Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1879 - Friedrich Bodenstedt
Im Getümmel

Es war in der zehnten Morgenstunde des 29. Oktober, als unser Schiff in die Bai von New York einlief. Schon um 5 Uhr in der Frühe hatten wir ein Wachschiff passiert, das den "Herder" nach New York signalisierte. Ich kam nach einer unruhevollen Nacht erst später an Deck, doch noch früh genug, um das wundervolle Schauspiel der Einfahrt, am Leuchtturm von Sandy Hook vorüber, ganz zu genießen. Ich hatte mir nach allem, was sich schon darüber gehört und gelesen, die großartigsten Vorstellungen davon gemacht, und sie wurden durch die Wirklichkeit noch übertroffen. Der wolkenlose Himmel zeigte die sanft geschwungenen waldigen Höhenzüge der Inseln Long Island und Staten Island, die die Bai begrenzen, im reinsten Lichte und dabei in einem Farbenschimmer, wie nur der Herbst ihn erzeugt, der hier das Laub, bevor es welkend zur Erde fällt, so glühend färbt, als ob es im Sterben alle Glut wieder ausstrahlte, die es im Leben eingesogen.
   Am Saume der beiden lang- und weitgestreckten Inseln, die ansehnliche Ländergebiete für sich bilden, ziehen sich blühende Städte und Ortschaften hin, überragt von einer Menge schimmernder Villen und palastartiger Gebäude, die bis zu den waldumkräuselten Höhen hinaufsteigen.
   Dann geht es an den mächtigen Forts und Strandbatterien vorüber, deren einzelne Aufzählung hier zu weit führen würde, in den herrlichen, weitgespannten Hafen hinein, dessen Brustwehr sie bilden, und auf den ich, wie auch auf jene, später zurückkommen werde; hier sei nur so viel darüber bemerkt, daß er in seiner Größe den Eindruck macht, als ob in seinem Rahmen alle Schiffe der Welt zu gleicher Zeit Raum fänden, ohne einander zu beengen, und daß solchergestalt wie ein bewegliches Vorbild des ungeheuren Festlandes erscheint, wohin er uns führt, und das auch Raum genug für die Scharen rüstiger Menschen bietet, die aus allen Ländern der Welt zu ihm wallen mögen.
   Unser Dampfer legte im Hafen von Hoboken an, einer behäbig am Ufer des mächtigen Hudson sich ausdehnenden Stadt, welche, obwohl zum Staat New Jersey gehörend, als eine ländliche Vorstadt von New York zu betrachten ist, wo ihre meisten Bewohner, zum großen Teil aus wohlhabenden deutschen Kaufleuten bestehend, ihre Geschäftshäuser haben. Auf den riesigen Dampffähren (ferries), die ganzen Reihen von Wagen und Scharen von Passagieren Platz bieten und Tag und Nacht den Verkehr auf dem breiten, blauen Hudsonstrom vermitteln, fahren sie morgens hinüber in die lärmende Metropole, um nach vollendetem Tagewerk zu ihren in dem so ruhigen wie freundlichen Hoboken wohnenden Familien zurückzukehren.
   Der "Herder" ankerte vor dem großen Pier, welcher eigens für die Hamburger Dampfer gebaut ist und wo wir nun zuerst amerikanischen Boden betraten, während unser schnell ausgeladenes Reisegepäck von den scharfäugigen Zollbeamten auf die Unschuld seines Inhalts geprüft wurde. Ich bestieg dann einen Wagen, der mich in raschem Trabe nach der Barclay-Ferry brachte, von wo uns eine mächtige Dampffähre mit hohen, frei in der Luft arbeitenden Balanciers binnen einer Viertelstunde nach New York führte. Die Bauart der Fähre war mir etwas ganz Neues. Zu beiden Seiten hohe, lange bedeckte Räume mit Bänken für die Passagiere; der eine dieser Räume, welche füglich Säle genannt werden können, als Herrenkajüte bezeichnet, wo geraucht werden darf; der andere als Damenkajüte, wo übrigens auch alle nicht rauchenden Herren Zutritt haben. Vor und hinter diesen Räumen ist noch Platz genug, um sich im Freien zu ergehen und an der nach allen Seiten hin verlockenden Aussicht zu erlaben. In der Mitte, der Länge nach, ist ein schmaler Raum für die Büros, und zwischen diesen und den Kajüten befinden sich straßenlange Räume für Wagen und Pferde.
   Und diese Riesenfähren, deren fortwährend viele den gewaltigen Strom durchkreuzen, sind noch klein im Vergleich mit den hochgebauten, prächtig eingerichteten Vergnügungsdampfern, welche den Hudson befahren und nicht zu Unrecht schwimmende Paläste genannt werden.
   Was mir nun zunächst auffiel, wenn ich die Blicke von der Fähre auf die Hunderte von schimmernden Segeln, welche die blanke Wasserfläche belebten, und auf die endlos am anderen Ufer sich hinziehende Stadt schweifen ließ, war die wundersam helle Beleuchtung, in welcher sich mir alles zeigte. Selbst die fernsten meinem Auge erreichbaren Umrisse erschienen deutlicher und klarer, als mir dies seit meiner Rückkehr vom Orient je vorgekommen. Ich füge, vorausgreifend, gleich hinzu, daß diese erste, mich höchlich überraschende Wahrnehmung nicht als Ausnahmeerscheinung vereinzelt blieb, sondern während meines ganzen Aufenthaltes in Amerika, bei klarem Himmel, sich in allen Jahreszeiten wiederholte.
