1897 - Raimund Jebens
Die Einwanderer
Am 20.11. kamen wir von Sandy Hook an. Es war der erste schöne, das heißt sonnige Tag: ruhige See, blauer Himmel, stille Luft. Auf Deck alles voll Erwartung und Freude - Musik, Tanz und helles Lachen. Da es bereits zu spät war, um noch den Hudson hinaufzufahren, so mußten wir in der Lower Bay (der Hudson-Mündung) vor Anker gehen.
Am nächsten Morgen war es so neblig, daß der Kapitän die Passagiere darauf vorbereitete, daß sie vielleicht auch diesen Tag noch auf die Einfahrt verzichten müßten! Indessen gegen zehn Uhr hatte der Himmel Erbarmen, die Sonne drang durch den Nebel hindurch, und unter beständigem Heulen der Dampfpfeife ging’s stromaufwärts. Links erscheint von Zeit zu Zeit ein Ausschnitt einer hügeligen Uferlandschaft mit Häusern und kahlen Bäumen. Sonst ist nichts zu sehen, nur Nebel und Wasser.
Da plötzlich - gegen elf Uhr - allgemeine Bewegung: »Die Liberty an Backbord«, und richtig - in unsicheren Umrissen zieht ein majestätisches Frauenbild auf hohem Sockel an uns vorüber. Und, als hätte die Fackel in ihrer hocherhobenen Rechten den Schleier gelichtet, wird es jetzt heller und heller, und da plötzlich tauchen auch dicht vor uns die Turmbauten New Yorks auf, vereinzelte Riesen, die auf das Zwergengeschlecht zu ihren Füßen (die drei- und vierstöckigen Häuser) stolz herabschauen. Rings um uns wimmelt es von Ferrybooten, großen und kleinen Seglern; rings heulen die Sirenen in allen Tonarten vom tiefsten Baß bis zum höchsten Diskant - Manhattan Island ist erreicht, links taucht Hoboken auf mit seinen Schuppen und Anlegestellen, und rechts spannt sich in eleganter Kühnheit die berühmte Brooklyner Brücke von New York über den East River nach der Schwesterstadt aus. Da sind auch die vier gelben Schornsteine unserer Landsmannes: »Kaiser Wilhelm der Große«. Er gab uns den letzten Abschiedsgruß, als wir Bremerhaven verließen; er hat uns dann eines Nachts überholt, und nun ist er es wieder, der uns in der neuen Welt den ersten Willkommensgruß entbietet. Mit gewandtem Manöver rücken wir an seine Seite. Unten auf dem Pier eine bewegte Menge: Tücherschwenken, Händewinken, Rufen, und oben auf dem Deck dasselbe; die ersten Fragen, die ersten Antworten, und auf beiden Seiten Lachen und Tränen der Freude. Endlich ist der Steg gelegt, und alles stürzt sich in die Arme. Der Auswanderer aber betritt klopfenden Herzens seine neue Welt - Amerika.
Freilich, zunächst möchte er an der »Liberty« fast irre werden: wie Herdenvieh werden sie alle, deren Karte nach New York lautet, in der Güterhalle zusammengetrieben; (die andern, nach Baltimore bestimmten, dürfen in New York überhaupt nicht an Land gehen!), und dann werden sie in einem elenden Ferryboot zusammengepfercht und so stehenden Fußes hinübertransportiert nach New York. Hier an der Südspitze der Insel (oder Halbinsel) Manhattan Island, dicht neben der klassischen, jetzt in ein Aquarium umgewandelten Eintrittspforte Castle Garden, werden die neuen Bürger der neuen Welt nun einer gründlichen Durchsiebung unterworfen: Barge Office heißt das Haus, wo jeder Neuling auf Herz und Nieren geprüft wird. Zuerst passieren sie im Gänsemarsch vier Medizinalbeamte: der erste kontrolliert die Impfkarten (sämtliche Zwischendecker müssen frisch geimpft sein, was von Kajütpassagieren nicht verlangt wird - o Logik!), der zweite kontrolliert - ich weiß nicht was; ein junger Arzt in kleidsamer Uniform endlich erledigt die General-Untersuchung, mit ein paar Griffen den Schädel auf Abnormitäten und Narben (Epilepsie!), die Hauttemperatur auf Fieber untersuchend. Alles, was nicht »koscher« erscheint, wird zur genaueren Untersuchung vorläufig beiseite gestellt. So passieren sie das erste Sieb ziemlich schnell. Nun weiter zwischen zwei Barrieren zum zweiten: Vor diesem schon teilt sich der Strom: an sechs bis acht Tischen sitzen Beamte über den Schiffslisten, die unser Zahlmeister vorlegt; da steht ein ganz genaues National [persönliche Daten], und alles wird nachgeprüft: »Können Sie lesen?« »Nein!« »Schreiben?« »Nein!« »Kannst du jüdisch schreiben oder lesen?« »Ja!« Dann: »Woher? Wohin? Verwandte? Wieviel Geld? Vorzeigen!« (60 Mark sind offiziell erforderlich), u.s.w. Jeder einzelne fliegt dann in eine andere Hand: der zum Wechselbureau, der zum railroad, der zum Telegraphenbureau, der zum Depot, wo er aufbewahrt wird, bis Verwandte ihn abholen. Alles das geht mit bewundernswerter Präzision und Schnelligkeit: die Beamten sprechen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Polnisch, und nur so ist es möglich, an einem Tage ca. 3.000 neue Bürger (was nicht ganz selten sein soll) dem Land der Zukunft zuzuführen. Wird die Aufnahme aus diesem oder jenem Grunde verweigert, so muß die Gesellschaft, die den Zurückgewiesenen gebracht hat, ihn auf ihre Kosten wieder heimbefördern. Nun, die Unsrigen waren alle koscher.
Jebens, Raimund
Nordamerikanische Reisebriefe
Naumburg/Saale 1899; Neudruck Stuttgart 1987
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Albrecht Jebens
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in den USA 1541 – 2001
Wien 2002