1902 - Edward William Freeman
Die Pforten der Hölle: Das Ende von St. Pierre
Martinique
Am 8. Mai stand ich auf dem Deck meines Schiffes, der Roddam, und wurde zum Augenzeugen des Verderbens, das St. Pierre heimsuchte. Vormals eine schöne Stadt auf Martinique von farbenprächtigem neapolitanischem Aussehen, belebt von 40.000 fröhlichen Bewohnern, schwarz und weiß, wurde sie innerhalb von anderthalb Minuten dem Erdboden gleich gemacht.
Ich beobachtete gerade den Rauch, der sachte aus dem Krater von Mont Pelée stieg, als der Vulkan explodierte. Der Berg zerbarst, eine Riesenwolke weißglühenden Staubes fegte wie ein Tornado auf die Stadt hinunter, vernichtete sie in einem einzigen Moment so vollständig, als ob das Schwert Gottes herabgefahren wäre, stürzte auf die See, direkt auf mein Schiff zu, und nahm es in ihre Gewalt wie auch alle anderen Fahrzeuge in der Bucht.
Das alles sah ich, und ich glaube, es war das schrecklichste und fürchterlichste Ereignis, dass je auf der Erde stattfand. Ich kenne die Geschichten von Sodom und Gomorrha, wie der Herr Schwefel und Feuer aus dem Himmel über sie kommen ließ, von Pompeji, von den großen Erdbeben von Port Royal, Lissabon und Yeddo [Tokio], wie der Krakatau explodierte und das Antlitz Javas veränderte – aber nichts, was ich darüber gelesen habe, kommt dem Horror von St. Pierre gleich. Ich glaube, dass die Sintflut, auch wenn sie alles Leben auf der Erde mit sich nahm, weniger schrecklich war, denn Ertrinken ist angenehmer. Dies hier waren bewegte Bilder aus der Hölle.
Zum ersten und hoffentlich auch zum letzten Mal in meinem Leben werde ich nun die Geschichte dieses entsetzlichen Morgens erzählen. Niemals werde ich aus freien Stücken daran zurückdenken, so lange ich lebe, auch nicht darüber sprechen, und schreiben schon gar nicht.
Damit Sie verstehen, wieso ich und die Roddam an diesem 8. Mai vor St. Pierre waren, muss ich mit dem Anfang beginnen. Dieser Anfang ist ganz geruhsam, aber die Geschichte endet in einem Strudel von Schwefel und Feuer.
Also, ich war seit vier Jahren Kapitän der Roddam und fuhr im direkten Handel zwischen London und Westindien mit der üblichen und eher uninteressanten Ladung zu den verschiedensten Inseln. Am 11. April verließ ich London, kam nach Trinidad am 30., löschte Ladung und lief am 2. Mai wieder aus, bei schönem, sonnigen Tropenwetter. Ich hatte gehört, dass der Mont Pelée Rauchwolken ausstieß. Ich hielt das nicht für bedeutsam – Berge haben schon immer geraucht, ohne zu bersten und Tod und Verderben zu bringen.
Auf Grenada nahmen wir 21 Mann an Bord, schwarze Arbeiter, und Supercargo Campbell. Damit waren wir 45 Leute an Bord. Am 4. Mai, einem Sonntag, erreichten wir Barbados, und hier gab es telegrafische Nachrichten von Martinique; es habe eine Eruption gegeben, so hörten wir, und eine Zuckerplantage sei verschwunden, verschluckt vom Vulkan. Nun erst wurden wir ein bisschen nervös. Der Mann, der uns die Nachrichten von Land brachte, mahnte uns zu Vorsicht, und ich dachte, dass wir vielleicht besser nicht nach St. Pierre fahren sollten. Wir entschieden uns aber, es zu versuchen, liefen am 6. aus und erreichten St. Lucia am 7.. Hier löschten wir Ladung, und ich versuchte, ein Telegramm nach Martinique zu schicken, die Verbindung war aber zusammengebrochen. Da es keine neuen Nachrichten gab, entschieden wir, selber hinzufahren und nachzusehen. Um Mitternacht fuhren wir los und gerieten in einen heftigen Sturm – aber wir fuhren weiter, bis wir Land sichteten, und bewegten uns dann langsam an der Küste entlang.
