Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1882 - Friedrich Bodenstedt
Chicago nach dem Feuer

Unter allen Städten der Neue Welt ist Chicago diejenige, in welcher die Eigenart amerikanischen Lebens und Webens sich am erstaunlichsten offenbart. Diese Eigenart besteht in einem Unternehmungsgeist, der in der Großartigkeit seiner Entwürfe keine Unmöglichkeiten kennt und deshalb in der Kühnheit und Schnelligkeit ihrer Ausführung vor keinem Hindernis zurückbebt. So ist in einer flachen, sumpfigen Gegend an den Ufern Chicago-Flusses bei seiner Mündung in den Michigan-See, wo vor fünfzig Jahren noch die Wigwams der Rothäute standen, eine Stadt aus dem Boden hervorgezaubert worden, welche heute schon eine halbe Million Einwohner zählt und bei ihrem beispiellosen Wachstum diese Zahl im Verlauf eines Jahrzehnts leicht verdoppeln kann.
   Erst im Jahre 1837, als Königin Victoria den Thron von England bestieg, wurde Chicago als Stadt inkorporiert, war aber noch lange Zeit hindurch den häufigen Überschwemmungen des gewaltigen Michigan-Sees ausgesetzt, gegen welche sich die Bewohner nur durch eine künstliche Erhöhung des Bodens sichern konnten, wonach dann die Entwicklung der neuen Weltstadt mit märchenhafter Geschwindigkeit vor sich ging, so daß sie vor dem großen Brand, der im Oktober 1871 drei Tage lang in ihr wütete und 17.450 Häuser in Asche verwandelte, schon gegen 300.000 Einwohner zählte. Unter den abgebrannten Gebäuden befanden sich 41 Kirchen, 3 Hotels, 16 Theater und Hallen, dazu große Getreidespeicher mit ungeheuren Werten.
   Allein schon drei Jahre später waren die zerstörten Stadtteile wieder aufgebaut, prächtiger als zuvor und vor allem durch solidere Bauart mehr gegen Feuersgefahr gesichert als früher, da die meisten Häuser aus Holz bestanden.
   In der Gegend, wo ich wohnte und wo das Feuer am heftigsten gewütet hatte, zeigte man mir ein Holzhaus, welches wie durch ein Wunder inmitten der Flammen unversehrt geblieben ist, geschützt durch die Bäume, die es umgeben und zum Teil selbst von dem Glutregen beschädigt wurden. Mein Weg führte mich jeden Tag an dem infolge des glühenden Anhauchs über seine Jahr alt aussehenden, einsam stehen gebliebenen Hauses vorüber, und wenn dies in Begleitung geschah, so wurde es mir jedes Mal als eine besondere Merkwürdigkeit gezeigt.
   Ich habe niemals über den ungeheuren Brand klagen hören von denen, die ihn miterlebt; sie erzählen davon wie triumphierende Krieger von einer gewonnenen Schlacht, welche auch für die Sieger allerlei schwer zu verwindende Verluste mit sich gebracht, aber durch bleibende Vorteile weit überwogen werden. Es ist, als wäre Chicago durch die zugleich verheerende und läuternde Glut erst recht zum Bewußtsein seiner Bedeutung gekommen, indem es bei diesem Anlaß die Teilnahme der Welt in einer Weise erfahren, die ihm höheren Gewinn gebracht als den materiellen Ersatz für das durch den Brand Verlorene. Und schon dieser bloße materielle Ersatz soll an und für sich bedeutend genug gewesen sein, um binnen Jahresfrist die Herstellung alles durch die Flammen Zerstörten zu ermöglichen. Ja, dieses würde sich, bei der Raschheit der