Um 1908 - Fritz Kummer
The Iron City - Pittsburg
Der Zug schlängelte in ein Gehege von verräucherten Backsteinkisten hinein. Pittsburg! schreit der Schaffner. Dieses Schuppengestrüpp war demnach der Bahnhof. Noch halb schlaftrunken tappte ich hinaus auf die Straße. Eine eigenartige, ganz ungewohnte Lufthülle umfing mich. Die Sonne mochte schon vor 2 oder 3 Stunden aufgegangen sein, aber hier wollte es nicht Tag werden. Hart über den Häusern lag ein dichter, bleischwerer Nebel. Es war, als ob der Himmel auf der Stadt läge. Ich hatte das Gefühl, ein Erdbeben oder ein Hagelsturm oder sonst ein Naturunheil müsse jeden Augenblick losbrechen. Es roch stark nach Rauch und Schwefel. Die Dämmerung verhinderte die Weitsicht. Umschau zu halten, einfach unmöglich. Links war Wasser, hinter mir der Bahnhof, vor mir eine schräg abfallende, mit Steinhaufen und Karren besäte Fläche, rechts öffneten sich einige Gassen. In welcher Richtung sollte ich nun Wohnung suchen? Bange Frage. Jedoch: Wenn die Not am größten, ist usw.
Ein Polizist schlenderte auf dem holperigen Pflaster einher. Er fuchtelte mit dem Gummiknüppel gedankenlos in der Luft herum. Seine Speiseschrote bewegte sich hastig. Einmal wurde die linke Backe, einmal die rechte einen Zoll dicker. Er hatte wohl das Kauen von Tabak in Stücklohn übernommen. Das Erzeugnis seiner Kinnladenarbeit, eine braune Brühe, gab er durch eine Zahnlücke hindurch unentgeltlich an die amerikanische Öffentlichkeit ab. Diese Freigebigkeit flößte mir Vertrauen ein. Ich wandte mich an ihn um Rat. Er war sehr freundlich: Da unten an der Bahnseite solle ich nicht mieten, dort wohnten nichts als 'Nigger', 'Dagos' und 'Huns' (Neger, Italiener und Slawen). Ob das schlechte Kerle seien? Das möchte er nun nicht gerade sagen, aber sie seien verdammt schmutzig; ein Gentleman zöge weiter hinauf in die neueren Viertel. Er bezeichnete auf meinem Stadtplan einige Straßen, wo gut und billig zu wohnen sei.
Pittsburg liegt auf einer Landspitze zwischen den beiden Flüssen Monongahela und Allegheny, die sich hier zum Ohio vereinigen. Die Landzunge steigt nach ihrer Wurzel hin rasch zu einer Hochebene an. Die Stadt, die um das Jahr 1765 begonnen wurde und anfänglich nur ein kriegerischer Stützpunkt gegen die Engländer war, entwickelte sich dank der günstigen Wasserstraßen rasch zu einem blühenden Handelsplatz. Ihre heutige Größe aber verdankt sie den riesigen Naturschätzen ihrer Umgebung. Sie steht im Mittelpunkt des größten Industriegebietes der Welt; sie ist 'The Iron City', die Eisenstadt, einzig in ihrer Art und Überlegenheit.
An den Flanken der Eisenstadt stehen die weltbekannten Werke des Stahltrusts; die Ufer der zwei Flüsse sind eingesäumt von Fabriken, Eisenhütten, Bergwerken, Glashütten und Kokereien. Darin werden die Rohstoffe verarbeitet, die ihnen die Flüsse aus den Tälern und von den Höhen der nächsten und weiteren Umgegend zuschiffen. Sie verschlucken jahraus jahrein Millionen Tonnen Kohle und Erz und speien Millionen Tonnen Stahl oder Eisenwaren aus.
Die Stadt wird auch 'Smoky City', rauchige Stadt, genannt. Die Richtigkeit dieses Namens merkt man schon in meilenweiter Entfernung im Eisenbahnwagen. Die Aussprache des Stadtnamens allein treibt einem den geschluckten Ruß im Halse empor. Tag und Nacht liegt über der Gegend eine dicke Rauchwolke, die den Ausblick vollständig verhindert. Bädeker rät in seinem teuren Buch über Nordamerika, man solle die umliegenden Höhen besteigen, um die Stadt und die industriellen Anlagen überblicken zu können. Wenn dem Ratgeber dies möglich gewesen ist, muß er besonderes Glück gehabt haben. Denn dort befindet man sich wie vor Sonnenaufgang über einem Nebelmeer in den schweizerischen Alpen, nur mit viel geringerer Augenweide. Der Qualm ist eben undurchdringbar.
Abgesehen von Washington, starrten alle bis dahin gesehenen amerikanischen Städte in Dreck und Staub. In Pittsburg steht es mit der Reinlichkeit nun zwar nicht ganz so schlimm wie in Neujork, dafür ist es in seiner Bebauung noch mehr das Urbild einer amerikanischen Stadt, bei deren Anblick sich allenthalben die Jagd nach dem Dollar offenbart. Neben neuzeitlichen Geschäftshäusern und überneuzeitlichen Wolkenkratzern elende, zerfallene, halb oder ganz verlassene Bretterbuden. Alles mit einer dicken Schicht Rauchfarbe überzogen. Natürlich gibt es auch in dieser Stadt einen Rauchüberwacher, das ist ein Beamter, der auf Beseitigung der schwersten Mißstände zu dringen hat. Aber einen Beamten, der gegen eine Millionengesellschaft, wie es der Stahltrust ist, wegen Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften über die öffentliche Gesundheit vorgehen würde, gibt es in dem freien Lande nicht. So etwas wäre unamerikanisch.
Die Berechtigung der Bezeichnung 'Iron City' beweist Pittsburgs Eisenerzeugung. In Pennsylvanien, das heißt in der Hauptsache in dem kleinen Kreis um Pittsburg, wurden 1911 91/2 Millionen Tonnen Roheisen und fast ebensoviel Walzeisen und Stahl erzeugt, ohne das Kleineisen. Das ist von der gesamten Eisenerzeugung Amerikas die Hälfte, von der Deutschlands über zwei Drittel. Dazu kommt die Kohlenförderung. Südöstlich von der Stadt liegen 200 Geviertmeilen Kohlenlager mit Flözen von 7 bis 9 Fuß Dicke. Sie sind dem Abbau so günstig, daß die Tonne Kohle für 3,40 Mk. geliefert wurde. Östlich von der 'Smoky City' liegen die Gaskohlenfelder mit Adern von 5 bis 6 Fuß Mächtigkeit. Im Jahre 1911 lieferte Pennsylvanien 90 1/2 Millionen Tonnen Kokskohle und 144 Millionen Tonnen Gaskohle. Das ist die Hälfte der Kohlenförderung Amerikas.
