1907 - Fritz Kummer
Der horizontale und vertikale Verkehr von New York
Daß New York eine schöne Stadt sei, wird niemand behaupten wollen, selbst der Yankee nicht. Der erste Anblick, den man von ihr beim Austritt aus dem Fährboot bekommt, ist alles andere, bloß nicht angenehm. Vor einem steht ein verräuchertes Häusergestrüpp mit kahler Außenfläche. Die New Yorker Straßen sind gewiß noch nicht die schlechtesten in Amerika. Was aber will das viel besagen? Der Fahrdamm ist roh gepflastert und schrecklich zerfahren, der Boden des Fußsteiges oft geborsten und stückweise eingesunken. Die Verkommenheit der Straße läßt erraten, daß sich ihrer eine bessernde Hand nur jubiläumsselten erbarmt. Der Verkehr wird nicht selten durch aufgespeichertes Gerümpel gehemmt. Der Zugang zu den Hauskellern geschieht, wenn auch nicht überall, von der Straßenseite. Die Treppeneingänge stoßen weit in den Fußsteig hinein. Die Bodenöffnungen sind allerdings mit Falltüren überdeckt, aber sie sind durch langen Gebrauch verbogen, liegen nicht glatt auf, sind oft bis weit in die Nacht hinein sperrweit geöffnet, ohne eine Schutzwehr zu haben.
Der Eingeborene ist von Jugend auf an diese Fallöcher gewöhnt. Mit sicherem Gefühl weicht er ihnen aus. Trotz alledem gibt es Unfälle in Masse. Der Amerikaner scheint jedoch Hinfälle und Abstürze als auch die Verschandelung der öffentlichen Verkehrswege durch Falltüren nicht krumm zu nehmen; andernfalls hätte er schon längst darauf dringen müssen, daß diese Menschenfallen von Gesetzes wegen verboten werden.
Aber halten wir uns nicht länger bei dieser Schluderei auf; streben wir in das Innere der Stadt, dem Broadway, der größten Geschäftsstraße zu. Das Straßenbild wird zwar allmählich anders, besser, bleibt aber immer amerikanisch. Anstelle der dreistöckigen Backsteinkisten treten fünf- bis achtstöckige Bauten. Die vielen Schilder geben zu erkennen, daß sich darin Geschäfte befinden. Zwischendurch stoßen Wolkenkratzer zum Himmel empor. Das Mammut des Hochbaues beherrscht seine Umgebung durch freche Größe; neben ihm werden gewöhnliche Häuser zu winzigen Schachteln. Baukünstlerische Schönheit sucht man am Wolkenkratzer vergeblich. Darum war es übrigens seinem Erbauer auch gar nicht zu tun, nur zweckdienlich sollte er sein. Und das ist er jedenfalls.
Auf der Südspitze Manhattans, der Insel, worauf das alte New York liegt, bewegt sich der Verkehr nicht bloß in waagerechter, sondern auch in senkrechter Richtung. Dem New Yorker genügten geradeaus und seitwärts laufende Straßen nicht: er baute sich auch noch lotrechte. Er nennt die Längsstraßen Avenues, die Querstraßen Streets, die Lot-straßen Aufzugschächte. Gewöhnlich wachsen die Städte in die Breite und Länge, Manhattan wächst nur noch in die Höhe. Die Einwohnerzahl Manhattans steigt fortgesetzt, das Bedürfnis nach Geschäftsräumen und Wohnungen wird immer dringender. Der Vermehrung des Baugrundes aber setzt das Wasser eine scharfe Grenze. So bleibt keine andere Möglichkeit, als in die Luft zu bauen, zwanzig, dreißig, bald vierzig Stockwerke übereinander. Wie die waagerechten, so haben natürlich auch die Lotstraßen ganz neuzeitliche Beförderungsmittel. Den gewöhnlichen Bahnen gegenüber haben sie den Vorteil, daß sie unentgeltlich und nicht an einen festen Fahrplan gebunden sind, vorderhand wenigstens noch. Sie zerfallen in Bummelzüge, die in jedem Stock halten, und in Fernzüge, die mehrere Geschosse überspringen. Leider hat die Lotstraßenbahn noch den Nachteil, daß sie unten nicht gleich in waagerechter Richtung weiterfährt. Vorläufig müssen also die Fahrgäste noch auf der unteren Haltestelle aussteigen und zu Fuß ein waagerecht laufendes Gefährt aufsuchen.
Die Wolkenkratzer dienen bloß Geschäftszwecken. In ihrem Innern verbringen Ärzte, Grundstücksverkäufer, Eheknotenschürzer, Wahrsager, Rechtsanwälte, Fabrikanten sowie eine vielgestaltige und zahlreiche Schar Papiertaglöhner ihre Arbeitsstunden. Einige Minuten nach Geschäftsschluß leert sich die tausendköpfige Menschenmasse in die Straße. Sobald sie das Pflaster unter den Füßen fühlen, bekommen viele der Wolkenkratzerinsassen das Lauffieber. Wie besessen stürmen sie nach den Haltestellen der Straßenbahn. In diese pferchen sie sich bis zur Lebensgefährlichkeit zusammen, als wenn es die letzte Heimkehrgelegenheit wäre. Für die Hast hatte der Fremdling ranzigen Spott, aber nicht lange. Bald rennt er ebenso verrückt mit. Warum, mag der Himmel wissen.