   Bei so wundersamer Beleuchtung nun, wie ich sie in Deutschland nur annähernd zuweilen auf der Hochebene von München gefunden, fiel mir alles um so schärfer in die Augen, was mir auf meiner Einfahrt in New York auf dem langen, aber von dem rüstigen Zweigespann rasch durchmessenen Wege von der Fähre bis zum Windsor-Hotel in der Fünften Avenue begegnete.
   Ich hatte schon in Hoboken meine Freude an den schönen, wohlgenährten Pferden gehabt, welche keiner Peitsche bedurften, um auszugreifen, als ob es sich um eine Wettfahrt handle; in New York fand ich bald, daß sie keine Ausnahme bildeten. Unter den Hunderten von Gespannen, die an uns vorüberrasselten, kam kein einziges Pferd unter die Augen, das nicht wohlgenährt und erfreulich anzusehen gewesen wäre. In den großen Geschäftsstraßen, durch welche mich der Weg zuerst führte, war ein Gewirr und Gedränge von Fuhrwerken und Menschen, so daß oft Halt gemacht werden mußte und ich bei dem unabsehbaren Durcheinander nicht begriff, wie überhaupt weiter zu kommen sei; aber es fand sich immer bald wieder ein Luftloch und die Pferde griffen dann um so rascher aus, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Die Wagen sausen oft so nahe aneinander vorüber, daß man sich der Besorgnis nicht erwehren kann, sie müßten sich anrennen und zerschmettern; allein die Amerikaner sind vortreffliche Kutscher und ihre Pferde sind durchweg kluge, leicht lenksame Tiere, was bekanntlich nur da der Fall ist, wo sie gut behandelt und genährt werden.
   Als wir aus dem Gewoge der belebtesten Geschäftsstraßen heraus waren, die sich um das Hauptpostamt, ein wahrhaft monumentales Gebäude, hinziehen, konnte das Auge freie Blicke auf die prächtigen Paläste, Parks und Squares werfen, an welchen wir vorüberflogen. Die breiten, schnurgerade und scheinbar endlos weit sich erstreckenden Avenuen mit ihren hochragenden Häusern, darunter Paläste von weißem Marmor, Granit und roten Ziegelsteinen, eröffnen Einblicke in eine Menge ebenso schnurgerade hinlaufender Querstraßen, deren Häuserreihen von Braunstein meist mit solch Einförmigkeit gebaut sind, daß ein Haus von dem andern nur durch seine Nummer zu unterscheiden ist. Aber reges Leben herrscht hier überall, wohin die Blicke schweifen. Während der ganzen Fahrt sah ich keine Spaziergänger im eigentlichen Sinne des Wortes, und ebenso wenig einen langsam fahrenden Wagen. Die Fußgänger gingen im Geschwindschritt, ohne sich nach rechts oder links umzusehen, und die zahlreichen Equipagen, worunter viele von allein fahrenden Damen gelenkte Einspänner, sogenannte Buggies, mit hohen, weit voneinander abstehenden und auffallend schmalen Rädern, suchten sich förmlich in Eile zu überbieten.
   Menschengedränge, Wagengerassel, ein buntes, lärmendes Durcheinander jeder Art gibt es in allen großen Städten und besonders, wo der Handel das Zepter führt, aber nirgends tritt es so massenhaft und betäubend auf, und vor allem: nirgends zeigt es sich so übersichtlich wie in New York , wo der Wirrwarr der lebenden Bilder sich in weiter gespannten Rahmen bewegt und alles von vornherein mehr auf Luft und Licht angelegt ist als in den älteren Weltstädten.
   Allein diese Luft schien auf alle, die sie atmen, eine seltsam erregende Wirkung zu üben; die fieberhafte Hast und Unruhe, welche sich in dem Treiben der Menschen auf den Straßen offenbarte, schien auch in mich gefahren zu sein und ganz betäubt und überwältigt von den Eindrücken des Tages, nach einer schlaflosen Nacht, kam ich im Windsor-Hotel an.
   Dieses im elegantesten Teil der Stadt, unweit des Central Park gelegene, palastartige Gebäude steht in dem Rufe, das mit dem größten Luxus eingerichtete Hotel in New York zu sein. Es blickt mit Tausenden von Fensteraugen in die Welt hinaus und scheint, von außen betrachtet, überhaupt aus nichts als roten Backsteinen und schimmernden Fenstern zu bestehen, bei einer Höhe von sieben stattlichen Stockwerken und einer Frontbreite, welche ein ganzes Häuserviertel (Block) der glänzenden Fünften Avenue einnimmt, von der 46. bis zur 47. Straße reichend.
