Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1862 - Charles Alexander Eastman
Jugenderinnerungen eines Sioux
Minnesota und North Dakota

Eine der frühesten Erinnerungen an meine abenteuerreiche Kindheit ist die an einen Ritt an der Flanke eines Ponys. Ich hatte dabei gar nichts zu tun. Ein kleines Mädchen, meine Cousine, hatte man in eine Tasche gesteckt und an den Knopf eines Sattels gehängt. Um das Gleichgewicht herzustellen, weil sonst der Sattel nicht an Ort und Stelle geblieben wäre, wurde ich in einen anderen Sack gesteckt und hielt so Cousine und Sattel in der richtigen Lage. Ich hatte nichts dagegen, denn ich spielte ein lustiges Kuckuckspiel mit dem kleinen Mädchen, bis wir an eine tiefe Schneewehe kamen, in der das arme Tier steckenblieb und sich hinlegen wollte. Da war es nicht mehr so schön!
   Auf diese Weise beförderten manche Mütter ihre Kinder bequem und einfach auf Winterreisen. So kalt es auch sein mochte, dem Insassen eines pelzgefütterten Sackes ging es für gewöhnlich sehr gut - wenigstens fühlte ich mich so. Ich glaube, ich war an alle die unsicheren indianischen Beförderungsmittel gewöhnt, und als Knabe genoß ich auch Hundetravoi-Reisen so sehr wie nur irgendeiner. Ein Travoi bestand aus rohledernen Streifen, die zwischen zwei Zeltstangen gebunden waren. Die Zeltstangen wurden an den Seiten eines Lasttieres befestigt und die unteren Enden schleiften über die Erde. Sowohl Pferde wie auch große Hunde wurden als Lasttiere eingesetzt und transportierten so kleinere Kinder und Gepäck.
   Diese Art des Reisens war für Kinder nur im Sommer möglich, und da die Hunde oft recht unzuverlässig waren, waren die Kleinen häufig in Gefahr. Wenn sie zum Beispiel todmüde von einem langen Marsch in der Hitze Wasser witterten, vergaßen sie ihre Aufgabe völlig. Trotz der Schreie der Frauen warfen sie sich in das kühlende Nass, und so kam ich mehr als einmal zu einem unfreiwilligen Bad.
   Ich war gut vier Jahre alt, als [im Jahr 1862] in Minnesota das Sioux-Massaker stattfand. In dem allgemeinen Aufruhr flüchteten wir nach British-Columbia; diese Reise ist bei unserer ganzen Familie noch in lebhafter Erinnerung. Ein Joch Ochsen und ein offener Wagen wurden einem weißen Farmer abgenommen und für unsere Beförderung heimgebracht.
   Wie freute ich mich, als ich hörte, daß wir hinter den so verständig blickenden Tieren in dem prächtig bemalten Wagen reisen würden! Dieses neue, vierbeinige Fuhrwerk erschien mir fast wie ein lebendiges Wesen, um so mehr, als die Achsenschmiere ausgegangen war und die Räder wie Schweine quietschten!
   Die Jungs vergnügten sich damit, vom Wagen abzuspringen, während die Ochsen geruhsam dahinzogen. Meine älteren Brüder waren bald Experten darin. Schließlich hatte auch ich genug Mut gefaßt, um bei diesem Sport mitzumachen. Ich war sicher, dass sie auf ein Rad traten, uns so setzte ich vorsichtig meinen Fuß im Mokassin auf das Rad. Aber ach! Bevor mir klar war, was vorging, lag ich unter den Rädern. Wäre nicht gerade ein Nachbar hinter uns gewesen, hätte ich leicht vom nächsten Gespann überfahren werden können.
   Das war meine erste Erfahrung mit einem Zivilisationsgefährt! Ich verwünschte des weißen Mannes Gespann auf das heftigste und beschloß, daß für mich ein Hundetravoi besser sei. Daß wir von den Leuten, die solch gefährliche Wagen bauten, immer weiter fortwanderten, beruhigte mich, denn es kam mir nicht in den Sinn, daß ich selbst an dem Unfall schuld war. Ich war nicht dazu zu bringen, wieder auf den Wagen zu steigen, und ich war froh, als wir ihn endlich am Missouri stehenließen.
