Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1853 - Salomon Northup
Zurück in die Freiheit
Cheneyville, Louisiana

»Wo ist der Mann, der Platt genannt wird?« fragte der Sheriff. »Da isser, Master« sagte Bob, zeigte auf mich und nahm dabei seinen Hut ab.
   Ich fragte mich, was der Sheriff wohl mit mir vorhaben könnte, drehte mich um und sah ihn an, bis er auf einen Schritt herangekommen war. Während meines langen Aufenthaltes am Bayou hatte ich jeden Plantagenbesitzer in großem Unkreis vom Ansehen kennengelernt, aber dieser Mann war mir vollkommen fremd - ich war sicher, daß ich ihn noch nie gesehen hatte.
   »Du heißt Platt?« fragte er.
   »Ja, Master«, antwortete ich.
   Dann zeigte er auf Northup, der ein paar Schritt entfernt stand, und fragte: »Kennst Du diesen Mann?«
   Ich blickte in die angegebene Richtung, und als ich ihn ansah, schoß mir eine ganz Welt von Bildern durch den Kopf - viele altbekannte Gesichter, das von Anne und den lieben Kindern, und das von meinem alten, toten Vater - alle Erinnerungen and Kindheit und Jugend - all die Freunde aus anderen und glücklicheren Tagen erschienen und verschwanden in meiner Vorstellung wie schwebende, verfließende Schatten; schließlich kam mir die vollständige Erinnerung an diesen Mann, ich warf meine Arme gen Himmel und rief mit lauter Stimme, lauter, als in weniger aufregenden Momenten:
   »Henry B. Northup! Gott sei Dank! Gott sei Dank!«
   Blitzartig verstand ich, was ihn hergeführt hatte, und daß die Stunde meiner Befreiung bevorstand. Ich wollte zu ihm, aber der Sheriff stellte sich vor mich hin. »Einen Augenblick«, sagte er. »Hast Du noch einen anderen Namen als Platt?«
   »Ich heiße Solomon Northup, Master«, antworte ich.
   »Hast Du eine Familie?« fragte er weiter.
   »Ich hatte einmal eine Frau und drei Kinder.«
   »Wie hießen Deine Kinder?«
   »Eliza, Margaret und Alonzo. «
   »Und der Mädchenname Deiner Frau?«
   »Anne Hampton.«
   »Wer hat Euch getraut? «
   »Timothy Eddy in Fort Edward. «
   »Wo lebt dieser Herr?« Dabei zeigte er auf Northup, der noch an der gleichen Stelle stand.
   »Er lebt in Sandy Hill, Washington County, New York«, war meine Antwort.
   Er wollte noch weitere Fragen stellen, aber ich drückte mich an ihm vorbei, denn ich konnte nicht länger an mich halten. Ich ergriff beide Hände meines alten Bekannten; ich konnte nicht sprechen. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.
   »Sol«, sagte er schließlich, »wie gut, Dich zu sehen.«
   Ich versuchte zu antworten, aber die Gefühle überwältigten mich, und ich blieb still. Die Sklaven waren ganz durcheinander und starrten uns voller Staunen mit offenem Mund und rollenden Augen an. Zehn Jahre war ich bei ihnen gewesen, auf dem Feld und in der Hütte, war den gleichen Härten ausgesetzt, hatte das gleiche Essen gegessen, war mit ihnen traurig gewesen und hatte mit ihnen die wenigen Freuden geteilt. Trotzdem hatte keiner von ihnen bis zu dieser Stunde, der letzten, in der ich unter ihnen weilte, auch nur die leiseste Ahnung gehabt von meinem richtigen Namen oder meiner wahren Herkunft.
   Einige Minuten fiel kein Wort; während dieser Zeit hielt ich Northup umschlungen und sah hoch in sein Gesicht, voller Angst, daß ich erwachen würde und alles nur ein Traum gewesen wäre.
   »Laß den Sack fallen«, sagte Northup schließlich. »Deine Tage auf den Baumwollfeldern sind vorbei. Komm mit uns zu dem Mann, bei dem Du lebst.«
   Ich folgte ihm und lief zwischen ihm und dem Sheriff zum Herrenhaus. Wir waren schon ein Stück weit gegangen, bevor ich meine Stimme genügend in der Gewalt hatte, um zu fragen, ob meine Familie noch lebte. Er erzählte mir, daß er Anne, Margaret und Elizabeth noch vor kurzem gesehen hätte; Alonzo lebe auch, und es ginge allen gut. Nur meine Mutter würde ich nie mehr sehen. Als ich nun begann, mich ein bißchen von dieser plötzlichen und großen Aufregung zu erholen, die mich einfach überwältigt hatte, wurde mir schwarz vor den Augen und ich konnte kaum noch laufen. Der Sheriff nahm meinen Arm und half mir, sonst wäre ich hingefallen. Als wir in den Hof kamen, stand Epps am Tor und unterhielt sich mit dem Kutscher. Dieser junge Mann hatte seine Anweisungen befolgt und sich außerstande gesehen, ihm auch nur die kleinste Auskunft darüber zu geben, was eigentlich vorging. Als wir bei Epps ankamen, war er fast so erstaunt und verwirrt wie Bob oder Onkel Abram.