Nicht ganz so wichtig wie Eisen und Kohlen, aber immerhin wichtig genug für die Industrie, sind die andern Naturgaben, das Erdöl und das Naturgas. Die Ölfelder liegen nördlich von Pittsburg. 1911 wurden 20 Millionen Hektoliter gewonnen, die einen Wert von 235 Millionen Mark darstellen.
Der Mittelpunkt der Gasfelder ist Murraysville, im Nordosten der Eisenstadt. Das Naturgas zeigte sich schon vor vielen Jahrzehnten durch Luftsäulen an, die durch die Gewässer emporstiegen. Seine Bedeutung konnte erst später erfaßt werden. Im Jahre 1870 wurde bei dem genannten Dorfe bis auf 900 Fuß nach Öl gebohrt, jedoch ohne Erfolg; sieben Jahre später wurde das Glück von neuem versucht. Als der Bohrer eine Tiefe von 1.320 Fuß erreicht hatte, schleuderte ein gewaltiger Sprengschlag Bohrer und Turm in die Höhe: das im Mutterschoß der Erde gefangene Gas hatte einen Ausweg gefunden. Fünf lange Jahre sauste das Gas in die Luft, ehe sich Kapitalisten sicher genug fühlten, daß die 200.000 Dollar für die Rohrleitung nicht verlustbringend sein könnten. Jetzt liegen der Leitungen gar viele in der Erde, teilweise im Bett der Flüsse.
Das Naturgas brennt ziemlich geruchlos. Es findet in der Industrie mannigfaltige Verwendung; in den Wohnungen wird es für Beleuchtung und Heizung nachgerade überall gebraucht. Hier ist ein Kohlenort, vor dessen Haustüren selten Kohlenwagen zu sehen sind.
Das verrußte Stückchen Erde, das sich pennsylvanisches Industriegebiet nennt, ist die Wiegenstadt einer großen Zahl Dollarmillionäre. Dort haben die Rockefellers, die Carnegies, die Baers, die Fricks ihre Riesenvermögen 'gemacht'. Die Aneignung der Naturschätze ermöglichten ihnen willige, bestechliche Gesetzgeber, und ergebene Richter halfen den Raub sichern. Dann sandte und sendet Europa starke Scharen arbeitswilliger Menschen, die dankbar sind, wenn sie an der Vergrößerung des Vermögens der Industriekönige teilnehmen dürfen.
Das Pittsburger Industrieviertel ist für den Ethnologen wie auch für den Sprachforscher ein vortreffliches Gebiet. Hier können über zwei Dutzend Sprachen sowie die Lebensgewohnheiten von noch mehr Völkern oder Stämmen studiert werden.
In diesem neuen Babel nimmt man mit Verwunderung wahr, wie groß die Zahl der Menschenstämme ist, die Mutter Erde trägt, und wie viel davon dem Schoße der alten Dame Europa entsprossen. Unter den 533.000 Einwohnern Pittsburgs sind 140.000 Ausländer, die aus 21 fremden Ländern stammen. Die in der Umgebung liegenden Eisen- und Kohlenstädte bergen noch höhere Teile Ausländer.
PennsyIvaniens Eisenindustrie beschäftigt 54.483 in Amerika und 53.679 im Ausland geborene Arbeiter; unter seiner Bergarbeiterschaft sind 198.510 Eingewanderte, denen 103.919 Amerikaner gegenüberstehen.
Wie die Zugvögel der Luft, so besetzen auch die Zugvögel der Erde, die Auswanderer, gewisse Länderstriche. Beim Durchwandern der Werke oder Orte, die sich an den Ufern des Monongahela und des Allegheny hinziehen, hört man streckenweise nicht viel anderes als die Mundarten des europäischen Orients. In den großen Pittsburger Röhrenwerken trifft man viel Esten und Letten, flußaufwärts, in Braddock, starke Haufen Wallachen, Griechen und Polen. In Hornsteads Umgebung ballen sich die Ungarn und ihre engeren 'Schwagerlandsleute' zusammen. Diese Ungarn haben wenig gemein mit jenen proletarischen Magyaren, die man in Neujork in den Spielbuden der zweiten Avenue findet, die, wie die Vögel, nicht säen, aber doch ernten, ohne zu arbeiten anscheinend ein behagliches Leben führen. Die Ungarn in den Stahlwerken sind rechte Proletarier, die daheim auf einer abgelegenen Pußta von Kindesbeinen an schwer geschuftet, klaglos gehungert haben und auch im Goldland Amerika ihr Brot mit schwerem Schweiße bezahlen müssen.
Einen leisen Schreck flößen einem der Nationalitätenreichtum und die Sprachverschiedenheit der Doppelmonarchie doch erst ein, wenn sie im engen Raume einer Werkstatt beisammen sind. Stehen da fünf Mann bei einem Job (Arbeit) vereint. Jeder schwört mit heiliger Gebärde, ein Austrian (Österreicher) zu sein, aber keiner kann sich dem andern mit einem Wort verständlich machen. Leider sind sie nicht so glücklich wie die Jünger Jesu am Pfingstfest, von denen es heißt, sie redeten in vielerlei Zungen sind verstanden sich dennoch. Wenn da der Vormann, ein Amerikaner, einen Befehl in englisch gibt, und ihm jeder der fünf nach eigener Auffassung und übergroßer Willigkeit schnell nachzukommen versucht, gibt es für den Zuschauer oft urkomische Auftritte, die aber den Vormann schier aus dem Häuschen bringen. Schließlich will aber weder der eine mit Menschen rechten, die so begriffsstutzig sind, noch die andern mit ihm, der nicht einmal ein wenig polnisch, kroatisch, slowakisch, böhmisch und so dergleichen versteht. Nach einiger Zeit ertragen beide Parteien, da ihnen nichts anderes übrig bleibt, mit Geduld ihr Schicksal; jede sucht die schöne Gelegenheit zum Ärgern wenig oder gar nicht zu benutzen.
Sie finden sich bald in stummer Einigkeit an ihrem Job zusammen und versuchen und erreichen in der Gebärdensprache ihr Heil.
Oft sieht man auch Verständigungsweisen, die nicht gerade erbaulich sind. Man glaubt, es würde eher mit einer Hammelherde umgegangen, statt mit Menschen. Der sprachfremde Proletarier weiß nur zu gut, daß ihm der Ausdruck seiner bitteren Gefühle bloß Schaden bringt. Er schweigt. Wenn er nur eine Arbeit bekommt, wo er längere Zeit Beschäftigung hat, dann schanzt er mit Bienenfleiß; durch nichts läßt er sich stören. Er sucht die Nachteile, die er durch die Unkenntnis der Sprache zu haben glaubt, wieder wettzumachen durch Fleiß und Willigkeit.
Bei der Arbeit stehen die amerikanischen und die fremden Arbeiter, obwohl durch Sprache und Gefühle getrennt, immerhin noch Schulter an Schulter. Auch das hört auf mit dem Austritt aus der Werkstatt. Die einen fleuchen hinaus, fort von Rauch und Getöse, die andern bleiben in der Werknähe kleben. Beide glauben durch die Wahl ihrer Wohnplätze Vorteile zu haben.