   Im Sommer nach dem Minnesota-Massaker verfolgte General Sibley unsere Leute über den Fluß. Der Missouri ist einer der tückischsten Flüsse der ganzen Welt. Selbst ein gutes, modernes Boot ist auf seiner unzuverlässigen Strömung nicht sicher. Wir mußten ihn in Büffelhautbooten, rund wie Waschzuber, überqueren.
   Die Washechu, die weißen Männer, kamen in großer Zahl mit ihren großen Gewehren, und während unsere Krieger ihnen kämpfend entgegentraten, um Zeit zu gewinnen, richteten die Frauen und die alten Männer die provisorischen Boote mit Gerüsten aus Weidenruten her. Manche wurden von zwei oder drei Frauen oder Männern, manche von Ponys schwimmend ans andere Ufer gezogen. Es war keine Kleinigkeit, die mit der hilflosen Last kleiner Kinder oder mit unserem Hab und Gut beladenen Boote aufrecht zu halten.
   Bei unserer Flucht wurden wir Kleinen auf den Sätteln festgebunden oder saßen vor einer älteren Person. Wir litten während der langen Nachtmärsche auf der Flucht vor den Soldaten stark an Schlafmangel und zu wenig Essen. Unsere Mahlzeiten wurden in Eile, teilweise im Sattel, eingenommen. Wasser war nicht immer zu finden. Man beförderte es in Beuteln aus Kutteln oder getrockneten Herzbeuteln.
   Wir mußten das Land eines feindlichen Stammes durchqueren und wurden auf dieser Wanderung Tag und Nacht hart bedrängt; nur die äußerste Wachsamkeit rettete uns.
   Eines Tages stießen wir nahe der kanadischen Grenze auf einen anderen Feind: ein Präriefeuer! Wir waren umzingelt. Schnell wurde ein Gegenfeuer gelegt und unser Leben war gerettet.
   Aber eine der schlimmsten Erfahrungen dieses Winters war ein Schneesturm, der uns während unserer Wanderung überfiel. Hier und da ließ sich eine Familie einschneien an einem Platz, wo der Schnee nicht so stark verwehte. Einen Tag und eine Nacht lagen wir unter dem Schnee. Der Onkel steckte einen langen Stab neben uns, der uns zeigen sollte, wann der Sturm aufhören würde. Wir hatten viele Büffeldecken, und der Schnee hielt uns warm, aber er war schwer. Nach einer Weile setzte er sich und es entstanden Hohlräume um unsere Körper, und wir fühlten uns so behaglich, wie das unter solchen Umständen nur möglich ist.
   Am folgenden Tage hörte der Sturm auf, und wir entdeckten eine große Büffelherde beinahe über uns. Schnell schaufelten wir uns einen Weg frei, schossen einige Büffel und erfreuten uns an einer guten Mahlzeit.
   War ich nun auch heimat- und mutterlos, unglücklich fühlte ich mich aber nicht. Unser Wandern von Ort zu Ort brachte uns manche Freude, war aber auch mit vielen Mühseligkeiten und Unglücksfällen verbunden. Es gab Zeiten des Überflusses und des Mangels; manchmal entgingen wir nur mit knapper Not dem Tode. Das Leben der Wilden ist im Vorfrühling am schwersten; fast jede Hungersnot fällt in diese Jahreszeit.
   Die Indianer sind ein geduldiges und eng zusammenhaltendes Volk. Ihre Liebe zueinander ist stärker als die aller zivilisierten Menschen, die ich kenne. Wäre dem nicht so, gäbe es, glaube ich, Kannibalismus. Von Weißem weiß man, dass sie Gefährten getötet und verzehrt haben, um nicht zu verhungern. Indianer täten das nie! Wenn Hungersnot herrschte, verzichteten die Erwachsenen oft, damit die Lebensmittelvorräte so lange wie möglich für die Kinder reichten. Indianer halten bedeutend länger als andere Völker ohne Nahrung aus.