Für die Beförderung in waagerechter Richtung steht den New Yorkern Untergrund-, Hoch- und Straßenbahn zur Verfügung. Die erste (und die zweite) haben meinen vollen Beifall gefunden. Eine Fahrgelegenheit von gleicher Übersichtlichkeit und Schnelligkeit ist schwerlich ein zweites Mal zu finden: Es besteht nur eine Wagenklasse, Einheitspreis sowie Nah- und Schnelldienst. Durch ihre Benutzung wird man sich eigentlich erst so richtig der Umständlichkeit der Berliner Untergrundbahn bewußt.
In Deutschlands Hauptstadt hat der Gast der Untergrundbahn erst mit sich einig zu werden über das Endziel der Fahrt, damit er weiß, für welche Strecke er zu zahlen hat; dann kauft er sich eine Karte, um deretwillen er von einem Beamten belästigt wird; hat dieser nichts auszusetzen, kann er am Zug entlang nach der gewählten Wagenklasse suchen; beim Ausgang sieht er sich nicht selten von den Ankömmlingen gehemmt. Auf der New Yorker (Hoch- und) Untergrundbahn wirft man beim Eintritt in den Bahnsteig die Karte oder den Nickel (Fünfcentstück) in einen Trichter, braucht nicht die Klasse zu suchen, weil bloß eine besteht, kann so weit fahren als einem beliebt und unbehindert davoneilen, weil die ankommenden Gäste auf der andern Seite eintreten. Hätte die Berliner Untergrundbahn den Massenansturm der New York er, sie bräche in einer Woche zusammen.
Über die Straßenbahn schimpft in New York alle Welt: die Anteilscheinbesitzer, die Benutzer und die Angestellten. Die Angestellten, weil sie zu schlecht bezahlt werden, die Benutzer, weil die Wagen überfüllt, schmutzig und zu langsam sind, die Besitzer, weil manche Gäste vergäßen, das Fahrgeld abzuladen und die Schaffner nicht immer daran dächten, daß sie für jeden eingenommenen Nickel die Leine zu ziehen haben. Die Gedächtnisschwäche der Schaffner führt jahraus jahrein zu vielen Entlassungen. Auf das pünktliche Ziehen der Leine wird nun einmal großer Wert gelegt. Sie ist nämlich mit einer Zähluhr verbunden. Für jeden Nickel soll der Schaffner einen Zug tun, damit die Bahngesellschaft weiß, wieviel Geld sie zu fordern hat. Nach alledem ist die große Wichtigkeit des Leineziehens einleuchtend; aber gerade darin sollen, nach der Angabe der Gesellschaft, auch die sonst gedächtnisstarken Angestellten zuweilen recht vergeßlich sein.
Die Erbauer der Stadt strebten offensichtlich nicht nach Schönheit, sondern bloß nach Zweckdienlichkeit. Ihre Straßen sind, abgesehen von denen des alten Stadtteils, schnurgerade, schneiden sich in gleich großen Abständen rechtwinklig, bilden regelmäßige Vierecke, Blocks genannt. Durch diese Anordnung hat der Stadtplan das Aussehen eines länglichen Schachbretts erhalten. In der Längsrichtung der Insel laufen die Avenues, in der Breitrichtung die Streets. Die Avenues sind die großen Verkehrsadern der Weltstadt. In allen läuft die Straßenbahn, in einer Anzahl die Hochbahn und auch die Untergrundbahn. Avenues zählt man dreizehn, Streets zwei- bis dreihundert. Anstatt schwer zu merkender Namen haben die Straßen Zahlen. Die Benummerung der Avenues geht von Osten nach Westen, die der Streets von Süden nach Norden.
Die Vorteile dieser Anordnung kommen dem fremdsprachigen Einwanderer sehr zustatten. Sie erspart ihm die unangenehme Durchfragerei; er kann sich selbst leicht zurechtfinden. An jeder Straßenecke ist es ihm möglich zu lesen, wo er sich befindet oder wieviel Häusergevierte er noch bis zu seinem Heim hat. jedenfalls eine sehr vernünftige Anlage; aber eintönig, ermüdend ist sie auch.
Das Wandern zwischen den langen, stracken Häuserreihen fängt bald an, recht langweilig zu werden. Hier findet man heraus, daß die Bauart der alten deutschen Städte eigentlich gar nicht so verdammenswert ist. Das in der amerikanischen Eintönigkeit ermüdete Auge sehnt sich nach europäischen Gassen mit ihren Krummlinien und Giebelhäusern. Überhaupt entdeckt man in der neuen Welt Vorzüge an seiner alten Heimat, die man früher nicht sehen wollte oder konnte. Man lernt eben sein eigenes Land erst kennen und schätzen, wenn man fremde Länder betrachtet.
Daß New York eintönig, kahl und abstoßend ist, geben schließlich auch die Eingeborenen zu. Aber es sei unbestreitbar die reichste, die mächtigste Stadt der ganzen Welt: 'The Empire City', bald werde sie auch die volkreichste sein, denn bis zur Einwohnerzahl Londons fehle ihr nicht mehr viel. Diese Hoffnungsseligkeit hat die Tatsachen für sich.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Stuttgart 1913