, auch während sich in dem Zimmer etwas tat, sah ich zwei große weiße Füße über das Ende des Bettes ragen. Ich starrte und starrte sie an in der Hoffnung, daß sie sich bewegen würden; aber das taten sie nicht; und mir kam es vor, als würden sie immer steifer und weißer, und in mir wurde der schreckliche Verdacht immer stärker, daß ein menschlicher Geist einsam und verzweifelt in die Nacht entschwunden war, während wir hier saßen. Dann kam ein Mann aus dem Zimmer mit einem Bündel Kleider, und dann der kranke junge Mann mit Stöhnen und Schluchzen, und dann ein dritter, der mir bewegt sagte, daß der, der gerade gestorben war, des jungen kranken Mannes einziger Bruder sei. Und die Wirtin lachte immer noch und unterhielt sich und sagte dann zu mir: »Es stellt das Haus auf den Kopf, wenn sie einfach so kommen und sterben; wir werden die halbe Nacht damit beschäftigt sein, ihn herzurichten.« Wegen der bitteren Kälte und der Geräusche, die der schluchzende und stöhnende Bruder machte, konnte ich nicht schlafen. Am nächsten Tag gab sich die Wirtin sehr geschäftig in einem schwarzen Kleid von neuester Mode und war stolz über den schönen Sarg, der erwartet wurde. Auf der Suche nach einer Nadel ging ich in die Halle; die Tür zu dem bewußten Zimmer war offen, Kinder rannten ein und aus, und die Wirtin, die mit Saubermachen beschäftigt war, rief mich vergnügt herein, und da lag zu meinem Horror, noch nicht einmal das Gesicht mit einem Tuch bedeckt und von der Sonne durch ein unverhangenes Fenster beschienen, das grausige Ding, der Leichnam, auf mehreren Stühlen, die noch nicht einmal gerade ausgerichtet waren. Er wurde am Nachmittag begraben, und wenn man den weinenden und schluchzenden Bruder so betrachtete, mußte man meinen, daß dessen Ende auch nicht mehr fern sein konnte.
   Die Familie ... sagte mir, daß viele im letzen Stadium der Schwindsucht zu den Quellen kommen, in der Annahme, daß das Klima von Colorado sie kuriert; aber sie kommen mit zu wenig Geld, um auch nur die einfachste Unterkunft bezahlen zu können. Wir unterhielten uns fast den ganzen Tag.
   Für die Bergtour, die für mich arrangiert war, zog ich dicke Stiefel und warme Handschuhe an; und Birdie bekam ihren freien Sonntag, auf den sie ein Anrecht hatte, am Dienstag; ich hatte nämlich festgestellt, daß ich am Sonntag den Arkansas Divide überquert hatte, ohne es zu wissen. Mehrere Freunde von Miss Kingsley kamen mir einen Besuch abstatten. Sie ist vielen in guter Erinnerung. Es ist keine teure Tour; etwa zehn Schilling pro Tag, und die fünf Tage, die ich von Denver bis hierher gebraucht habe, kosteten weniger als die Fahrkarte für ein paar Stunden mit der Kutsche. Es gibt keine großen Probleme. Es ist ein wunderbar gesundes und vergnügtes Leben. All meine Sachen sind in einem Sack verstaut und mit einem Pferd als Transportmittel kommt man überall hin, wo es etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf gibt.
   