Viele der amerikanischen Fabrikarbeiter sind Hausbesitzer. Sie lassen so etwas im Gespräch nicht unerwähnt. Schade, daß die Süßigkeit des 'Home, sweet Home' gehörig versalzen wird durch die darauf lastende Schuld. Das süße Heim in Zigarrenkistengröße hat irgendein Bautiger in der Klaue. Die Anzahlungssumme hat der Arbeiter mit Ach und Krach zusammengespart, vielleicht noch rechts und links dazu geborgt. Die Geringfügigkeit der Barschaft hieß ihn ein stundenweit vom Mittelpunkt liegendes Haus wählen. Er muß nun allerdings jeden Tag 10 bis 20 Cent für Straßenbahn opfern. Was aber macht das? Ist er doch nun in die Klasse der Hausbesitzer getreten. Zwar hat er noch keinen Wolkenkratzer wie Frick oder Carnegie, jedoch haben diese nicht auch klein begonnen? Haben die tausend Millionäre Pittsburgs nicht auch die Stadt zuerst mit Proletarieraugen gesehen?
Neben der Steigerung der Zahl der Hausbesitzer kann der Arbeiter den Herzenswunsch seiner Braut nach eigenem Heim erfüllen. Die Nichterfüllung würde unter Umständen ein für das Girl (Mädchen) unübersteigbares Hindernis vor die Tür des Standesamtes wälzen. Der Einhaltung der Abzahlungsbestimmungen gelten nun seine Mühen. Sie sind sehr vorteilhaft, besonders für den Bautiger. Die Möglichkeit, einmal in den Besitz eines schuldenfreien Hauses zu kommen, liegt in Vogelschau vor ihm. Sie allein schon bildet einen starken Ansporn zum Sparen und zum Hetzen bei der Arbeit; sie gibt seinen Gedanken und Reden einen unproletarischen, man möchte fast sagen, einen kapitalistischen Stich. Er beginnt sich als Besitzender zu fühlen. Mit stolzer Miene sieht er auf die Habenichtse von Fremden herab.
Die eingewanderten Arbeiter bleiben in der schmutzigen Umgebung der Fabriken. Den Fabrikqualm schlucken sie mit gleichmütiger Ruhe. Sie wohnen bei einem verheirateten Landsmann, der eine größere Wohnung oder ein ganzes Haus gemietet hat. Dessen Frau kocht, wäscht, sorgt für alle. Die Nähe der Fabrik verbürgt dem einen Mieter, dem andern erspart sie Ausgaben für die Straßenbahn. Der ledige Mann könnte abseits vielleicht besser leben. Aber für diese Verbesserung verliert er Sprachgenossenschaft, Ordnung, Mitgefühl, Spielkarten und die Ziehharmonika, womit er die Blödigkeit des 'blauen' Sonntags überwindet.
Die Yankees können nicht genug die Nase rümpfen über die schmutzig-düsteren Wohnungen und das Herdenleben der 'Huns' (Ungarn, Slawen). Beides wird aber durch Verhältnisse bedingt, die zu ändern die Fremden machtlos sind. An Reinigungsarbeit lassen es ihre Hausfrauen wahrhaftig nicht fehlen. Sie können darin ihren amerikanischen Schwestern allesamt als Muster dienen. Aber ihr steter Kampf mit Besen und Seife erweist sich als machtlos gegen den mit Naturkraft verbreiteten Fabrikschmutz. Allgemein gesprochen, sind die Behausungen der fremden Proletarier des pennsylvanischen Industriegebietes besser als ihr Ruf. Ich habe in Belgien, Österreich und Deutschland in schlechteren gewohnt. Die Eingewanderten finden in ihren düsteren Behausungen immer noch mehr Gemütlichkeit als die amerikanischen Arbeiter, die Hausbesitzer, in ihrem aufgeschniegelten Home. In diesem herrscht eine Steifigkeit, ein Mangel an gemütlicher Ruhe, die nur von dem Spleen der Arbeiter-Ladies übertroffen werden.
Nach einer ständigen Hetze von neun Stunden in der von Rauch geschwängerten Fabrik findet der amerikanische Arbeiter daheim nicht die beruhigende, stille Häuslichkeit, der er so dringend bedarf. Die Hausfrau zeigt keinen Eifer, diesen Mangel zu beseitigen. Wenn ich den Frauen meiner Kollegen erzählte, daß in Europa die Frauen vielfach mit auf Verdienst ausgingen, um des Mannes Bürde zu erleichtern, daß sie ihm sogar die Schuhe wichsten, waren sie zuweilen sprachlos. So was fehlte ihnen noch: Sie seien freie Amerikanerinnen, keine Sklavinnen.
Diese letzten Worte hörte ich so manches Mal von den Damen eines Glasarbeiters. Dieses ausgehöhlte Männchen fleuchte morgens um sechs von dannen. Anstatt des Morgenkaffees nahm er in einer Kneipe einen Whisky mit Brot, weil keine seiner drei Damen - Frau und zwei stattliche Töchter - aufzustehen und Kaffee zu machen geruhte. Zum Mittag verschlang er für 5 oder 10 Cent in einer Kneipe einen Lunch. Er freute sich auf das Abendbrot, die Hauptmahlzeit, die er daheim mit seinen Frauen einnahm. Oft auch nicht, denn die Damen geruhten Spaziergänge zu machen sowie auswärts zu speisen. Die Einsamkeit hatte der Hausherr mit der für seine Frauen zu schweren Arbeit auszufüllen, wie Herdputzen und Teppichklopfen. So etwas durfte er ihnen nicht zumuten. Es würde ihm auch schlecht bekommen sein. Nur die so sehr verachtete Stiefelputzerei - die Stiefelwichser nehmen im freien Amerika, wo alle Arbeit gleich geachtet sein soll, eine sehr verachtete Stellung ein - ließ er auch sein. Jeden Abend trug er vier Paar Schuhe im Körbchen zum Stiefelwichser, dabei besorgte er die Einkäufe. (Ein Paar Stiefel zu wichsen kostet 42 Pfg.) Wäsche wurde natürlich alle auswärts gewaschen, für die großen Reinigungen eine Negerin genommen. Seine Ladies konnten sich das leisten. Er verdiente seit vielen Jahren ständig über 30 Dollar die Woche, die aufzubrauchen seiner Weiblichkeit einzige Beschäftigung zu sein schien. Er nahm ihnen das auch nicht sonderlich krumm oder durfte es wahrscheinlich nicht. Bei den Vorlesungen über die Rechte des Mannes und die Pflichten der Frauen kam er nicht zum Wort. An einem Sonnabendabend machte er mich einmal auf die drei 'Zehn-Dollar-Hüte' seiner Frauen schmunzelnd aufmerksam, die sie sich gerade von seinem ganzen Wochenlohn gekauft hatten und womit sie nun eine 'Zwei-Dollar-Vorstellung' besuchen wollten.