   Ich machte solch schweren Frühling einmal mit durch. Wir hatten tagelang nichts zu essen, und ich erinnere mich sehr gut an die sechs kleinen Vögel, die für sechs Familien als Frühstück reichen mußten, dem weder Mittag- noch Abendessen folgte. Welche Linderung, auch wenn ich nur einen kleinen Flügel bekam! Bald darauf kamen wir in Gegend mit vielen Büffeln, und Hunger und Not waren vergessen.
   So war das wilde Leben der Indianer! Gab es Wild und schien die Sonne, so waren die Bitternisse des vergangenen Winters schnell vergessen. Vorsorge für die Zukunft gab es kaum. Die Indianer sind Kinder der Natur, die sie gelegentlich straft. Trotzdem bleiben sie vergeßlich und sorgenfrei. Wie viele ihrer Leiden könnten sie durch Vorsorge verhindern!
   Während des Sommers, wenn die Natur es gut meint und dem Wilden alles reichlich bietet, ist niemandes Leben glücklicher als das seine! Nahrung frei - Wohnung frei - alles frei! Alle gleich reich im Sommer - alle gleich arm im Winter und Vorfrühling! Es gab insgesamt weniger und auch weniger schwere Krankheiten, und die Gesundheit der Indianer war im allgemeinen gut. Ein Indianerjunge hatte ein Leben, wie es sich fast alle Jungen erträumen und aussuchten, wenn man sie ließe.
   Häufig wurde unser Volk von anderen Stämmen überfallen; so mußten wir beständig auf der Hut sein. Ich entsinne mich, daß einmal ein nächtlicher Angriff auf unser Lager stattfand. Alle unsere Ponys flohen; nur wenige wurden wieder eingefangen, so daß fortan unsere Wanderungen mit den Hundetravois ausgeführt wurden.
   Man muß sich wundern, daß überhaupt Kinder unter all den Mühseligkeiten und Leiden jener Tage aufwachsen konnten. Das gebrechliche Tipi, das Zelt, war unser einziger Schutz im Winter wie im Sommer, gegen Kälte und Sturm.
   Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen wir ganz eingeschneit waren und nur mit Mühe Brennmaterial fanden. Einmal waren wir drei Tage während eines heftigen Schneesturms fast ohne Feuer. Man fand solche Naturereignisse ganz natürlich und ängstigte sich nicht darüber, wußte man doch, daß der Sturm zu seiner Zeit wieder aufhören würde.
   Früher konnte ich Kälte und Hunger so gut wie irgendeiner ertragen; jetzt ist mir schon das Fehlen einer Mahlzeit unangenehm; vor nassen Füßen hüte ich mich jetzt, als hätte ich nie die wilde Jugendzeit durchlebt, in der ich doch, ohne mich zu erkälten, immer wieder triefend naß war. Selbst bei Nahrungsüberfluß mußten wir zeitweilig fasten und anstrengende, schwere Übungen ausführen, um den Körper zu stählen und für kommende Anstrengungen vorzubereiten. Mein Onkel trug einen Hirsch oft weit auf den Schultern heim, ohne das etwa als besondere Leistung anzusehen.
   Wir waren gewohnt nur zweimal am Tage, morgens und abends, zu essen. Diese Regel war nicht unumstößlich. Kam Besuch, so bot man entsprechend der Indianeretikette Tabak oder Essen oder auch beides an. Die Regel, nur zwei Mahlzeiten am Tage zu halten, wurde von den Männern, besonders den jüngeren, strenger als von Frauen und Kindern befolgt. Damals wußten die Indianer, daß echte Männlichkeit, Körperkraft und Ausdauer von Mäßigkeit im Essen und Trinken und regelmäßigen Übungen abhängig ist. Die heutigen Indianer in den Reservationen befolgen nichts dergleichen.

Eastman, Charles Alexander
Indian Boyhood
Nachdruck New York 1971
Übersetzung: U. Keller

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!