   Er begrüßte den Sheriff mit Handschlag und wurde mit Mr. Northup bekannt gemacht; er lud sie ins Haus ein und befahl mir dabei, Holz zu holen. Es dauerte eine Zeit, bis ich einen Arm voll zurechtgemacht hatte, denn ich hatte irgendwie die Kraft verloren, mit der Axt richtig zuzuschlagen. Als ich schließlich mit dem Holz hereinkam, war der Tisch mit Papieren übersät; aus einem las Northup vor. Ich brauchte sicherlich länger als nötig, um das Holz auf das Feuer zu legen, und packte jedes Scheit einzeln an seine Stelle. Ich hörte die Worte »der genannte Salomon Northup« und »der Zeuge gibt weiter an« und »freier Bürger von New York«, die mehrfach wiederholt wurden; und aus diesen Begriffen schloß ich, daß das Geheimnis, das ich Master und Mistress Epps so lange vorenthalten hatte, sich nun enthüllte.
   Ich zögerte, so lange es nur ging, und war dabei, den Raum zu verlassen, als Epps mich fragte: »Platt, kennst Du diesen Herrn?«
   »Ja, Master« antwortete ich, »ich kenne ihn, so lange ich denken kann«.
   »Wo wohnt er?«
   »In New York.«
   »Hast Du dort jemals gelebt? «
   »Ja, Master, ich bin dort geboren und aufgewachsen.«
   »Dann warst Du frei. Also, du verdammter Nigger, warum hast Du mir das denn nicht gesagt, als ich Dich gekauft habe?«
   »Master Epps«, antwortete ich, nun in einem etwas anderen Ton als ich bis dahin gewöhnt war, »Master Epps, Sie haben sich nicht die Mühe genommen, mich zu fragen; außerdem habe ich einem meiner Herren, nämlich dem, der mich entführt hat, erzählt, daß ich ein freier Mann bin, und der hat mich dafür fast zu Tode gepeitscht.«
   »Jemand hat offensichtlich einen Brief für Dich geschrieben. Wer war das?« fragte er streng. Ich gab keine Antwort.
   »Ich will wissen: Wer hat diesen Brief geschrieben?« fragte er wieder.
   »Vielleicht habe ich ihn selbst geschrieben«, sagte ich.
   »Du bist nicht in einer Nacht zum Postamt nach Marksville und zurück, das weiß ich.«
   Er wollte unbedingt, daß ich es ihm sagte. Er stieß heftige Drohungen gegen diesen Mann aus, wer auch immer es sei, und schwor blutige und wilde Rache, wenn er es herausgefunden hätte. Seine ganze Art und Redeweise zeigte seinen Ärger gegen den Unbekannten, der für mich geschrieben hatte, und Gereiztheit über den Verlust von so teurem Besitz. Gegenüber Mr. Northup schwor er, wenn er vor dessen Ankunft nur eine Stunde Zeit gehabt hätte, hätte er ihm schon die Mühe erspart, mich nach New York zurückzubringen. Er hätte mich in den Sumpf gebracht oder an eine andere abgelegene Stelle, wo mich kein Sheriff der Welt gefunden hätte.
   Ich ging hinaus auf den Hof und war gerade an der Küchentür, als etwas mich am Rücken traf. Tante Phoebe, die mit einem großen Topf Kartoffeln an der Hintertür des Herrenhauses erschien, hatte eine Kartoffel mit unnötig viel Schwung nach mir geworfen; das bedeutete, daß sie mit mir kurz allein sprechen wollte. Sie kam zu mir und flüsterte mit großer Ernsthaftigkeit in mein Ohr:
   »Gott Allmächtiger, Platt! Was denkste? Zwei Männer hinter Dir her. Hörte sie dem Master sagen, daß Du frei bist - hast Frau und Kinder da, wo Du herkommst. Gehste mit? Sei nich blöd - ich würde gehen.« Und so redete sie schnell weiter und weiter.
   Dann erschien Mistress Epps in der Küche. Sie redete lang mit mir und wunderte sich, warum ich ihr nicht gesagt hatte, wer ich war. Sie drückte ihr Bedauern aus und machte mir Komplimente, indem sie sagte, sie würde lieber einen von den anderen Sklaven verlieren als mich. Nun gab es keinen, der Stühle oder sonst ein Möbelstück herrichten konnte, keinen, der im Haus zu irgendwas nütze war, keiner würde für sie Geige spielen - Mistress Epps war tatsächlich zu Tränen gerührt.