Eine derart öde Häuslichkeit hatten meine Werkstattkollegen nun nicht; sie waren auch nicht so bodenlos gütig wie der Glasarbeiter. Allein von viel besseren Verhältnissen konnte bei ihnen ebensowenig die Rede sein. Ihren Fleiß als Hausburschen und Einkäufer konnte ich oft bewundern. Wäsche zu reinigen galt auch ihren Frauen nicht als 'ladylike' (für Damen passend). Die Arbeitshosen ließen sie gleich in den Zweiggeschäften einer Wäscherei; sie ihren Frauen mitzunehmen, deuchte ihnen eine Entweihung der Weiblichkeit.
Es ist einleuchtend, daß die Wirtschaft solch einer Arbeiterdame der häuslichen Reize verdammt wenig birgt; und obendrein ist sie sehr teuer. Sie verschlingt den verhältnismäßig hohen Lohn des gelernten Arbeiters. Die letzten Tage der Löhnungszeit gesteht mancher Kamerad, daß er 'short in money' (schwach bei Kasse) sei. Um diesem üblen Zustand abzuhelfen, wird zu Überstunden gegriffen, und sei es nur, um der Lady eine Schrulle oder den Wunsch nach dem neumodischen 'Acht-Dollar-Hut' zu erfüllen.
Bei Arbeitern mit geringem Einkommen oder größerer Familie haben sich die Frauen zu bescheiden. Die Töchter müssen, ob sie wollen oder nicht, mit zum Verdienen ausgehen, da sie sich sonst nicht als 'up-to-date-girls' ( (der Neuzeit entsprechende Mädchen) kleiden können. Ihre paar Dollar Lohn gehen natürlich auf für den Putz. Der Vater ist froh, daß seine Last ein wenig leichter geworden ist. Andererseits wächst die Dreistigkeit und 'Autorität' des Mädchens. Es spricht im Rate der Familie ein gewichtiges Wort. Ihm zu widersprechen wird - sei es aus Affenliebe oder Feigheit - nicht gewagt. Es hätte auch nicht viel Zweck. Denn die Töchterchen haben über Freiheit und Recht eigene Begriffe, worauf sie den Alten gegenüber sehr hartnäckig bestehen.
Recht unterhaltend ist es, die deutschen Arbeiter über ihre Erfahrungen in Amerika erzählen zu hören. Die mit Amerikanerinnen verheirateten können den Junggesellen nicht genug vor der Änderung seines Zivilstandes warnen. Bei ihnen ist das erhoffte Eheglück in einen Ehekrieg mit seltenem Waffenstillstand ausgeartet. Über die Ehe mit den schönen Töchtern des Onkel Sam hatten mir schon Landsleute in Neujork steinerweichende Geschichten erzählt, deren Regelung von den lieben, sehr gesetzkundigen Weibchen kurzerhand dem Richter übergeben worden war. Hierbei setzte es Einsperrung oder Geldstrafe ab für den noch mit 'veralteten' deutschen Ansichten über die Pflichten der Hausfrau und dergleichen ausgestatteten Landsmann.
Im Pittsburger Industriegebiet fand ich das in Neujork Gehörte vielfach bestätigt.
Der Familienvater schien mir da nicht selten für ein notwendiges Übel gehalten zu werden. Er hat wenig zu sagen, dafür aber viel zu schanzen. Die Kinder halten gewöhnlich absichtlich zur (amerikanischen) Mutter. Der Vater kommt ja aus einem Lande, das nach dem in der Schule Gehörten weit unter dem 'Greatest Land in the World' (größten Land der Welt) steht; er kann noch nicht einmal richtig englisch sprechen - er ist ein 'Dutch'. Die Worte Kürnbergers finden auch noch nach einem halben Jahrhundert vielfach Bestätigung: 'Die größte Dummheit, die ein Deutscher hier machen kann, ist die Heirat mit einer Amerikanerin. '
Die amerikanischen Arbeiter wie auch ihre Frauen sind auf Kindersegen nicht versessen. Für die dauernden Klagen der Patrioten über Rassenselbstmord haben sie bloß ein spöttisches Achselzucken. Die auf ihr Land so stolzen Yankees überlassen die Sorge um die künftigen Geschlechter in der Hauptsache den Fremden. Das gilt bei allen Klassen, bei arm wie reich. Die Eingewanderten erfüllen die ihnen großmütig überlassene Arbeit mit heiligem Eifer. Besonders sind es die Juden, die das Bibelwort 'Seid fruchtbar und mehret euch' allzu buchstäblich nehmen. Ein Gang durch die Kleinjerusalems beweist es.
Stellt sich bei den eingeborenen Arbeitern der 'Segen des Himmels' trotz aller Vorsichtsmaßregeln ein, so erfüllt das besonders den männlichen Malthusianer mit Betrübnis. Weiß er doch, daß er neben den Sorgen um die Unterhaltung des Sprößlings einen Teil der Wartung zu übernehmen hat. jedenfalls hat er die 'Gottesgabe' bei Ausgängen pflichtschuldig hinter oder neben seiner Lady herzutragen. Das ist kein Flitterwochenspaß, sondern stete Pflicht des freien amerikanischen Bürgers; es ist 'gentlemanlike' (fein, anständig). Darüber wundert sich schließlich nur ein Eingewanderter, dem Amerikaner ist es selbstverständlich. Den Müttern kann so etwas nicht zugemutet werden; sie sind Ladies, freie Amerikanerinnen.
Auch im Hause zeigen die Männer oft, daß sie den Beruf einer Kindsmagd verfehlt haben. Aber mancher von ihnen verlangt auch für sich die Freiheit und die Menschenrechte, die die Unabhängigkeitserklärung Amerikas feierlich jedem Bürger zusichert. Dies fährt zu Zusammenstößen, denen dann vielfach der Richter durch fastnachtmäßige Entscheidungen zuungunsten des Mannes Einhalt zu bieten versucht. Die Weitersehenden unter den uneinigen Ehehälften erinnern sich im letzten Augenblick, oft auch schon früher, der Leichtigkeit der Trennung (in manchen Staaten). Die Ehescheidungen haben in Amerika eine solche Höhe erreicht, daß Spaßvögel sagen, es gäbe bald mehr Ehescheidungen als Eheschließungen. (In den zwanzig Jahren von 1887 bis 1906 wurden in den Vereinigten Staaten 945.625 Ehen geschieden; in den zwei vorhergehenden Jahrzehnten 328716. Oder: Im Jahre 1880 kamen auf 100.000 Einwohner 38 Scheidungen, im Jahre 1900 aber 73. In Deutschland dagegen nur 15 und in Frankreich 23.)
