Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Kurt Faber
Ein Zwischendeckspassagier kommt nach Ellis Island

   Das also war New York. Und das dort drüben, das sich so kunterbunt übereinander türmte wie ein wildphantastisches Würfelspiel gewaltiger Riesen, das waren die berühmten Wolkenkratzer. Schwarz ragten die Türme in den abendlichen Himmel, und die protzigen, vergoldeten Kuppeln funkelten in der untergehenden Sonne.
   Langsam näherten wir uns den Docks von Hoboken. Die Musik spielte lustige Weisen, derweilen sich jedermann an Bord in seinen feinsten Staat warf. Es war wie ein Festtag. An der Pier war alles schwarz von Menschen. Sie winkten mit den Taschentüchern und schwenkten zahllose kleine Sternenbanner. Und die oben auf dem Promenadendeck antworteten in gleicher Weise. Ja, die dort oben hatten es gut! Sobald das Schiff ordentlich festgemacht war, nahmen sie den eleganten Lederkoffer zu Hand und spazierten über das Gangplank hinunter ins freie Land Amerika. Lauter feine Leute. Sie hatten Geld und ein Scheckbuch und obendrein noch allerlei Verwandte und Bekannte, die sie abholten und für sie sorgten. Wer aber war da in dem ganzen weiten Land Amerika, um für mich zu sorgen? Ich fing an, darüber nachzudenken, und zu ersten Mal in meinem Leben begann so etwas wie ein giftiger Proletarierneid in meinem Kopf zu rumoren.
   Die Sonne kam gerade hinter den Bergen hervorgekrochen, als wir am nächsten Tag von Zollbeamten geweckt wurden, die uns mit vielen Püffen und Kniffen und grausamen amerikanischen Flüchen mitsamt unserem Hab und Gut hinunter in eine riesige, scheunenartige Halle trieb. An den Wänden der Halle waren riesige Buchstaben angemalt, unter denen sich die Auswanderer nach dem Alphabet zu Nationen zu ordnen hatten. Dann kamen Beamte, die mit Kreide allerlei Zeichen auf das Gepäck malten. Die Zollrevision. Sie ging mit amerikanischer Fixigkeit vor sich. Warum auch nicht? Was konnte so ein armer Teufel von Zwischendeckspassagier an verzollbaren Kostbarkeiten mit sich führen?
   Nachdem auch diese Förmlichkeit erledigt war, ging es nach immer in demselben amerikanischen Zeitmaß weiter auf eine dreistöckige Arche Noah, die uns an Land bringen sollte.
   An Land? O nein! Der Weg, der von den Docks von Hoboken ins Land der Verheißung führt, ist noch endlos weit. Denn er führt über Ellis Island, die Insel der Tränen. Keinen Ort gibt es auf der weiten Erde, der im Lauf der Zeiten so viel Kummer und Not und so viele Tränen gesehen hat wie diese Insel. In die Legionen geht die Zahl derer, die mit vollen Segeln über das große Wasser gekommen sind, nur um sich hier, angesichts des gelobten Landes, im Gestrüpp der Paragraphen zu verlieren, die Onkel Sam für seine neuen Untertanen aufgerichtet hat als Vorgeschmack der "Freiheit". Auch bei uns begann die Angst vor Ellis Island umzugehen wie ein Gespenst. Die einen zitterten vor der ärztlichen Kontrolle, bei anderen begannen alte europäische Sünden aufzusteigen wie ein Menetekel. Mir selbst war gar nicht geheuer. 25 Dollars mußte man bei der Einwanderung als Zehrgeld aufweisen können, sonst wanderte man ohne Gnade wieder zurück nach Europa. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Je näher wir ans Ziel kamen, desto mehr wuchs die Erregung. Ein lebensgefährliches Gedränge entstand in dem engen Pferche. Die Männer zerdrückten die wallenden Federhüte ihrer Nachbarinnen und spuckten auf die kleinen Kinder, die wie hilflose Würmchen zwischen den Füßen der anderen auf dem Verdeck kauerten. Es war fürchterlich.
   Doch da waren wir schon längsseits der Insel der Tränen, am Fuße einer breiten hohen Freitreppe, über die es im "Time is money"-Tempo gerade hinaufging in das Haus des Schreckens. Durch ein weites Portal unter einem mächtigen Sternenbanner gelangten wir in eine weite Halle mit merkwürdiger, muffiger Luft. Zwischendeckodeur. Viel Zeit blieb jedoch nicht zu Betrachtungen. Immer im gleichen Tempo, mit Kisten und Kasten, mit Kind und Kegel wurde die lange Menschenschlange vorwärts getrieben.