von allen Seiten geleisteten Hilfe, noch weit schneller gemacht haben, wenn der lange und strenge Winter nicht dazwischengekommen wäre, welcher die meisten Obdachlosen - deren Zahl sich über 90.000 belief - zwang, vorläufig in rasch aufgeführten Bretterhäusern ein Unterkommen zu suchen. Man hat berechnet, daß in der Zeit vom 15. April bis zum 15. Dezember 1872, also (mit Ausschluß der Sonntage) binnen 200 Werktagen mit acht Arbeitsstunden täglich, in jeder Stunde ein vier- bis sechsstöckiges Haus entstanden ist. Und während dieser Zeit haben Arbeiter und Baumeister bessere Tage gehabt als vorher und nachher. Um aber zu begreifen, woher die Mittel zu so rascher Wiederherstellung gekommen, muß man wissen, daß eine Menge großer Kapitalisten in New York, Boston, Philadelphia, wie auch in London, Paris und Brüssel Teilhaber vieler der bedeutendsten Geschäftshäuser von Chicago sind. Es lag in ihrem eigenen Interesse, die Geschäfte nicht ins Stocken kommen zu lassen, wo schleunige und nachdrückliche Hilfe bald wieder reichen Gewinn versprach, der dann auch nicht ausgeblieben ist. Seit seinem großen Brande hat Chicago einen Aufschwung genommen, der es in die vorderste Reihe der bedeutendsten Handelsstädte der Welt stellt. Seine außerordentlich günstige Lage, welche den schnellsten Verkehr zu Wasser und zu Lande ermöglicht, macht es zum größten Handelsplatz für alles, was der Mensch zu seiner Nahrung bedarf. Aus den herdenreichen Prärien, die durch stetig zunehmende Besiedlung mehr und mehr für den Ackerbau gewonnen werden, strömt ihm Getreide und Schlachtvieh in solchen Massen zu, daß der Umsatz darin eine Hauptquelle des Reichtums von Chicago bildet. Seine Porkpackings, d.h. die großen Schlachthäuser, wo die Schweine, jährlich nach Millionen zählend, für die Ausfuhr zubereitet werden, und seine Stockyards, d.h. die großen Viehhöfe, die immer für lebendigen Nachschub zu sorgen haben, umfassen einen hinlänglichen Flächenraum, um als ansehnliche Stadt für sich gelten zu können.
   Die Ackerbauer in den Prärien nehmen sich, wenn das Korn reift, nicht die Zeit, ihre Ernten erst in die Scheunen zu bringen und Vorräte für den Handel aufzuspeichern: die Maschinen, welche zum Mähen gebraucht werden, besorgen auch zugleich das Dreschen und die Sonderung der Spreu vom Korn, welches gleich auf dem Felde in Säcke getan und mit der Bahn nach Chicago spediert wird, wo die Riesenspeicher es aufnehmen, die den ganzen Hafendamm turmhoch umschließen. Diese ungeheuren, bis zu neun Stockwerken sich erhebenden Ziegelbauten werden Elevators (Aufzieher) genannt nach den Hebemaschinen, welche die ankommenden Ladungen mit erstaunlicher Schnelligkeit in die verschiedenen Stockwerke befördern. Sie stehen zugleich in naher Verbindung mit den an ihnen vorbeifahrenden Eisenbahnen und mit den Schiffskanälen, so daß die mit Getreide beladenen Waggons in die unteren Räume der Elevatoren einfahren können, um dort im Handumdrehen ihrer Last enthoben zu werden. Und mit derselben Leichtigkeit besorgt der Elevator die Verpackung seiner Vorräte in die Schiffe, deren immer eine ganze Flotte Mehl und Getreide in ferne Länder schickt.