Wochentags gleicht das neue Babel einem wahrhaftigen Bienenstock. Alles hetzt, jeder keucht, immer und überall die Jagd nach dem Dollar. Das Business (Geschäft) beherrscht die Geister derart, daß darüber die Bürgerpflichten vergessen werden. Das Interesse an Gemeinde, Staat und Land ist bei der Masse gleich Null. Dieses zu wahren wird dem politischen Boß (Parteihäuptling) großmütig überlassen, der das Geschäft denn auch besorgt. Er nimmt den Bürgern nicht nur das Denken, sondern oft auch das Stimmen ab und 'macht' dabei viel Geld. Die Wohlfahrt der Gemeinde ist niemandes Sache. Die sträfliche Gleichgültigkeit der Bürger brachte es dahin, daß Pittsburg, die gewaltigste Eisen- und Handelsstadt der Welt, keinen Meter Bahngleis und keine Landungsplätze für die Schiffe hat. Sie nennt weder eine Gasanstalt, noch eine Wasserleitung, noch eine Straßenbahn ihr eigen. Die Wasserläufe würden in einigen Jahren versanden, wenn es auf die Bürger oder den Boß ankäme. Das Wasser für den Hausgebrauch ist lehmig, nicht zum Trinken; die Straßen sind für nichts auf 99 Jahre den Straßenbahngesellschaften verschachert worden; die Brücken über die Flüsse gehören zumeist Gesellschaften, denen die Fußgänger Brückengeld entrichten müssen. Mit dem Eigentum und den Rechten der Gemeinde schaltet der Boß nach Wohlgefallen.
Dank der allgemeinen Gleichgültigkeit der Bürger in öffentlichen Angelegenheiten konnte die Fäulnis in Staat und Gemeinde einen schrecklich hohen Grad erreichen. In regelmäßigen Zeitabständen dringt ein schmieriges Tauschgeschäft der Gesetzgeber oder der Stadtväter in die Öffentlichkeit. Die Korruptionsgeschichte der Stadt Pittsburg ist lang, wenn auch nicht so lang wie die Neujorks, St. Louis' oder der frommen Quäkerstadt Philadelphia.
Das Gesetz gebietet vollständige Ruhe am Sonntag. Theater, Wirtschaften sowie andere Unterhaltungsstätten sind streng geschlossen. Für den Wohlhabenden hat das nichts zu sagen, denn er hat seinen Klub, einen Weinkeller und „Flüsterbuden“. Was die Todesstille am siebenten Tag für den die sechs Wochentage unausgesetzt angespannten Arbeiter bedeutet, kann doch nur der ganz ermessen, der sie am eignen Leibe erfahren hat. In Pittsburg ist nicht wie anderwärts das Sonntagsgesetz durch Bestechung gemildert. Zwar sind seine Polizisten einem Sonntagsgeschäftchen ganz und gar nicht abgeneigt, aber die Parteihäuptlinge wenden sich scharf dagegen, weil es die tausendfach höheren Interessen des die Parteikasse speisenden Unternehmertums gefährdet: die Arbeiter könnten durch eine weniger strenge Einhaltung der Sonntagsruhe der Kirche entzogen werden. Ist es doch gerade die Grabesstille am Sonntag, die den Schafstall der Frommen mit proletarischen Lämmern füllt. Selbstverständlich sind die Kirchendiener und Bekehrungswütigen an ihrem einzigen Arbeitstag sehr eifrig tätig.
Die eingeborenen Arbeiter fühlen die Todesstille am Sonntag in ihrer ganzen Schwere. Bei ihnen ist die Freude am Gesang, die Pflege von häuslicher Unterhaltung gar nicht entwickelt. Sie suchen die Zeit totzuschlagen mit dem Lesen der Sonntagsblätter, frommen Flugschriften und - vornehmlich die Frauen - durch Kirchenbesuch und durch Zuhören bei den Sektenpredigern an den Straßenecken. Das ist es, was die Schöpfer der Sonntagsruhe, die Mucker, gerade wollen. Dann können die Schäflein geschoren, kann ihnen das Geschichtchen vom reichen Manne und armen Lazarus in jeder Lesart erklärt werden. Die Trusts unterstützen die Werke der Frommen, oder richtiger, sie bezahlen die Kirche und ihre Diener für die Arbeit, die sie für sie leisten. Durch die frommen Kirchenblätter zieht der Gestank des Standardöls, der Rauch des Stahltrustes, der Duft des Tabaksyndikates.
Vier Wochen hatte ich nun das Pittsburger Industriegebiet kreuz und quer durchstreift, war an den Flüssen hinauf durch Stahlwerke, Kohlenzechen und Glashütten gewandert. Der Befriedigung des Wissensdurstes stellten sich selten Hindernisse entgegen.
In Amerika öffnen sich dem Fremdling die Werktore leichter als anderswo. Nach Empfehlungsschreiben hin ich niemals gefragt worden. Allerdings habe ich den Weg in die Anlagen auch selten durch die Kanzleitür genommen. Mit der Anmeldung im Verwaltungsgebäude geht viel Zeit verloren, und dann erhält man einen Schreibergesellen als Führer an die Ferse geheftet, dem die Bewegung alles, das Ziel seines Anvertrauten aber nichts ist. Diese Tatsache bestimmte mich, Werkstattwichs an-, die deutsche Schüchternheit abzulegen, und wohlgemut mit der Belegschaft in die Fabriken zu wandern. Solch eigenmächtig vorgenommene Werkbesichtigungen bringen alle Vorteile, die unter solchen Umständen möglich sind.
Gewiß, den Vorteilen stehen auch Nachteile gegenüber. Zu diesen ist ohne Zweifel das Zusammentreffen mit den Werkpolizisten zu rechnen. Merkwürdig, im freien Amerika sind die Fabriktürhüter mit Polizeigewalt ausgestattet. Auf ihren steten Märschen durch die Anlagen tragen sie das Zeichen ihrer Amtsgewalt, den Gummiknüppel, gefechtsfertig in der Hand. Auch bei Lohnzahlungen wird hier und da die Geldkiste von solchen Knüppelschwingern bewacht, Freies Amerika, das läßt tief blicken!
Diese Darsteller amerikanischer Werkstattfreiheit können einem bei unstatthafter Begegnung ein gar garstiges Berufsvergnügen bereiten. Allein selbst die schlimmsten Folgen eines solchen kann Gleichmut überwinden. Indes, in mancher dieser uniformierten Polizeibrüste schlägt ein leicht zu besänftigendes Herz. Der 'große amerikanische Handschlag' wirkt wie Balsam auf das aufgeregte Blut und die noch aufgeregtere Zunge: Einen Quarter in die knüppeltragende Hand gedrückt, macht die Grimmigkeit verschwinden, läßt an deren Statt Freundschaft treten. Und ist das Glück besonders hold und die Luft rein, so übernimmt der Fabrikpolizist für das Geldstück noch die Stelle des Schutzgeistes sowie des Auskunftsgebers.