   Durch das säulengetragene Portal gelangt man sofort in eine weite Halle, durch Hunderte von hutbedeckten Menschen belebt, wovon die einen, gruppenweise um einen hohen Spucknapf herumsitzend und die Beine nach allen möglichen Richtungen reckend und streckend, die neuesten Zeitungen lesen, die anderen in eifriger Unterhaltung bei dampfender Zigarre auf- und abwandeln. Wie ich später erfuhr, waren die meisten dieser Herren nicht im Hotel wohnende Gäste, sondern fanden sich da nur zu gewissen Tagesstunden eine, um Bekannte zu treffen, Geschäfte abzuwickeln, die neuesten Börsentelegramme zu lesen u.s.w. Jedes amerikanische Hotel höheren Ranges bietet in seinem Erdgeschoß eine jedermann zugänglich Versammlungshalle, die eine Menge nützlicher Bequemlichkeiten gewährt. Wer rasch einen Brief schreiben will, braucht bloß in das sogenannte Office zu gehen, wo alle Schreibmaterialien in Hülle und Fülle zu finden sind und wo immer verschiedene Gentlemen, den Hut auf dem Kopf zurückgeschoben, emsig drauflosschreiben, ohne daß sich einer um dem anderen bekümmerte. Wer einer Erfrischung bedarf, geht in das Nebenzimmer zur Bar (Schenktisch ist kein rechtes Wort dafür, denn am Schenktisch kann man sitzen, an der Bar nicht) und läßt sich ein Glas Bier oder Wein oder Cocktail geben, wozu er dann nach Belieben einen Imbiß nehmen kann, der in Gestalt von kaltem Braten, Schinken, Salat und dergleichen für jedermann in verschiedenen Schüsseln bereitsteht. Nur das Getränk wird bezahlt an der Bar, der Imbiß nicht. Wer sich rasieren und frisieren lassen will oder ein Bad nehmen will, braucht bloß in die betreffende Abteilung des Hotels zu gehen, wo er alles Nötige findet.
   Toilettengegenstände, Briefmarken, die meisten Zeitungen, Pamphlete und Bücher, alles ist im Erdgeschoß des Hotels zum Verkauf ausgestellt. Der Telegraph knarrt in einem fort, um die neuesten Kurse zu melden, und in den anstoßenden Zimmern stehen ganze Reihen von Billards, wo junge und auch ältere Gentlemen so eifrig spielen, daß sie, um sich freier bewegen zu können, die Röcke abgelegt, und die Hemdärmel in die Höhe gezogen, aber den unvermeidlichen Hut aufbehalten und nur halb in den Nacken geschoben haben, um den Augen mehr Freiheit zu geben.
   Erwägt man nun, daß alle diese Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten nicht nur jedem Bewohner des Hotels, sondern auch jedem anderen zu Gebote stehen, dem einzutreten gelüstet, so wird man begreifen, daß es in der weiten Halle des Erdgeschosses wie in den anstoßenden Räumen an Leben nicht fehlt. Man wird aber auch begreifen, daß einem neuen Ankömmling aus der Fremde dieses eigenartige Treiben einen seltsamen Eindruck machen muß, bis er es näher kennenlernt.
   Im Windsor-Hotel war das Büro, wo für die Wohngäste alles Geschäftliche besorgt wurde, zur Rechten in der Mitte der Flurhalle und nur durch eine Art von Ladentisch von dieser getrennt, so daß der Geschäftsführer einen bequemen Überblick nach allen Seiten hatte. Rechts und links vom Büro lagen zahllose Koffer und Gepäckstücke aufgestapelt, der eine Teil, um mit den Abreisenden nach dem Bahnhof, der andere, um mit den Angekommenen in ihre Gemächer spediert zu werden. Wer im Hotel Wohnung nimmt, muß zugleich für die volle Beköstigung mitzahlen, welche auf 3 Dollars täglich berechnet wird. Ich hatte dazu für ein bescheidenes Zimmer im vierten Stock, aber mit einem Badestübchen und sonstigen Bequemlichkeiten daneben, 2 Dollars, also im ganzen 5 Dollars täglich zu bezahlen.
   Die eigentlichen Logierzimmer sind durchschnittlich sehr einfach eingerichtet; den Hauptschmuck bildet ein vortreffliches Bett, und mehr verlangt der Amerikaner nicht, der am Tage seinen Geschäften nachgeht und seine freien Stunden in einem der großen, prächtig ausgestatteten Salons zubringt, die jedem Besucher des Hotels zur freien Verfügung stehen, um Besuche zu empfangen oder sich sonst darin aufzuhalten so viel er will.
   Alle Gemächer, Vorplätze, Korridore und Treppen des Hauses sind mit Teppichen versehen, und zwar in den eleganteren Etagen mit sehr kostbaren. Das Hotel hat eine Menge ständiger Gäste, welche dort jahrelang, ebenso andere, welche dort monatelang wohnen und nach Maßgabe der Dauer ihres Aufenthaltes bedeutende Preisermäßigungen genießen. Diese ständigen Gäste bestehen teils aus jungen Ehepaaren, welche aus dem fernen Westen ihre Hochzeitsreise nach New York machen und ihren Honigmond hier verleben; oder auch aus in der großen Weltstadt ansässigen jungen Familien, welche noch ein paar Jahre warten wollen, bis sie einen eigenen Hausstand gründen, der ihnen dann vielleicht nicht soviel Annehmlichkeiten bietet, als sie nach landesüblichen Begriffen im Hotel finden, wo sie prächtige Empfangszimmer, vortreffliche Bedienung und die auserwähltesten Gerichte von früh bis spät täglich in Hülle und Fülle haben.
   Diese ständigen Gäste, wozu auch viele Junggesellen gehören, sind also die eigentlichen Nutznießer der Vorteile amerikanischen Hotellebens, denn der kurz verweilende Reisende, der am teuersten dafür bezahlen muß, hat am wenigsten davon, da er doch schwerlich ohne Bekanntschaft bleibt, wo dann die große, in Amerika übliche Gastfreundschaft ihn selten zu den Hotelgenüssen kommen lassen wird.