Als am 8. Mai die Sonne aufging und die Insel deutlich zu sehen war, bot sich ein fantastischer Anblick. So etwas werde ich in meinem Leben nie wieder zu Gesicht bekommen. Hinter uns war es hell und klar, aber voraus, hinter St. Pierre, sah es dunkel aus, und der Pelée rauchte malerisch. Aus allen Seiten und oben wie unten erschienen Rauchschwaden wie große Wollknäuel, die sich zu großen Blumenkohlformen ringelten. Feuer war nicht zu sehen, nur diese ungeheure rollende Masse aus Rauch, und als wir in die Bucht einfuhren, begann feiner Staub sich auf uns niederzulassen.
Eine leuchtende Sonne erschien, und die kleine Stadt wirkte munter und nett. Sie erstreckte sich vom Ufer des tiefblauen Wassers einen steilen Hang hinan, die krummen engen Straßen reichten von Stockwerk zu Stockwerk, die Türme der Kathedrale blitzten in der Sonne, und im Hintergrund stand dichtes grünes Laubwerk. Die Häuser bestanden aus Stein und fröhlich roten Dächern.
In der Bucht, nahe am Strand, lag eine keine Flotte von Booten und Dampfern. Der Dampfer Roraima von der Quebec-Linie lag gerade innerhalb des äußersten Bojenringes, etwa 300 Meter vom Strand entfernt. Und die Grappler, das Reparaturschiff der Kabelfirma, dampfte gerade in den Hafen ein und fischte dabei nach den Enden des gebrochenen Kabels. Als wir einfuhren, rief über das Wasser Glockengeläut zur Frühmesse – es war Himmelfahrtstag.
Um 6.45 Uhr lagen wir vor Anker, etwa 400 Meter von der Roraima entfernt. Beide Schiffe lagen mit den Bug zum Land, der Strömung folgend. Gleich fuhr unser Agent, Mr. Joseph Plissoneau, zu uns hinaus. Wir begrüßten uns, ich war auf dem Oberdeck, Supercargo Campbell auf dem Niedergang, Plissoneau in seinem Boot, das längsseits kam. Er zog uns auf und fragte uns, was wir denn am Himmelfahrtstag hier zu suchen hätten, wo jeder seinen Feiertag genösse und kein Schauermann zu uns herauskommen würde, um sich mit der Ladung zu beschäftigen. Er meinte, wir sollten auf eine kleine Vergnügungsfahrt gehen und an einem anderen Tag wiederkommen.
Nach seinen Angaben gab es in St. Pierre Unruhe. Am Tag vorher waren die meisten Läden geschlossen geblieben, einige Familien waren geflüchtet, Plissoneau selbst hatte Frau und Kinder nach St. Lucia geschickt, einige hatten ihre Wertsachen auf das französische Kriegsschiff gebracht, das vor Fort de France, der Marinebasis, lag.
So sprachen wir über die Lage, und ob wir an Land gehen sollten, um zu herauszufinden, wie wir unsere Ladung loswerden könnten, oder ob wir weiterfahren sollten nach Guadeloupe. Unterdessen fiel still der weiße Staub weiter, lag schon dick auf dem Deck, auf unseren Uniformen, auf allem. Und dann, unvermittelt, ging Mont Pelée los und brach das Gespräch für immer ab.
Es gab ein plötzliches Gebrüll, das Erde und Meer erschütterte. Der Berg hob sich, blies aus, wurde von oben bis unten entzwei gerissen. Aus dem riesigen Schlund quoll eine Säule blitzender Flammen und eine große, schwarze, hohe Wolke.
Das war es – nur dieses eine donnernde Krachen der alles zertrümmernden Explosion, ein großer Lichtblitz und dann die Wolke, die aus dem großen Riss hervorbrach und den Berghang auf die dem Untergang geweihte Stadt hinunterstürzte. Sie kam wie ein Tornado, zermalmte alles auf ihrem Weg und breitete sich unten wie ein Fächer aus; sie vernichtete alles auf den unteren Hängen, fuhr hernieder auf St. Pierre, wo die Leute auf dem Weg zur Messe waren, hüllte in einem Augenblick jede Straße in Finsternis und Staub und fegte dann in Richtung auf die Fahrzeuge im Hafen und kam direkt auf die Roddam zu – ein alles verschlingender Tornado aus Feuer aus dem Inneren des Berges.