   "Weiter, weiter! Nicht stehen bleiben! fuhr mich ein Beamter an, als ich einen Augenblick verschnaufen wollte, "so ein neugieriges Grünhorn! Da kannst du es einmal weit bringen hierzulande, wenn du dich an jeder Ecke einmal umsehen willst!"
   Ehe ich mich versah, stand ich in einem langen Pferch, in dem die Menschen dicht hintereinander standen und ihr Geld zählten. Gerade vor mir stand ein dicker Russe in einem Pelzmantel und zählte einmal ums andere seine Hundertrubelscheine. Wie ich ihn beneidete! Wie ich ihn haßte! Ja, das Lumpenpack hier hatte Geld! Das klimperte nur so mit den Batzen! Nur ich –
   Endlich stand ich selbst an der Spitze der Polonäse ins Land der Verheißung. Ein großer, glattrasierter, unheimlich amerikanisch aussehender Herr stand hinter einer Schranke. "Wieviel Geld haben Sie?" fragte er ohne Umschweife. "Hundert Dollar!" antwortete ich mit einem kühnen Griff nach dem Geldbeutel, denn hier, wo Sein oder Nichtsein die Frage war, kam es auf eine kleine Notlüge wahrscheinlich auch nicht mehr an. Die Lüge aber hatte sehr kurze Beine. Der Mann bestand darauf, daß ich meinen Schatz vorzeige, und so kam es denn ans Tageslicht, daß ich nur 10 Dollar Vermögen hatte.
   "Hm", meinte der Beamte, ohne eine Miene seines steinernen Yankeegesichts zu verziehen, "Ist das alles?"
   "Ja."
   "Und sie haben keine Verwandten oder Bekannten im Land?"
   "Nein."
   "Beruf?"
   Auf diese Frage war ich vorbereitet. "Wenn er dich fragt, was für einen Beruf du hast, so mußt du ihm ein recht handfestes Handwerk angeben", hatte man mir geraten.
   "Schlosser", log ich mit dem Brustton der Überzeugung. Das machte entschieden Eindruck auf den Beamten. Er betrachtete mich um eine Schattierung wohlgefälliger, während der ein paar englische Worte wechselte mit einem hinten stehenden Herrn, der aussah wie ein Pastor. Dann wandte er sich wieder an mich in einem so schönen Deutsch, wie ich es ihm niemals zugetraut hätte: "Na, meinetwegen mach, daß du weiter kommst, aber sieh mal zu, daß du nicht über deine eigenen Füße stolperst."
   Der freundliche Herr, mit dem der Beamte gesprochen hatte, war kein anderer als der Pastor des Deutsch-Lutherischen Emigrantenhauses. Er hatte gegenüber den Behörden die Garantie für mein Wohlverhalten übernommen und er mußte nun auch dafür sorgen, daß ich mit heiler Haut hinüber kam nach New York. Wir kamen in einen anderen großen Raum, wo die Leute in langen Reihen auf schmierigen Bänken saßen und ihr Bier direkt aus der Flasche tranken. Ich fand das unmanierlich, aber ich dachte mir, das gehöre sich wohl für einen freien Bürger. Der Herr Pastor bestellte Kaffee und Kuchen und bezahlte alles. Nachdem er noch eine Anzahl anderer deutscher Grünhörner zusammengebracht hatte, ging es mit dem flinken Motorboot durch das glitzernde Wasser hinüber ins Land der Verheißung.
   Im Nu waren wir an der Landungsbrücke von Castle Garden. Vor uns breitete sich der Batteriepark mit den staubigen Baumkronen und den vergilbten Blumenbeeten, und im Hintergrund türmten sich die Wolkenkratzer. Über den Kopf hinweg donnerten die Wagen der Hochbahn, und wie das dumpfe Brausen einer weit entfernten Brandung drang das Murmeln von Millionen Geräuschen ans Ohr. Das war die Stimme von New York.
   In einem jener hohen grauen Gebäude am Batteriepark, die in meinen Grünhornaugen schon Wolkenkratzer waren, befand sich das Deutsch-Lutherische Emigrantenheim, und ganz oben im obersten Stockwerk, von wo man eine wunderbare Aussicht hatte auf die weite Bai mit ihren unzähligen Lichtern, lag der große, helle Schlafsaal.
   Nie werde ich sie vergessen, jene erste Nacht in New York! Lange saß ich auf dem Bett und schaute wie gebannt hinunter auf das fremde Leben. Das elektrische Licht blitzte zwischen den Baumblättern am Batteriepark, und über die hohen Eisengerüste, die so phantastisch in das Dunkel hineinragten, brauste alle Augenblicke ein Hochbahnzug wie eine funkelnde, lichtumflutete Schlange.

Faber, Kurt
Rund um die Erde – Irrfahrten und Abenteuer eines Grünhorns
Ludwigshafen/Bodensee 1923

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