Auf der Rückkehr von meinen Streifzügen hatte ich oft stundenlang dem Treiben in einem mächtigen Stahlwerk im Süden Pittsburgs zugeschaut. Es war so fesselnd, daß ich zuweilen das Heimgehen vergaß. Aus einer Reihe mächtiger Konverter schossen, wie aus einem Vulkan, gewaltige Feuergarben zum Himmel empor. Abwechslungsweise sandten die Feuerschlünde feurige Sprühregen in die Luft. Unten, aus dem dunklen Boden, schob sich von Zeit zu Zeit, wie durch Geisterhand bewegt, ein weißglühender Stahlblock in die Höhe und stellte sich aufrecht auf einen kleinen Wagen. Dieser eilte, die heiße Last wieder loszuwerden. Wie besessen sauste er in die dunkle Nacht hinaus. Vor einer Walzenstraße machte er plötzlich Halt, kippte die feurige Säule geschickt auf einen Rollengang und sauste schleunigst wieder nach seinem alten Stand zurück, gerade als ob er Angst vor der Hitze habe. Nun kam Leben in den lang hingeworfenen feurigen Stahllümmel. Behende glitt er über die Rollen dahin. In seinem hastigen Lauf hielt er einen kurzen Augenblick inne, machte einen kleinen Ruck zurück, wie wenn er sich sträube, weiter zu gehen. Zu spät. Schon hatten ihn zwei Walzen gepackt und quetschten ihn knirschend in der ganzen Länge gehörig breit. Über diese Mißhandlung schien der feurige Lümmel wütend zu sein. Mit einem Ruck warf er sich auf die Seite. Aber noch ehe er nur richtig lag, schoben ihn die Rollen unbarmherzig wieder unter die Walze. Jetzt wurden ihm die Seiten zusammengedrückt. Zitternd schmiß er sich auf den Bauch. Dann wurde er wieder durch die Walze gezogen. In kurzer Zeit war der klobige Stahllümmel zu einem schlanken und wohlgeformten I-Balken gequetscht worden. Nun erst kam er weit hinten in der Halle auf kühlem Plattenboden zur Ruhe. Die Konverter leuchteten ihm dazu. Vorn rollte schon wieder ein anderer Stahlklumpen durch die Walze.
Das ganze Verfahren mit den mächtigen Eisenblöcken ging vor sich, ohne daß ein Mensch zu sehen war. Kräne, Wagen, Rollen, Kippvorrichtungen, alles wurde unsichtbar bewegt. Irgendwo in der Halle mußte sich das Hirn dieser prächtigen Maschinerie befinden. Auch war der sonstige Betrieb eigenartig genug, mich zu fesseln. Hier mußte für den Techniker manches Neue zu sehen sein, für den Sozialpolitiker nicht minder. Denn das Werk beschäftigte an die 10.000 Leute, zumeist frisch Eingewanderte. Hier wollte ich arbeiten. Als was, war mir gleichgültig. Ein in der Nähe des Werkes hausender Kneipwirt hatte mir zwar gesagt, es sei unwahrscheinlich, daß ich jetzt dort Beschäftigung finde, weil Leute abgelegt würden. Na also, da sind ja viele Plätze frei; einer davon eignet sich sicherlich für mich. Er zuckte die Achseln.
An der Hinterseite des Werkes fläzte der Türhüter am Eingang. Er vertrieb sich die Langeweile mit Tabakkauen. Wenn irgend jemand, so konnte er mir meine Frage beantworten.
"He, Bill, braucht ihr keine Leute?" begann ich das Zwiegespräch. "Brauchen niemand, legen selbst ab", brummte das Rauhbein.
"Mag sein, aber geh' mal rein und erkundige dich, ob kein Maschinenschlosser gebraucht wird", redete ich ihm zu, wobei ich einen Quarter in seine schmierige Pfote drückte. Dieser amerikanische Handschlag gab seiner frostigen Tabakschrote freundlichere Form. Er schrie einen Burschen herbei, der seinen Posten an der Tür einzunehmen hatte. Dann trollte er sich. Nach einer guten Viertelstunde tauchte er wieder auf . Die glatt geschabte Schauseite stand auf gut Wetter.
"An der hydraulischen Presse hat einer aufgehört, muß aber ein gelernter Mann sein. "
"Danke, aber was muß der machen?" "Weiß nicht."
"Da, trinke noch ein Glas", sagte ich, ihm noch einen Quarter reichend, "aber sieh mal, ob du nicht erfahren kannst, was der Mann machen muß."
Als Antwort leerte er seine Tabakschrote auf den Boden. Ich konnte das nur als Entgegenkommen auffassen. Richtig, er schlenderte wieder ins Werk. Endlich, nach zwei geschlagenen Viertelstunden kam er wieder zum Vorschein. Er brachte einen ganz mit Schweiß und Schmiere bedeckten Arbeiter mit. Dieser könne mir Auskunft geben, er sei der Helfer des abgegangenen Mannes gewesen. Der neue Bekannte begann zu erzählen, noch ehe ich ihn gefragt hatte. Sein Englisch verriet den Sohn des Landes der Zitronen, Ich wußte bald genug. Wegen der Einstellung müsse ich mich an Charly, den Boß für die Nachtschicht wenden, der komme etwas vor sechs Uhr.
Zwei Stunden später marschierte ich mit der Nachtschicht durch das Haupttor. Die Reparaturwerkstatt war bald gefunden. Charly saß in einem Verschlag, woran mit Kreide "Office" geschrieben stand.
"Haben Sie keinen Platz für einen Maschinisten (Maschinenschlosser)? " fragte ich den Vormann.
"Well, wo haben Sie zuletzt gearbeitet?"
"Neujork. "
»Was für Arbeit?«
"Hydraulische Presse."
"What? Das ist fein, können anfangen. Sie haben keinen Overall mit? Well, kommen Sie morgen abend um sechs. "
"Wie steht's mit dem Lohn?"
"Anfang 33 1/3 Cent (= 1,35 Mk.) die Stunde, Nachtarbeit zwanzig Prozent Zuschlag."
"Allright, Sir, auf morgen! "
"Allright!"
Am andern Abend fand ich mich an der hydraulischen Presse ein. Fünf Helfer warteten meiner. Sie waren freundlich genug, mich in die Geheimnisse des aus allen Fugen Wasser spritzenden Ungetüms von einer Presse einzuweihen. Auf dem Boden lagen hochaufgeschichtet Bahnwagenräder, die darauf warteten, auf Achsen getrieben zu werden. Diese Tätigkeit mußte zuweilen unterbrochen werden, um dringendere Arbeiten zu erledigen. Wir fuhren mit der Fabriklokomotive im Werk Transmissionen zusammen, um deren abgenutzte Zahnräder oder Kupplungen abzutreiben und dafür neue aufzupressen. Hierbei erhielt ich Gelegenheit, mich im ganzen Werk umzusehen. Verdammt schwere sowie scheußlich schmierige Maschinenteile waren da zu handhaben. Streng wurde gerade nicht geschafft. Die Helfer nahmen sich von Zeit zu Zeit die Freiheit, Rast zu machen. Ihr Vormann desgleichen. Wenn ich sie zur Arbeit ermuntern wollte, gaben sie mir deutlich zu verstehen, daß man in Amerika und nicht im 'alten Land' sei. Zuweilen verloren sich auch Helfer im Werk, die dann gewöhnlich mehrere Stunden brauchten, bis sie den Weg zur hydraulischen Presse wieder fanden.