Es gab keine Flammen außer den gewaltigen Blitzen der Explosion, als der Berg in die Luft ging. Es war einfach nur eine Wolke aus feinem Staub, die die Stadt traf. Pulverisierter Bimsstein, glaube ich, aufgeheizt zu unbekannter Temperatur. In anderthalb Minuten raste sie von den Höhen des Pelée bis hinunter zum Hafen, 8 Kilometer entfernt, versengte den Berghang und die Hügel, zerstörte in seiner Wut jedes Haus in St. Pierre und brachte jeden einzelnen der 40.000 Einwohner wie auch alles andere Leben um, auf das sie traf, bis hin zu den Insekten in der Luft. Als sie das Wasser der Bucht erreichte, türmte sie große Wellen auf, die auf die kleine Gruppe von Schiffen einschlugen, die Roraima stark auf die Seite legten, die Roddam halb unter sich begruben und die Grappler sofort auf den Grund der See schickten. Ihr Getöse erfüllte die Luft und Dunkelheit verschluckte alles Licht.
Es wurde dunkel: eine dichte, undurchdringliche Dunkelheit, schwärzer als die schwärzeste Nacht. In der Stadt zeigten sich große Feuer, aber sie gaben keine Helligkeit. Man konnte die Dunkelheit mit Händen greifen, fühlen, wie sie sich gegen das Gesicht presste. Und über dem Brüllen des Feuertornados erhoben sich wilde Schreie, grausige, unmenschliche Töne, wie das Schreien von Seevögeln in Not.
Es war genau 7.45 Uhr, als Pelée zerbarst. In dem Moment blickte ich auf den Berg, und mir war sofort klar, dass es nicht lange dauern würde, bis er den Tod brächte. Gebannt beobachte ich für einen Augenblick, wie die Wolke herunterrollte und sich ausbreitete, und rief dann Plissoneau in seinem Boot zu, er solle an Bord kommen, dann könne er besser sehen. Campbell war gerade an Deck geklettert, der Agent war ihm gefolgt, als wir sahen, wie die Stadt verschlungen wurde.
Da merkten wir, dass wir selbst in Gefahr waren. Es gab nur eines: Schutz suchen. Wir rannten alle im gleichen Moment los, und ich fand mich im Kartenraum wieder. Dann wurde das Schiff wie von einer Riesenfaust getroffen.
Wie ein Wirbelwind traf uns die Staubwolke. Die Roddam legte sich weit über – wären die Bullaugen im unteren Deck offen gewesen, wären wir sofort gesunken. Der heiße Staub fiel über uns her vom Bug bis zum Heck, setzte alles in Brand, wirbelte als reißendes Unwetter daher und füllte das Schiff bis in den letzten Winkel. Alle an Deck, Campbell und viele Matrosen, wurden über Bord geschleudert, um in der kochenden See zu ertrinken. Andere, die sich unter Deck in Sicherheit bringen wollten, wurden im Lauf getroffen und schrien vor Schmerz, als die heiße Masse ihr Fleisch versengte. Ein lodernder, blendender Schauer aus Staub ergoss sich in den Kartenraum und versengte mir Augen, Gesicht und Hände.
Zwei Minuten hielt ich die Schmerzen aus; sie schienen mir wie zwei Jahre. Ich fragte mich, ob der Tod überhaupt käme. Einen gewissen Eindruck, wie es war, bekommt man, wenn man sich vorstellt, man ginge in eine Schmiedewerkstatt, nähme rotglühenden Staub in den Hand, reibe sich damit die Hände ein und drücke ihn ins Gesicht – so bekommt man eine gewisse, aber sehr unvollständige Ahnung, wie es tatsächlich war. Das schlimmste war, dass die Luft so voll mit heißem Staub war, dass man ihn mit jedem Atemzug in den Mund und in die Lungen bekam, sodass man innen wie außen verbrannt wurde.
Geblendet und nach Atem ringend rannte ich nach draußen. Gott sei Dank! Die Wolke zog weiter, man konnte die Luft wieder atmen. Aber immer noch war es dunkle Nacht. Ich tappte zur Brücke und stolperte dabei über die Körper meiner Leute. Die Decksplanken schwelten und mit jedem Schritt wurden meine Füße mehr und mehr versengt, und alles, was ich berührte, versengte meine Hände. Und dann, überall vor mir, überall an der Küste, in der ganzen Stadt sprangen Feuerzungen auf. Es war wie in Dantes Inferno, nur hundert Mal so schlimm.