   Die Gerechtigkeit erfordert zu sagen, daß diese Genüsse für den, der sich ihrer ganz erfreuen kann, nicht zu teuer bezahlt sind. Hier ein kleiner Beweis dafür in der kurzen Schilderung einer Tagesordnung, die ich, mehr als Beobachter denn als Genießender, ganz mitgemacht habe.
   Nachdem man sein Bad genommen und Toilette gemacht hat, begibt man sich in die glänzenden Speisesäle der ersten Etage zum Frühstück. Einige ziehen es vor, den Weg hinauf auf den weichen Teppichen zu wandeln, auf denen man seinen eigenen Schritt nicht hört. Die meisten jedoch benutzen den Aufzieher, der, ein kleines elegantes Zimmer für sich bildend, vom frühen Morgen bis zum späten Abend alle Etagen hindurch auf- und niederschwebt. Man gibt, auf einen Knopf drückend, ein Zeichen, daß man mitfahren will, und erwartet dann das Erscheinen des Aufzuges von oben oder unten. Sind unter den Wartenden Damen, oder auch nur Ansätze zu solchen, so entblößt man ehrerbietig sein Haupt beim Einsteigen und behält den Hut in der Hand, bis wieder ausgestiegen wird. In einem der Vorzimmer zu den Speisesälen wird der Hut abgelegt und beim Eintritt in den ersten Saal wird man von einem Oberaufseher des dienenden Personals empfangen, der feierlich voranschreitend jedem den einzunehmenden Platz anweist. Dieser Oberaufseher, der sein Geschäft mit der ruhigen Würde eines Hofmarschalls versieht, wird im Englischen "Headwaiter" genannt, was ich mit "Oberkellner" übersetzen würde, wenn er mit der eigentlichen Bedienung zu tun und vor allem wenn er mit dem Keller zu schaffen hätte, worauf doch das Wort Kellner hinweist. Allein für den Amerikaner ist das öffentliche Weintrinken in den Hotels durchaus verpönt.
   Hat man seinen Platz an einem der vielen im Saale umherstehenden Frühstückstische eingenommen, deren jeder auf seiner Mitte eine hohe kristallene Schale mit Früchten aller Art trägt, unter welchen duftende Apfelsinen und schwellende Weintrauben aus Kalifornien die Hauptrolle spielen, so überreicht einem der Aufwärter den gedruckten Speisezettel, der schon zum Frühstück alles enthält, was man sich nur zu einem auserlesenen Diner wünschen kann. Das Einzige, was nicht auf dem zierlich gedruckten und elegant gefaßten Zettel steht, wird durch die kurze, leise Frage ergänzt: "Tea or coffee? Tee oder Kaffee?"
   Ist diese Frage beantwortet, so stellt der Aufwärter zunächst vor den Gast ein großes Glas Eiswasser hin, worin sich soviel Eis befindet, daß für das Wasser wenig Platz übrigbleibt. Schon vorher haben die meisten Gäste die Früchte in Angriff genommen, wie aus den Apfelsinenschalen und Traubenresten auf den Tellern zu sehen. Auch dem Sellerie, der eine allbeliebte Vorspeise der Amerikaner bildet und von ihnen in Form von langen Mohrrüben oder Rettichen gezogen wird, spricht man tüchtig zu, so daß sich die hohen Gläser, in denen er weißschimmernd mit grüner Krone prangt, bald leeren. Kommt dann der dampfende Tee oder Kaffee, so wird erst ein tüchtiger Schluck Eiswasser genommen, denn der Amerikaner bewegt sich gern in Extremen. Zugleich mit den heißen Getränken erscheinen auch die bestellten substantielleren Gerichte, als da sind: gekochte, gebackene und gebratene See- und Flußfische; Geflügel aller Art, besonders Präriehühner, Rebhühner und Puter; Eierspeisen in mannigfaltigsten Gestalten, vom einfach gesottenen Ei angefangen bis zu dem mit Süßigkeiten oder Zwiebeln oder Trüffeln und Austern gefüllten Eierkuchen. Daß es an Fisch-, Fleisch- und Fruchtpasteten, Beefsteaks und Koteletts, und besonders an den beliebten Hammel- und Lammrippchen auch nicht fehlt, versteht sich von selbst. Austern, die man hier in auffallend großer Gestalt findet, so daß eine einzige mehr Stoff enthält als ein ganzes Dutzend Ostender, gehören gleichsam zum täglichen Brot und werden mehr genossen als dieses, das im trockenen Zustand dem Amerikaner unschmackhaft erscheint, weshalb er es nie ohne reichlichen Zusatz seiner trefflichen Butter zum Munde führt. Eine besondere Vorliebe aber hat er für alle magen- und zähneverderblichen heißen Gebäcke, unter denen die sogenannten "french rolls", dick mit rasch zerschmelzender Butter bestrichen, eine Hauptrolle beim Frühstück spielen. Die Austern werden in so vielerlei Art bereitet, daß es schwer ist, all die verschiedenen Bezeichnungen dafür zu behalten, als da sind: gebacken, gesotten, geschmort, geröstet, zu Suppen, Pasteten und Saucen verwendet, u.s.w.