Das Werk galt als 'open shop' (offene Werkstatt). Theoretisch heißt das, daß es für organisierte wie unorganisierte Arbeiter offen steht, in Wirklichkeit aber werden organisierte darin nicht geduldet. Dieser 'open shop' wies gegenüber den 'closed shops' (organisierte Werkstätten), wo ich in Neujork gearbeitet hatte, verschiedene Vorteile auf. Von Antreiberei konnte nicht geredet werden, der Lohn war höher, bei der Arbeit durfte geraucht werden, die Viertelstunde vor Arbeitsschluß stand für Waschen frei. Waschbecken mit kaltem und heißem Wasser waren genug vorhanden. Die freundlichen Meister redeten die Leute vertraulich beim Vornamen an. Ich war schon die erste Stunde Fred getauft worden. Das Verhältnis unter den Arbeitern stand hoch über dem in den Neujorker Werkstätten. Von der dort bestehenden heimlichen Mißgunst und der Großmauligkeit spürte man nichts. Aber eins schien streng verpönt zu sein: die Gewerkschaft.
Meiner Frage nach organisierten Arbeitern wichen die Kameraden scheu aus. Außerhalb des Betriebes war mir ein Hobler als tüchtiger Gewerkschafter genannt worden. Die nächste Nacht suchte ich ihn auf. Als ich von der Union (Gewerkschaft) zu reden begann, fleuchte er wortlos von dannen, mir winkend, ihm zu folgen. Erst hinter der schützenden Decke eines Akkumulators machte er Halt und bestürmte mich, das Wort Union außerhalb der Bude zu lassen, wenn mir mein Platz lieb sei. Diese Angstmeierei schien mir übertrieben bis zur Lächerlichkeit. Allein bald sah und hörte ich Vorgänge, die mir die Vorsicht meines Warners wohlbegründet erscheinen ließen. Das Gefühl drängte sich einem auf, daß Pinkertonstrolche am Werke seien.
Die unmittelbaren Vorgesetzten wurden durchgehend als 'nice fellows' (nette Kerle) geschildert. Die Unterdrückungsmaßregeln schienen von einer unsichtbaren Macht - 'from the top' (von der Spitze), sagten die Kollegen - zu kommen.
Damals wußte ich noch nicht, daß die amerikanische Großindustrie viele Tausende von Judassen unter die Arbeiterschaft verteilt. Sie stehen in der Werkstatt als 'brüderliche Kameraden', in der Gewerkschaft als eifrige Versammlungsbesucher und 'radikale Brüder'. Zuweilen gelingt es ihnen auch, in die Streikleitung zu kommen. Hier treten sie für schärfste Maßnahmen und Erhöhung der Streikunterstützung ein. Die eine braucht das Unternehmertum zur Begründung der Forderung nach militärischer Hilfe, durch die andere wird die Streikkasse schneller geleert.
Natürlich handeln die Spitzel nur nach den Anweisungen ihrer Brotgeber. Sie haben mehrmals in der Woche, oft auch jeden Tag, über ihre Tätigkeit sehr ausführlich Bericht zu erstatten. Ihre Dienstanweisung, die mehrere Dutzend Paragraphen enthält, schreibt genau vor, worauf das Augenmerk zu richten ist. In der Dienstanweisung eines Vermittlungsgeschäftes für Geheimpolizisten (Judasse) heißt es unter anderm:
'No. 17. Bemerken Sie unter den Arbeitern irgendwelche Unzufriedenheit bezüglich des Lohnes? Ausführliche Angaben.
No. 25. Welcher Mann übt den größten Einfluß auf die Leute aus? Bis zu welchem Grad? Bei wem holen sich die Arbeiter Rat im Streitfall mit dem Unternehmer?
No. 26. Berichten Sie über Gespräche der Arbeiter über die Zu-
stände in der Fabrik. Wenn sie wichtig, die Namen der Teilnehmer angeben. '
Den Neulingen im Schnüffelhandwerk gibt diese Anweisung folgende Ratschläge: 'Lassen Sie niemals für einen Augenblick den Gedanken aufkommen, daß Ihre Tätigkeit unter den Arbeitern bekannt ist, wenn Sie nicht ganz triftige Gründe dafür haben. Ein (in einer Fabrik tätiger) Geheimpolizist ist als solcher den Arbeitern selten bekannt, und selbst wenn es der Fall sein sollte, dann nur durch seine eigene geschwätzige Zunge, durch Gespräche mit seinen Verwandten oder nahestehenden Freunden. Lassen Sie niemals Ihre Meinung durch Vorurteile oder Gunst beeinflussen; seien Sie vollständig ehrlich und unparteiisch dem Unternehmer gegenüber. '
Unter solchen Umständen wird es nicht wundernehmen, wenn sich die Stahlarbeiter fürchten, in der Werkstatt das Wort Union auszusprechen, geschweige dafür zu werben. Die organisierten Arbeiter haben sich oft und oft gegen die schlechten Verhältnisse in den Stahltrustwerken gewehrt, aber sie sind unterlegen. Die Stahltrustwerke sind zu 'open shops' geworden. Dem organisierten Arbeiter sind sie verschlossen. Für die Stahlarbeiter besteht die Gewerkschaft nur noch in ihren Hoffnungen und Träumen.
Bis zum ersten Zahltag dauerte es verteufelt lange. Vierzehn Tage bleiben stehen, dann mußte ich noch fast ebensolange arbeiten, ehe ich zum erstenmal Geld erhielt. Die Nachtarbeiter erhalten ihren Lohn nicht nach Beendigung der letzten Schicht der Löhnungszeit, sondern müssen deswegen besonders ins Werk. Sogar der entlassene oder kündigende Arbeiter bekommt nicht sofort seinen Lohn: er muß zur nächsten Ablöhnung noch einmal kommen, ein Zustand, der fast in ganz Amerika besteht.
Als ich am Sonnabend mittag zum Lohnholen erschien, stand schon der ganze Werkhof voller Menschen, die lange Schlangenlinien bildeten. Die Taglöhner, allesamt frische Einwanderer, hatten Nummermarken in den Händen. Die Verständigung mit ihnen ist schwierig, ihre Namen sind unaussprechbar, die englische Sprache verstehen sie nicht, in der Kunst des Lesens und Schreibens haben sich nur wenige vor langer Zeit geübt. So überreicht ihnen der Meister am Zahltagmorgen eine Blechmarke mit der anstelle ihres Namens stehenden Ziffer, wofür die Lohntüte einzutauschen ist.