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Unter den vielen Riesenbauten haben mir die vornehmsten Hotels am besten gefallen, unter denen einige, wie das Grand Pacific und das Palmer House, mir noch imposanter vorkamen als die größten Hotels in New York. Durch meinen Mangel an Bewunderung für das neue Court House bin ich ein paar Mal angestoßen, denn die Chicagoer sind stolz darauf, und unter allen, die mir rühmend davon sprachen, fand ich nur einen, dem ich klar machen konnte, warum es mir nicht gefiel. Es war noch im Bau begriffen und zeigte schon im ersten Geschoß eine äußere Überladung mit Pfeilern, die nichts zu tragen hatten und dem gewaltigen Mauerwerk wie angeklebt erschienen, so daß ich nicht ahnte, wo das in der Höhe noch damit hinaus sollte. Unter den vielen glänzenden Villen in den breiten Avenuen, welche gegen den Michigan-See auslaufen, habe ich auch nur wenige gefunden, die von Stilgefühl und Geschmack zeugten. Daran tragen gewiß die Baumeister den geringsten Teil der Schuld, denn sie müssen sich nach den Wünschen ihrer Auftraggeber richten, welche ihren "Residenzen", wie die Privatwohnungen genannt werden, gern etwas absonderlich in die Augen Fallendes auftürmen oder anhängen.
   Dagegen machen die großen Geschäftshäuser, in welchen sich doch der eigentliche Genius loci offenbart, durchweg einen erfreulichen, oft sogar einen imposanten Eindruck durch das Ebenmaß ihrer Verhältnisse. Hier, in der Beschränkung des gegebenen Raumes, haben die Architekten schwierige, aber klar vorgezeichnete Aufgaben glücklich gelöst durch planvolle Gliederung und durch geschickte Verwendung des Eisens als Baumaterial. In den Geschäftsstraßen, welche die oben erwähnten Avenuen durchschneiden, die zumeist nach den Präsidenten der Vereinigten Staaten benannt sind, wie Washington, Monroe, Adams usw. - findet man ganze Reihen stattlicher Paläste von monumentaler Bauart, in welcher Zweckmäßigkeit zur Trägerin von Eleganz oder Schönheit geworden. Doch ist es schwer, sich des ruhigen Anblicks dieser Riesenbauten zu erfreuen, da die Straßen von früh bis spät in einer Weise belebt sind, daß man unwillkürlich von dem Menschenstrom mit fortgerissen wird; dazu kommt, gerade wie in New York, das Schreien der Zeitungsjungen und sonstiger ambulanter Verkäufer und das Gerassel der ununterbrochenen Reihen Straßenwagen auf den verschiedenen Bahnlinien. An den Trottoirs laufen endlose Reihen von Telegraphenstangen hin, so hoch wie Mastbäume, und die Hauptstraßen werden nicht bloß der Länge nach, sondern auch oben querüber von Drahtwerk eingesponnen, welches, von fern gesehen, netzartig dicht erscheint. Die Trottoirs der Geschäftsstraßen sind breit, aber in der Flucht ungleich, so daß sie hier und da stufenweise ab- und aufwärts führen. Bei dem märchenhaft raschen Wiederaufbau der abgebrannten Stadtteile begab es sich, daß zu wenig Rücksicht genommen wurde auf den sumpfigen Boden, welcher wohl die alten Holzhäuser tragen konnte, aber nicht so die neuen, aus Stein und Eisen aufgeführten Paläste. Zu den mancherlei hieraus entsprungenen Unebenheiten kam noch die erhöhte Schwierigkeit der Kanalisierung und Wasserableitung.