   Von allen diesen Gerichten, zu denen ich noch viele andere nennen könnte, wenn es hier auf Vollständigkeit ankäme, hat der Gast nun die Auswahl. Soviel ich bemerken konnte, wurde von den meisten Gästen nicht vielerlei bestellt, aber mit nichts ganz aufgeräumt, und ich glaube, daß ein landeskundiger Freund nicht übertrieb, als er mir sagte, man könne mit dem, was täglich in einem großen amerikanischen Hotel übrigbleibt, ein halbes Tausend Menschen sättigen.
   An meinem Tische saßen ein paar mir und einander unbekannte Gentlemen, die die Speisekarte mit einem Ernst studierten, wie ein Feldherr die Karte eines zu erobernden Landes, dann die verschiedenartigsten Gerichte zu gleicher Zeit bestellten und sich darauf ganz in das Lesen der mitgebrachten Zeitungen versenkten, ohne die kein Frühstücksgast den Saal betritt. Als die verschiedenen Speisen nun zu gleicher Zeit gebracht wurden, führte der eine in großer Hast einen Eierkuchen mit Früchten, der andere ein Beefsteak zum Mund; dazwischen schlürften sie abwechselnd heißen Kaffee und Eiswasser, vertieften sich dann wieder in ihre Zeitungen und ließen alles übrige unberührt stehen.
   Auffallend war mir die Ruhe, die unter den vielen Menschen in den großen Räumen herrschte; man hörte weder lachen noch laut sprechen, alles hatte einen ernsten, feierlichen Anstrich, und ohne das Klirren und Klappern des Geschirrs und das Hin- und Hereilen der vielen Aufwärter hätte man bei geschlossenen Augen glauben können, in einer Kirche zu sein. Die Herren lasen andächtig ihre Morgenblätter, deren Rascheln beim umschlagen und auseinanderfalten man deutlich vernehmen konnte; die Damen unterhielten sich nur leise miteinander. Daß in Gegenwart von Damen nicht geraucht werden darf, versteht sich von selbst, aber in Amerika wird weit strenger darauf gehalten und spielen die Damen überhaupt eine ganz andere Rolle als bei uns zu Lande.
   Die Frühstücksstunden dauern bis 10 Uhr. Während derselben ist ein stetes Kommen und Gehen, und es fällt dabei bald in die Augen, daß man unter den wechselnden Gestalten eine gemischtere Gesellschaft findet als in europäischen Hotels ersten Ranges. In den alten Kulturländern, wo die Klassenunterschiede noch hervortreten, gibt sich damit auch eine gewisse Verschiedenheit in Kleidung und Haltung kund, die in Amerika weniger bemerkbar ist. Der wirklich gebildete Amerikaner steht in feinem Umgangsformen, die der Höflichkeit des Herzens entspringen, keinem Europäer nach, aber er hat nichts von jener Vornehmtuerei, nichts von jenem gespreizten Wesen, das man bei uns, selbst in gebildeten Kreisen, so häufig findet, und wodurch sich viele Vertreter bevorzugter Klassen von der Menge äußerlich minder begünstigter Staatsbürger zu unterscheiden suchen. Dazu kommt, daß es in Amerika (abgesehen von dem wenig zahlreichen Militär, wovon in den Städten nichts zu sehen ist) keine in die Augen fallenden Unterscheidungsmerkmale des Ranges und der Stellung gibt, also keine Bauern- noch sonstige besondere Volkstrachten, keine Uniformen und keine Orden.
   Dies soll hier weder als Tadel noch als Lob ausgesprochen werden, sondern lediglich als Erklärung der oben bemerkten Tatsache, daß in Amerika Vertreter der verschiedensten Stände sich leichter und bequemer gesellig zusammenfinden als bei uns. Ein reicher deutscher Bauer, der noch die Tracht seiner Väter trägt, wird, wenn er zur Stadt kommt, nicht im ersten Hotel absteigen, wie sein transatlantischer Standesgenosse, der Farmer, es tut, wenn seine Mittel es ihm erlauben. Dasselbe gilt von jedem Arbeiter, der es zu etwas gebracht hat, gleichviel, ob er es in einer Werkstatt oder in den Goldminen Kaliforniens erworben. Der Begriff des "Gentleman" erstreckt sich hier bis auf die untersten Arbeiter herab; jeder will es den Bessergestellten wenigstens in der äußeren Erscheinung gleichtun, die Kleidung nach demselben Schnitt und saubere Wäsche tragen. Die begüterten Amerikaner ihrerseits suchen alles Auffällige in der Kleidung zu vermeiden, und so zeigt der Durchschnitt der amerikanischen Männerwelt eine gewisse Einförmigkeit der äußeren Erscheinung, wie sie kein anderes mir bekanntes Land bietet. Anders ist es mit den Damen, deren Streben nach Luxus und Eleganz in auffallendem Gegensatz zu dem durchweg schlichten Auftreten der Männer steht.