Meine Lust, in dem Werke zu bleiben, hielt nicht lange über den ersten Zahltag hinaus an. Nachdem mein Wissensdurst einigermaßen gestillt war, sah ich keinen Grund mehr, bei der schmutzigen und lebensgefährlichen Arbeit auszuharren. Die Schmierigkeit des Betriebes überstieg noch vielfach die der Neujorker Eisenbuden. Dann fehlten auch hier so ziemlich alle Vorkehrungen zum Schutze der Arbeiter. Lebensgefahr lauerte auf Schritt und Tritt. Die Erzählungen der Kollegen von den vielen schrecklichen Unglücksfällen in diesem Betrieb, sie nannten ihn 'slaughter house' (Schlachthaus) und von der Not der Verunglückten, die keinerlei Entschädigung erhielten, ließen es mir geraten erscheinen, dem Werk meine wertvolle Arbeitskraft zu entziehen. Eines Morgens wickelte ich den Overall zusammen um einen 'easier job' (leichtere Arbeit) zu suchen. Ich sollte ihn bald finden.
Auf der rechten Seite des Monongahela, eingepreßt zwischen Felsenwand und Flußlauf, liegt die Tube Company, 'das größte Werk der Welt für schmiedeeiserne Röhren'. Es gehört zum Stahltrust. Eine große Brücke geht darüber hinweg. Mein Weg zum Stahlwerk führte mich tagtäglich vorbei. Wenn ich morgens von der Arbeit kam, blieb ich immer auf der Brücke stehen, um dem fesselnden Treiben unter mir zuzuschauen. Die Fabrikationsweise reizte meine Neugierde. Es wurden da Röhren von einem Durchmesser bis zu einem halben Meter gebogen und mit Schnellzugsgeschwindigkeit geschweißt. Gerne hätte ich die wunderbare Schweißmaschinerie in nächster Nähe betrachtet. In diese Fabrik mußte ich hineinzukommen versuchen!
Auf der einen Seite der Brücke wurden Werkstätten errichtet. Das Mauerwerke im Erdboden konnte bloß für Schweißmaschinen oder Triebwerk sein. Für deren Aufstellung bedurfte es natürlich tüchtiger Monteure, also Leute wie ich. Als ich im Stahlwerk Schicht gemacht hatte, stellte ich mich dem Boß der Röhrenfabrik als Monteur vor. Er bedauerte; vorderhand brauche er nur Werkzeugmacher für Schneidzeug. Auch darin sei ich wohlbeflissen. Da er etwas von der Thomasschen Ungläubigkeit an sich hatte, prüfte er mich in der Herstellung von Gewindeschneidzeug. Nach kurzem Zwiegespräch meinte er: 'Come on, you may start. ' So, ich konnte also anfangen. Jetzt war die Reihe zu fragen an mir: »Wie steht's mit dem Lohn?«
»Anfangslohn 35 Cent (= 1,47 Mk.), Überstunden werden doppelt bezahlt; Arbeitszeit zehn Stunden.«
Fünf Minuten später stand ich in einem Verschlag neben der riesigen Halle, wo Gewinde an Röhren geschnitten wurde. Zwei Mann fummelten an Gewindebohrern von einem halben Meter Stärke herum. Der Boß stellte mich ihnen als ein 'good foreign toolmaker' (tüchtiger ausländischer Werkzeugmacher) vor.
Mit den neuen Kollegen befreundete ich mich schnell. Die Arbeit hätte ein Lehrjunge machen können. Sie bestand darin, die Schneidebacken aus dem (Gewindebohrer-) Körper zu nehmen, sie zuzufeilen, zu härten und wieder einzusetzen. Das brachte jeder beliebige 'Katzenkopf' fertig. Die gewöhnliche Arbeit mußte hie und da unterbrochen werden, um festgelaufene Schneidmaschinen wieder in Gang zu setzen. Das wurde mit Vorschlaghammer und Brecheisen, bei besonders feinen Maschinen mit Strohfeile und Schraubenschlüssel besorgt. Bis zum Abend liefen sie dann auch, manchmal sogar bis zum Wochenende. Dann aber mußten sie gründlich eingerichtet werden, was Überstunden verlangte. Für diese gab's doppelten Lohn, also 70 bis 80 Cent die Stunde oder sieben bis acht Dollar die Nacht. Die Summe von 30 Mk. und mehr für eine Schicht hielten die Kollegen des Mitnehmens wert. Die Lady daheim brauchte einen neuen Acht-Dollar-Hut oder ein Sonntagskleid. Von Antreiberei war nichts zu spüren. Die Vorarbeiter wurden als Kollegen betrachtet. In der Werkstatt durfte geraucht werden. Die Kameraden wetteiferten miteinander, meinen englischen Wortschatz zu vervollständigen.
Als eine große Wohltat empfand ich auch hier wieder die pausenlose, die durchgehende Arbeitszeit. Ich mußte jetzt selbst darüber lächeln, wie ich früher so töricht gewesen sein konnte, der Schaffung von Vesperpausen und der Verlängerung der Mittagszeit das Wort zu reden. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage! Hier hatten wir nur mittags eine Unterbrechung von zwanzig Minuten. Die einen aßen, was sie in ihren blechernen Körben mitgebracht hatten, die andern speisten in einem naheliegenden Wirtshaus für zehn oder fünfzehn Cent. Morgens und nachmittags gab es keine Pausen. Dank dieser Zusammendrängung der tatsächlichen Arbeitszeit konnte man früh eine Stunde länger schlafen, abends eine Stunde eher dem Werkstattlärm entfliehen, mittags brauchte man sich nicht in den Kneipen zu langweilen oder auf der Straße bei Wind und Wetter herumzulungern; dank ihr war es den Toren unter den Arbeitern nicht mehr möglich, die Dummheit zu begehen, mittags wegen einer Kartoffelsuppe mit fettigem Aufputz heim- und zurückzurennen. Als ob die proletarische Mahlzeit eine derartige Hetze wert wäre! Was sie an Nährstoff gibt, wiegt kaum den Kräfteverlust auf, den Heim- und Rückmarsch bringen. Da schleppen die europäischen Arbeiter tagaus tagein ihr Körpergewicht zwischen Wohnung und Werkstatt hin und her, bloß um daheim eine Wassersuppe zu genießen. Als ob sie nicht gleich am Morgen so viel Nahrung mitnehmen könnten. Würden sie die Marschzeit in den Mittagsstunden als Arbeitszeit verwenden, sie wären weniger abgehetzt, hätten abends eine Stunde mehr für die Familie und der Unternehmer könnte den Betrieb eine Stunde eher abstellen und Licht und Heizung sparen.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986