Von einem Ende bis zum anderen stand die Stadt in Flammen. Am stärksten wüteten sie im nördlichen Teil, der dem Vulkan am nächsten war. Im südlichen Teil konnte ich Gestalten erkennen, die wild umherrannten. Schreie von Gepeinigten hallten über das Wasser. Ich sah viele schreiend ins Wasser stürzen. Das südliche Ende der Stadt war dem vollen Ansturm der Eruption entgangen, und es schien, als ob es Hoffnung geben könne für die, die den ersten Schock überlebt hatten. Aber wenn der Tod auch langsam kam, er kam umso sicherer – niemand in St. Pierre hat diesen Morgen überlebt. Staub und Asche holten die Gestalten ein oder gewaltige kochende Wellen ertränkten sie.
Überall um mich herum hörte ich durchdringende Schmerzensschreie, die das Brausen der Flammen übertönten. Das ruhige Wasser des Hafens wurde zu berghohen Wellen aufgewühlt, das Schiff tanzte wie ein Korken, so dass ich kaum stehen konnte. Ich hörte Männer wie Verrückte auf den Decks herumrennen, immer wieder warf sich jemand über Bord, um in den kochenden Wellen zu ertrinken.
Als Erstes mussten wir hier wegkommen. Ich wusste nicht, ob ich noch eine Mannschaft zusammenbekommen würde, um das Schiff zu bedienen. Ich fing an, Befehle zu schreien, um die Männer (wenn es denn noch welche gab) zusammenzurufen. Ich signalisierte dem Maschinenraum »Volle Kraft rückwärts« und bediente den Telegrafen mit den Ellenbogen – meine Hände waren zu verbrannt, um den Hebel anzufassen.
Schließlich antwortete ein Matrose meinen Befehlen. Ich schickte ihn fort, um herauszufinden, wer noch lebte, und die Dunkelheit verschluckte ihn wieder. Dann bekam ich den Ersten Offizier zu Gesicht. Ich befahl ihm, nach vorn zu gehen und nachzuprüfen, ob die Ankerkette noch hielt. Er antwortete, er könne sich nicht bewegen, weil er so schwer verletzt sei. Er starb ungefähr eine Dreiviertelstunde später unter schrecklichen Schmerzen. Ich selbst war auch hilflos und konnte nur Anweisungen geben.
Nach und nach kam eine Mannschaft zusammen. Der Zweite und der Dritte Ingenieur hatten alles gut im Maschinenraum überstanden; als der Staubregen einsetzte, hatten sie die Lüftung schließen können und kamen so unverletzt davon, ebenso wie der Heizer, der Wache hatte. Zwei Heizer waren sofort getötet worden, ein dritter hatte zu schwere Verbrennungen, um sich bewegen zu können. Einige wenige waren im vorderen Logis leicht verletzt davongekommen. Es stellte sich heraus, dass ich über einen Bootsmann und fünf Matrosen verfügen konnte. Zwei Mann befahl ich ans Steuerrad, einem befahl ich, alles über Bord zu werfen, was brannte und was er bewegen konnte. Die anderen bereiteten unsere Abfahrt vor. Sie stellten das Ankerspill frei und die Ingenieure gaben volle Kraft rückwärts, und so ließen wir die Ankerkette ausrauschen, bis sie brach. Dann stellten wir fest, dass die Steuerung auf der Steuerbordseite blockiert war.
Nun war ich ziemlich fertig. Das Schiff war nicht zu kontrollieren, das Feuer wurde jeden Moment größer, die Wellen trafen uns unbarmherzig; und in der pechschwarzen Finsternis konnten wir nichts sehen als die brennende Stadt und die Flammen auf den brennenden Schiffen in der Bucht. Da die Häuser alle in Brand standen, gab es zum Glück Licht genug, dass wir das Ufer sehen und eine Strandung vermeiden konnten.
Die beiden Ingenieure unter Deck, Pyle und Schleswick, waren gut bei der Arbeit und hielten das Schiff entsprechend meinen Befehlen von der Brücke aus in Bewegung. Sie veranlassten die Heizer, den richtigen Dampfdruck zu halten. Infernalisches Arbeiten muss es gewesen sein in der Gluthitze, obwohl es dort unten deutlich kühler war als auf Deck. Ruß und Staub waren in die Maschinen geraten und die Steuerungsanlage war von Staub und Wrackteilen blockiert. Wir brauchten anderthalb Stunden, das Schiff unter Kontrolle zu bekommen, und die meiste Zeit trieben wir nur ein paar Schiffslängen vom Strand entfernt.