   An den Mittagstafeln, wo drei Stunden hindurch immer neue Gäste erscheinen - eine Table d'hôte im deutschen Sinn des Wortes gibt es in amerikanischen Hotels nicht, – geht es belebter zu als beim Frühstück. Die Morgenzeitungen sind schon gelesen, die Abendzeitungen noch nicht erschienen, und so wird der Unterhaltung mehr Raum gegeben. Doch nicht so viel wie bei uns, besonders wenn guter Wein das Mahl würzt und die Zunge belebt. Das gilt, wie schon bemerkt, in Amerika nicht für schicklich, wo in den Hotels Eiswasser oder auch ein Glas Milch den Wein ersetzen muß. Deshalb hat der Amerikaner von seinem Diner, obwohl dieses zu den Genüssen des Frühstücks noch alle möglichen Suppen, Braten, Puddings und "ice-cream" bietet, auch keinen rechten Genuß, sondern betrachtet es mehr als ein notwendiges Geschäft, das möglichst schnell abgetan werden muß. Beim Abendessen geht es ebenso. In den Zwischenstunden gehen die meisten Männer ihren Geschäften und Ausflügen nach, während die Zurückbleibenden mit den Damen in der großen, prachtvollen Halle lustwandeln, die die ganze erste Etage durchzieht, oder die eleganten Parlours der Frontseite füllen, wo die älteren sich in Schaukelstühlen wiegen und die jüngeren durch die Fenster dem immer buntbewegten Treiben auf der Fünften Avenue zuschauen.
   In keinem anderen mir bekannten Land wirken die ersten Eindrücke des Volkslebens so fremdartig aufregend, so seltsam abstoßend, so ernsthaft komisch, so wunderlich verwirrend wie in Amerika. Der gewöhnliche Amerikaner scheint förmlich etwas darin zu suchen, ein unfreundliches Gesicht aufzusetzen, auf der Straße scheinbar teilnahmslos an allem vorüberzurennen, in öffentlichen Lokalen seine Beine in den unglaublichsten Stellungen zu zeigen und beim Sprechen die Worte halb zu verschlucken, halb durch die Nase zu quetschen. Erwägt man dazu die unter dem Volke noch ziemlich allgemein herrschende Gewohnheit des Tabakkauens, die es mit sich bringt, daß auf Eisenbahnen und in Wirtshäusern die hohen "spittoons" (Spuck-näpfe) von nah und fern sitzenden Gentlemen aus freiem Munde in einer Weise zum Zielpunkte genommen werden, wie Schützen nach der Scheibe schießen, und mit einer Sicherheit des Treffens, deren nicht jeder Büchsenschütze sich rühmen kann, und daß dieses wenig erbauliche Schauspiel mit kurzen Unterbrechungen so lange fortdauert, als man ihm Betrachtung schenkt, so hat man wenigstens ein paar der dem Fremden zunächst in die Augen springenden Züge amerikanischen Volkslebens. Dieses hat auch andere Züge aufzuweisen, welche dem Fremden befremdlich genug in die Ohren springen. Dazu gehört das übliche Pfeifen vieler junger Gentlemen, welche dadurch auf Eisenbahnen und in öffentlichen Lokalen ihrem Freiheitsgefühl nicht immer melodischen Ausdruck geben. Dann das unglaublich schrill gellende Geschrei der Schwärme von aufdringlichen Jungen, welche die neuesten Zeitungen zum Verkauf anbieten oder mit Wichskasten und Bürste hinter einem herlaufen, um auf bestaubte oder schmutzig gewordene Stiefel aufmerksam zu machen, in der Absicht, diesen für fünf Cents neuen Glanz zu geben. In vielen Straßen trifft man auch andere lärmende Jungen, welche weniger nützlichen Beschäftigungen obliegen, indem sie selbst am hellen Tage Freudenfeuer (bonfires) anzünden, über welche sich niemand freut als sie selbst, wenn die Funken weit umherfliegen und der schwärzende Rauch den Vorübergehenden ins Gesicht weht.
   Hat man sich erst etwas eingelebt, so erscheinen einem alle diese Dinge nur als kleine Störungen bei der Betrachtung des Bildes, welches das großartige Leben und Treiben der Weltstdt New York, wie auch der anderen großen Städte Amerikas, vor uns entrollt.
   Wir machten eine Fahrt durch den Central Park, den Stolz der New Yorker, und fuhren dann durch den Broadway –  der allen Amerikanern als die schönste Straße der Welt gilt – bis zum ältesten Teil der Stadt, der sogenannten Bowery (holländischen Ursprungs), die sich durch ihre engen, schmutzigen und gewundenen Gassen wesentlich von dem größeren, mit schachbrettartiger Regelmäßigkeit gebauten neueren Teil unterscheidet.
   Um einen klaren Überblick der die lange, schmale Manhattan-Insel ganz bedeckenden Metropole zu haben, muß man bei ihrem südlichst gelegenen Punkte, der sogenannten Battery, beginnen, welche wegen ihrer großen Rasenflächen, schattigen Baumgruppen und frischen Seeluft früher den Hauptzufluchtsort der Stadtbewohner während der heißen Jahreszeit bildete, bis mit der rasch wachsenden Ausdehnung der Neustadt ein neuer, weit größerer, der sogenannte Central Park entstand, dessen nördlicher Richtung allmählich alles elegante Leben folgte, die Bowery mit ihrem grünen Zubehör, die Battery darüber verlassend. Der Broadway fängt hier an und läuft, die ganze Länge der Insel durchziehend, noch über den Central Park hinaus; alle übrigen Straßen, welche parallel mit dem Broadway laufen, sind namenlos und werden nur durch Nummern unterschieden, als Erste Avenue, Zweite Avenue usw. So hat es sich gefügt, daß Broadway oft als allgemeine Bezeichnung für die ganze neuere Stadt gebraucht wird, im Gegensatz zu der mehr plebejischen alten Bowery, obgleich der Broadway aus seinen Anfängen auch noch einige Häuser von historischer Bedeutung aufzuweisen hat, wie z.B. das alte Kennedy-Haus, welches während des Unabhängigkeitskrieges abwechselnd die Wohnung von Lord Cornwallis, General Clinton, Lord Howe und General Washington war. Auch Talleyrand brachte einige Zeit unter seinem Dach zu.