Great Gorge of the Manitou, 29. Oktober
Dies ist eine sehr malerische Stelle mit mehreren stillen und sprudelnden Quellen, deren gute Eigenschaften schon den Indianern wohlbekannt waren. In der Nähe sind Stellen, deren Namen jeder kennt - der Garden of the Gods, Glen Eyrie, Pike’s Peak, Monument Park und Ute Pass. Es gibt zwei oder drei riesige Hotels und ein paar malerisch gelegene Häuser. Im Sommer wird es überflutet von Tausenden von Leuten, die kommen, um das Wasser zu trinken, die Kur mitzumachen und Ausflüge in die Berge zu unternehmen. Aber jetzt ist es sehr ruhig, und es gibt nur wenige, die sich in dem riesigen Hotel aufhalten. Im Tal ist ein reißender Strom und darüber schneebedeckte Berge bis zu einer Höhe von fast 5.000 Meter. Es ist großartig und beklemmend und von fremdartiger und strenger Schönheit wie der Tod. Die Snowy Mountains werden von diesem Strom durchbrochen, der den Ute Pass geschaffen hat und über den ich morgen in größere Höhen zu gelangen hoffe. Aber das wird vielleicht wegen eines winzigen Nagels ins Wasser fallen. Eins von Birdie’s Hufeisen ist lose, und kein Nagel ist zu bekommen auf den zehn Meilen bis zum Pass.
   Birdie amüsiert alle Leute mit ihrer merkwürdigen Art. Sie hält sich immer in meiner Nähe und kam heute bis ins Haus und schubste die Tür zum Empfangszimmer auf. Sie trottet hinter mir her mit dem Kopf auf meiner Schulter, leckt mir das Gesicht und bettelt nach Zucker. Und manchmal, wenn jemand anders sie halten will, bockt sie und schlägt aus, und die wilde Bronchoseele guckt ihr aus den Augen. Ihr Gesicht ist klug und hübsch, und sie gibt lustige und schmeichelnde Töne von sich, wenn ich ihr nahe komme. Alle Leute vom Stall geben sich mit ihr sehr viel Mühe und nennen sie mit Kosenamen. Sie galoppiert bergauf wie bergab, sie kommt auch im schwierigsten Gelände nicht aus dem Tritt, und nie muß ihr mit der Peitsche gedroht werden.
   Das Wetter ist wieder wunderbar - ein wolkenloser Himmel und eine heiße Sonne, und der Schnee auf der Ebene und in den tieferen Tälern ist verschwunden. Nach dem Mittagessen verließen die Familie ... in einem Wagen und ich auf Birdie Colorado Springs und wir überquerten die Mesa, einen Tafelberg mit einer Aussicht auf ganz besonders geschichtete Felsen, Blätter von Felsen in einem leuchtenden Rot vor dem Hintergrund schneebedeckter Berge und überragt von Pike’s Peak. Dann tauchten wir ein in das grottenreiche Glen Eyrie mit seinen phantastischen bunten Felsnadeln, und wurden bewirtet in General Palmers Herrschaftssitz, einem perfekten Adlerhorst mit einer schönen Halle, gefüllt mit Büffel- Elch und Hirschköpfen, Fellen von wilden Tieren, ausgestopften Vögeln, Bärenfellen und zahlreichen indianischen und anderen Waffen und Trophäen. Dann kamen wir durch ein großes rotes Felsentor in das Tal, das den phantasievollen Namen Garden of the Gods bekommen hat, das ich aber, wäre ich ein Gott, sicherlich nicht als Heimstatt wählen würde. Viele Stellen in dieser Gegend sind ebenfalls durch groteske Namen bekannt geworden. Von hier kamen wir in eine Schlucht, durch die der Fountain River rauscht, und hier trennte ich mich mit Bedauern von meinen Freunden und ritt in die kühle und finstere Schlucht, von der aus man die im Sonnenuntergang erglühenden Berge nur weit in der Ferne sieht.
    Ich brachte Birdie in einem Stall unter, und da es für mich keinen anderen Platz als in dem riesengroßen Hotel gab, bekam ich hier meinen letzten Hauch von Luxus. Man zahlt sechs Dollar pro Tag in der Hauptsaison, aber jetzt kostet es nur die Hälfte; und statt vierhundert modebewußten Gästen gibt es jetzt nur fünfzehn, von denen die meisten in der schwachen, schnellen Art der Schwindsüchtigen sprechen und sich die Seele aus dem Leib husten. Es gibt sieben medizinische Quellen. Der viele Luxus in meinem Zimmer kommt mir seltsam vor. Es ist nur die vierte Nacht in Colorado, in der ich auf etwas besserem als Heu oder Stroh schlafe. Ich bin froh, daß es sowenig Gasthäuser gibt. So bekommt man Einblick in Häuser und Lebensgewohnheiten der Siedler.

Bird, Isabella
A Lady's Life in the Rocky Mountains
London 1879
Übersetzung: U. Keller

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!