   Da mußte rasch Abhilfe geschaffen werden, und dies geschah nach einem Plane, dessen Ausführung noch märchenhafter erschien als der schnelle Wiederaufbau der Stadt. Der Boden wurde an den tiefer gelegenen Stellen um acht Fuß erhöht, und dieser Erhöhung mußten natürlich die Riesenbauten, welche darauf standen, folgen, wenn man sie nicht niederreißen wollte, was noch weit größeren Schaden verursacht haben würde als die vorangegangen Feuersbrunst, denn diese erweckte die Teilnahme und Hilfe der ganzen Welt, während die Chicagoer bei der Ausführung ihres kühnen Planes, einen ganzen, schon fertig dastehenden Stadtteil von der Stelle zu rücken, um ihm eine solidere Basis zu geben, lediglich auf sich selbst angewiesen blieben. Aber es fanden sich Architekten, welche das Riesenwerk sofort in Angriff nahmen und glücklich zu Ende führten, und unter ihnen stand August Bauer in erster Reihe. Es wurden Häuserkolosse von der Größe des alten Schlosses in Berlin gehoben und von der Stelle gerückt, ohne daß die Bewohner sich im geringsten dadurch beeinträchtigt fühlten. Ich berichte natürlich nur nach Hörensagen, allein die ausnahmslose Bestätigung der Berichte von Augenzeugen bestätigt ihre Wahrheit. Ich habe das house moving - dies ist der stehenden Ausdruck für das "Hausrücken" - nur an kleineren Beispielen gesehen, wo es natürlich auch durch dieselben Mittel bewirkt wird wie bei großen, so daß man eins aus dem andern leicht begreifen kann. Allein der Mensch ist einmal dazu angelegt, daß sein Staunen wächst mit der Größe des Gegenstandes. Und so habe ich mir das Palmer House, ein Riesenhotel, das Tausende von Gästen beherbergen kann, oft darauf angesehen, wie es möglich gewesen, daß seine immer zahlreichen Gäste, unter welchen Hunderte, die der sogenannten floating population angehören, jahraus jahrein darin wohnen, sorglos trinken, essen, schlafen, Karten und Billard spielen konnten, während unten darum her Hunderte von Arbeitern beschäftigt waren, vermittels Hebebäumen und Bockwinden den Koloß in die Höhe zu schrauben. Ich konnte mit meinem Laienverstande überhaupt nicht begreifen, daß unter die Mauern geschobene Balken von den gewaltigen Steinmassen nicht zerdrückt wurden, statt sie durch ihre Schrauben zu heben. Die Hebung geht natürlich nur langsam vor sich, zollweise zu berechnen, aber mit einer Gleichmäßigkeit, welche jede Gefahr ausschließt. Soll das Haus dann an eine andere Stelle gerückt werden, so wird dies durch Walzen bewerkstelligt, und die Fortbewegung macht sich leichter und schneller als das Heben.
   Übrigens sind die Unkosten bei dieser Hausrückerei so groß, daß man sich in Europa wohl schwer zur Nachahmung des amerikanischen house moving entschließen wird, und sicher nicht, wo es sich gleich um ganze Stadtteile handelt.
   Einen auffallenden Gegensatz zu den aus der Asche auferstandenen Prachtpalästen findet man in den nach Tausenden zählenden und meist sehr leicht gebauten Holzhäusern und Häuschen in anderen Teilen der Stadt. Während dort alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln getroffen sind, um die Bauten vor Feuersgefahr zu schützen, springt hier die Gefahr eines neuen Verheerungsbrandes überall in die Augen. Die meisten Straßen sind schlecht gepflastert, viele gar nicht, und selbst in solchen, die ein erträgliches Pflaster haben und ansehnliche Wohnhäuser zu beiden Seiten, findet man noch hölzerne Trottoirs in meist schauerlichem Zustand, so daß es abends entschieden gefährlich ist, darauf zu gehen, zumal die schwankenden Bretterwege bald auf- und bald abwärts führen, über Stufen, die man nur mit der größten Vorsicht betreten kann.
   Doch in Amerika und, wie wir gesehen haben, besonders in Chicago, machen sich die Veränderungen so schnell, daß die Schilderungen einer gegebenen Zeit dadurch leicht überholt werden, und es eigentlich gar nicht der Mühe wert ist, auf Einzelheiten einzugehen, wo diese nicht ein charakteristisches Gepräge tragen. Charakteristisch aber werden noch auf lange Zeit hinaus die Gegensätze bleiben, in welchen sich das ganze amerikanische Leben bewegt, und welche nirgends so schroff in die Augen springen wie in Chicago, weil in dieser jüngsten Weltstadt noch alles unvermittelt zutage tritt, was in anderen großen Städten schon eine gewisse Ausgleichung erfahren hat.

Bodenstedt, Friedrich
Vom Atlantischen zum Stillen Ozean
Leipzig 1882

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