   Wo jetzt das Postamt steht, stand einst eine alte holländische Kirche, deren Turm Benjamin Franklin während seines Aufenthalts in New York als Observatorium für seine elektrischen Experimente benutzte.
   Der Broadway ist jedenfalls die großartigste Geschäftsstraße, die mir je zu Augen gekommen; sie besteht fast nur aus Palästen, darunter viele von weißem Marmor, wenigstens in der Front, andere von Eisen und die übrigen aus roten Backsteinen aufgeführt. Die meisten dieser Gebäude sind von ungewöhnlicher Höhe; ich habe die Stockwerke nicht gezählt, denn es ist schwer, bei der hin- und herwogenden Menschenmenge auf einem Fleck stehen zu bleiben, will aber gern den gewöhnlichen Angaben glauben, daß die meisten dieser Häuser über vier und viele bis zu neun Stockwerken haben. Alle sehen neu aus, blank und schimmernd aus mit ihren zahlreichen großen Fenstern und den bis zu den Dächern aufsteigenden, durch ihre Menge und grellen Farben die Augen völlig verwirrenden Firmentafeln und Anzeigen aller Art. Denkt man sich nun die Breite dieser fünf englische Meilen langen Straße ganz im Verhältnis zu ihren stattlichen Bauten, die alle dem Handel dienen, und dazu einen hellen Himmel, der selbst die fernsten Gegenstände in klaren Umrissen erscheinen läßt, so kann man sich wenigstens eine annähernde Vorstellung von der Eigenartigkeit dieser imposanten merkantilen Rennbahn machen, welche sich von den großen Verkehrsadern der wichtigsten Handelsplätze der Alten Welt wesentlich dadurch unterscheidet, daß sie dem hindurchwogenden Menschenstrom mehr Licht, Luft und Raum bietet. Die Zahl der Fußgänger auf den Trottoirs mag noch so groß sein, die Menge der Equipagen und Fuhrwerke aller Art unübersehbar erscheinen: es gibt hier nie ein Stocken und Stauen oder Stoßen und Aneinanderrennen, es findet sich immer genug Platz zum Ausweichen für Pferde und Menschen, oder, um einen beliebten amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen: Ellenbogenraum für alle.
   Eine solche Mannigfaltigkeit charakteristischer Köpfe und malerischer Gewandung, wie jeder orientalischer Bazar sie zeigt, bietet der Broadway freilich nicht, und es ist deshalb übertrieben, wenn behauptet wird, daß alle Völker der Welt hier vertreten seien. Ich habe den Broadway oft durchwandert und nie einen Russen, Türken, Perser, Araber, Inder usw. gefunden, wenigstens nicht äußerlich erkennbar, im Gegenteil ist mir immer von neuem aufgefallen, daß die Menge der Menschen in New York eine so merkwürdige Gleichförmigkeit in Tracht und Haltung zeigt, wie man dergleichen in keiner Weltstadt sieht. Selbst die Neger, denen man oft genug begegnet, machen von dieser Regel keine Ausnahme, und nur die nur sehr vereinzelt vorkommenden Chinesen tragen noch ihren Zopf und landesübliches Zubehör.
   Wohl in keiner Hauptstadt der Alten Welt bietet die männliche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit eine so einförmige Schau wie in dem großen New York, trotz des frischen Zuflusses, den sie fortwährend erhält. Aber die Einwanderer sind vorwiegend irische, deutsche und skandinavische Arbeiter, welche sich so schnell der herrschenden Gangart anbequemen lernen wie Bauern, wenn sie unter die Soldaten kommen. Da man nun in New York, wie überhaupt in den amerikanischen Städten, kein Militär zu sehen bekommt, durch Geburt oder Stellung bevorzugte Klassen nicht vorhanden sind, den Hauptwertmesser des Menschen das Geld bildet, die meisten Reichen klein angefangen und bei harter Arbeit wenig Gelegenheit gehabt haben, feine Bildung und Manieren zu gewinnen, so erklärt sich leicht die erwähnte Gleichförmigkeit in Tracht und Haltung.
   Im Gegensatz zu den durchgehend schlicht gekleideten Männern, unter denen man selten ein durch Eleganz und vornehme Haltung sich auszeichnende Erscheinung findet, entfalten die Damen, nach Maßgabe ihrer Mittel, einen Luxus in der Toilette, der kaum in Paris und London überboten werden kann. Und die meisten kleiden sich mit viel Geschmack und bewegen sich mit einer ungezwungenen Anmut, die ihrer bevorzugten Stellung entspringt. Sie nehmen sich auch zu Pferde gewöhnlich besser aus als die Männer, die eine gewisse Nachlässigkeit in der Haltung beim Reiten so selten verleugnen wie beim Gehen.