   Epps hatte Bob nach seinem Reitpferd geschickt. Die anderen Sklaven hatten die Angst vor Strafe überwunden und hatten ihre Arbeit liegen lassen und waren in den Hof gekommen. Sie standen hinter den Hütten, wo Master Epps sie nicht sehen konnte.  
   Sie wollten, daß ich zu ihnen kam, und fragten mich und redeten mit mir, aufs höchste aufgeregt und neugierig. Wenn ich ihre genauen Worte im gleichen Tonfall wiederholen könnte, wenn ich ihr Gebaren und ihre Haltung bildlich darstellen könnte, so gäbe das wirklich ein interessantes Bild. In ihrer Wertschätzung war ich plötzlich zu unermeßlichen Höhen aufgestiegen und ein Wesen von immenser Bedeutung geworden.
   Die Dokumente waren erledigt und es war mit Epps verabredet, daß er am nächsten Tag nach Marksville kommen würde. Northup und der Sheriff bestiegen die Kutsche, um dorthin zu fahren. Als ich gerade zum Kutscher auf den Bock steigen wollte, sagte mit der Sheriff, ich solle mich doch von Mr. und Mrs. Epps verabschieden. Also lief ich zurück zu dem Platz wo sie standen, nahm meinen Hut ab und sagte:
   »Good bye, Missis.«
   »Good bye, Platt«, sagte Mrs. Epps freundlich.
   »Good bye, Master.«
   »Ah! Du verdammter Nigger« murmelte Epps säuerlich und bösartig. »Freu Dich nur nicht zu früh - noch bist Du nicht weg. Morgen in Marksville werde ich was unternehmen!«
   Ich war nur ein Nigger und kannte meine Stellung, aber ich fühlte, wie ein Weißer auch fühlen würde: daß es mir Genugtuung bereitet hätte, wenn ich ihm zum Abschied einen Tritt hätte geben können. Auf dem Weg zurück zur Kutsche kam Patsey hinter mir hergerannt und schlang ihre Arme um meinen Hals.
   »Oh Platt« rief sie, und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter, »Du bist bald frei - und gehst weit weg und wir werden Dich nie wieder sehen. Du hast mir viele Prügel erspart, Platt. Es freut mich, daß Du freigelassen wirst - aber was wird aus mir?«
   Ich machte mich von ihr los und stieg auf die Kutsche. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und wir fuhren davon. Ich blickte zurück und sah Patsey, den Kopf gesenkt, halb zurückgelehnt auf der Erde sitzend; Mrs. Epps stand auf dem Platz; Onkel Abram, Bob und Wiley und Tante Phoebe standen am Tor und sahen mir nach. Ich winkte ihnen zu, und als die Kutsche um eine Ecke bog, verschwanden sie für immer aus meinen Augen.
   Wir hielten kurz bei Carey's Zuckerfabrik, wo viele Sklaven an der Arbeit waren. Solch eine Einrichtung war für einen Mann aus dem Norden etwas Neues. Epps überholte uns zu Pferd in vollem Galopp. Am nächsten Tag erfuhren wir, daß er nach Pine Woods zu Mr. Ford unterwegs war, dem Mann, der mich hierher gebracht hatte.
   Am Dienstag, den vierten Januar, trafen sich Epps und sein Berater, der Ehrenwerte H. Tyler, Northup, Waddill, der Richter und Sheriff von Avoyelles, und ich in einem Raum in Marksville. Mr. Northup erläuterte die mich betreffenden Tatsachen und wies seinen Auftrag und die dazugehörigen Dokumente vor. Der Sheriff beschrieb die Szene im Baumwollfeld. Ich wurde auch des längeren befragt. Schließlich versicherte H. Taylor seinem Klienten, daß die Sachlage klar sei und jede gerichtliche Auseinandersetzung nicht nur teuer, sondern auch völlig nutzlos wäre. Seiner Empfehlung folgend wurde ein Papier aufgesetzt und von allen Beteiligten unterzeichnet, worin Epps mein Recht auf Freiheit bestätigte und mich in aller Form den Behörden von New York unterstellte. Es wurde auch festgelegt, daß ein entsprechender Eintrag beim Archiv in Avoyelles vorzunehmen sei.
   Mr. Northup und ich begaben uns sofort und in Eile zur Landestelle; auf dem ersten Dampfer, der ankam, buchten wir Plätze und fuhren bald den Red River hinunter, auf dem ich vor zwölf Jahren mit sehr verzagten Gefühlen schon einmal gefahren war.
   
Northup, Solomon
Twelve Years a Slave
Auburn 1853
Übersetzung: U. Keller

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002

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