   Wir begegneten im Central Park einer Menge eleganter Reiterinnen, aber keinem einzigen eleganten Reiter. Desgleichen sahen wir viele Buggies von jungen und älteren Damen mit einer Sicherheit gelenkt, als ob es ihr tägliches Geschäft wäre.
   Diener, Kutscher und Reitknechte sieht man selten bei solchen Rittern und Fahrten; die Damen wissen ohne sie fertig zu werden. Gute Pferde sind in Amerika weit billiger als bei uns und werden deshalb dort auch häufiger in Familien von bescheidenem Einkünften gehalten; gute Diener aber sind schwer zu finden und müssen teuer bezahlt werden. Man sieht sie deshalb selbst in wohlhabenden Häusern weit seltener als bei uns.
   Der in seinen Anlagen großartige, aber noch junge Central Park bildet ein Parallelogramm von dritthalb englischen Meilen Länge und einer halben Meile Breite.
   Von seiner grünen Herrlichkeit war nichts mehr zu sehen; die heftigen Herbststürme hatten die Blätter schon von den Bäumen geblasen, die in ihrer Nacktheit zeigten, daß sie noch nicht viel Zeit gehabt hatten, mächtig heranzuwachsen, da die Anlage des Parks erst im Jahr 1858 begonnen wurde.
   Die Bodenerhebungen, welche bei der Battery beginnen und das Rückgrat der Manhattan-Insel bilden, durchziehen den Park von einem Ende zum anderen, bald sich zu schönen Aussichtspunkten erhöhend auf einen ansehnlichen, künstlich hergestellten See und durch Flüsse belebte Täler, bald selbst, infolge menschlicher Nachhilfe allerlei kleine Alpenszenerien vorstellend, mit Felspartien, Abhängen, Schluchten und romantischem Zubehör. Ich habe den Park im Sommer wieder besucht und gefunden, daß er seinen Ruhm wohl verdient, in Anbetracht der großen Schwierigkeiten, welche bei seiner Anlage zu überwinden waren. Schönere Bäume findet man in der alten Battery, auf deren Westseite Castle Garden sich erhebt, ein unschöner, turmartiger Bau, der früher als Festungswerk zum Schutz der Insel diente, dann in eine Musikhalle verwandelt wurde, und jetzt weltbekannt ist als erster Zufluchtsort für der Massen der Einwanderer aus Europa, welche ein Unterkommen in Amerika suchen. In den weiten Räumen von Castle Garden, wohin sie gleich nach der Landung von eigens dazu angestellten Beamten geführt werden, finden sie für die erste Nacht Kost und Schlafstelle unentgeltlich, dazu Gelegenheit, ihr mitgebrachtes Geld in landesübliche Münze umzusetzen und sich über alles weitere Rat zu holen. Die meisten ziehen dann bald weiter, dem fernen Westen zu, wenn sie nicht, wie das so oft geschieht, bei ihrer ersten Umschau in New York gewiegten Gaunern in die Hände fallen, die zu Hunderten auf die grünen Ankömmlinge Jagd machen, um ihnen auf die verführerischte Weise die Taschen zu erleichtern.
   Ein bewegteres Bild und ergreifenderes Bild als die große Einwandererhalle von Castle Garden bietet, kann man sich kaum vorstellen. Wohl drückt sich in manchem männlichen Gesichte Mut und Hoffnung aus, aber der Gesamteindruck ist doch ein tief wehmütiger. Die meisten Frauen und Kinder sind während der langen Fahrt im Zwischendeck aus der Seekrankheit nicht herausgekommen, nun atmen sie zum ersten Mal wieder Landluft und sind auch für die erste Nacht in der fremden Welt geborgen, doch unter so verwirrenden Eindrücken, daß sie schwer zu Ruhe kommen können. Schon am nächsten Tag müssen sie ein neues Unterkommen suchen, wie es gehen will. Die alte Heimat – nach welcher sich viele wohl schon jetzt nach den überstandenen Prüfungen zurücksehnen – Tausende von Meilen hinter sich, eine ihnen unbekannt Welt vor sich, müssen sie vielleicht noch Tausende von Meilen reisen, ehe sie eine neue Heimat finden.
   [Ellis Island war nur zwischen 1892 und 1924 in Betrieb.]
   Zum Frühstück ging ich gewöhnlich in das sehr elegant und sauber gehaltene Parker'sche Restaurant und hatte dabei eine große Verkehrsstraße zu kreuzen, wo von früh bis spät ein so ohrenzerreißender Lärm herrschte, als ob alle Mächte der Hölle losgelassen wären. Selbst das buntbewegte Leben im Broadway erschien mir, verglichen mit diesem Höllenlärm, der alle Häuser erbeben machte, nur wie ein Kinderspiel auf Teppichen.
   Eine von hohen, schlanken Pfeilern getragene Eisenbahn mit zwei Gleisen führt, fast in gleicher Höhe mit den Hausdächern, die Mitte der Straße entlang, so daß sich eigentlich zwei Straßen bilden: eine oben in der Luft und eine andere auf dem festen Boden. Die obere mit ihren unaufhörlich rasselnden Zügen gewährt einen imposanten Anblick, besonders am Abend, wenn die erleuchteten Waggons wie durch die Finsternis fahrende Feuerwagen erschienen - aber sie zu hören ist schrecklich.

Bodenstedt, Friedrich
Vom Atlantischen zum Stillen Ozean
Leipzig 1882

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