Der heiße Staub regnete die ganze Zeit auf uns herab und briet uns bei lebendigem Leib. Auf der Brücke, wo er am dicksten lag, war es so heiß, dass die Sohlen meiner Schuhe völlig durchbrannten. Ich schickte einen Mann, mir meine dicken Winterstiefel zu holen, die ich im letzten Winter in Hamburg gekauft hatte – sie waren genau das richtige für diesen Notfall.
Vergebens versuchten wir, diesen schrecklichen Horror hinter uns zu lassen. Das Schiff kämpfte wie ein leidendes, verwundetes Ungeheuer, nach vorn und nach achtern treibend, von den Wellen immer mehr in Richtung Ufer getragen, sich der Gefahr bewusst, aber unfähig, sich in irgendeine Richtung zu bewegen außer vorwärts und rückwärts. Und am Ufer brausten die Flammen, und Stöhnen, Flüche und Schreie kamen aus allen Teilen des Schiffes von den unsichtbaren Gepeinigten, für die wir nichts tun konnten.
Wieder schien es mir, als brauchte ich sehr lange zum Sterben. Das Schiff war ein schwimmender Glutofen, der Staub lag überall zentimerdick, Persennige, Decksaufbauten, Boote, Tauwerk, alles stand in hellen Flammen. Jeder Atemzug war eine Qual. Noch viel schlimmer als die Hitze und die Verbrennungen war das schreckliche Gefühl des Erstickens und das Würgen infolge der dicken, heißen Luft.
Mehr als ein Mal während unserer wilden und hilflosen Fahrten vorwärts und rückwärts waren wir in Gefahr, mit der Roraima zu kollidieren. Einmal trieben wir nur knapp 50 Meter an ihr vorbei, und ich konnte die Menschen an Bord sehen und deutlich ihre Schreie über dem Getöse der Wellen hören. Achtern stand sie ganz in Flammen, Rauch kam aus den unteren Decks, und vorne drängten sich Passagiere und Mannschaften. Stahlmasten und Schornsteine waren weg und offensichtlich war ihr Anker blockiert. Wir konnten nur die Maschinen auf achtern stellen und auf Abstand gehen; Hilfe stand außer Frage, selbst wenn wir die Roddam längsseits hätten legen können.
Wie ich schon gesagt habe, dauerte es anderthalb Stunden, bis die Steuerung wieder funktionierte. 90 Minuten Treiben erschienen wie eine 90 Jahre dauernde Reise durch ein Inferno. Aber schließlich konnten wir uns von Land abwenden und auf die offene See hinaus halten. Alle Kompasse waren zerstört, sodass ich nur das Schiff mit dem Heck auf Land ausrichten und auf diese Weise versuchen konnte, so gut wie möglich der Finsternis zu entkommen.
Nach geraumer Zeit schien es heller zu werden, und wenn ein Mann für einen Moment den Kampf mit dem Feuer einstellen konnte, kümmerte er sich um die Verletzten. Aber mittlerweile war die Holztäfelung der Kabinen in Brand geraten, und wir konnten das Übergreifen der Flammen nur dadurch verhindern, dass wir jeden Brandherd möglichst schnell löschten.
Zunächst fanden wir nur zwei Leichen. Aber 15 Verwundete, verbrannt und so verkrümmt, dass wir sie nicht mehr erkennen konnten, wurden an Deck gebracht und am ruhigsten Platz niedergelegt – mehr konnten wir für sie nicht tun. Einer, der um sein Leben in den Laderaum gesprungen war, lag dort immer noch, ein Arm und ein Bein waren gebrochen. Der Tod hat sich acht Gequälten während der Fahrt gnädig angenommen.
Als wir die Bucht verließen, drehte ich mich um, um einen letzten Blick auf St. Pierre zu werfen. Die Flammen wüteten immer noch wild, kein Lebenszeichen war zu sehen. Die Wellen rollten immer noch stark. Hinterher habe ich erfahren, dass die Roddam als einziges Schiff davongekommen ist.
Um die fünf Stunden dampften wir durch die undurchdringliche Dunkelheit; je länger wir aber fuhren, desto heller wurde es. Das erleichterte uns über die Maßen.
Schließlich erreichten wir Castries, den Hafen von St. Lucia. Es war gegen fünf Uhr am Nachmittag. Der Hafenmeister kam zu uns heraus, als wir einliefen. Kein Wunder, dass er uns nicht erkannte.
Als wir abgefahren waren, um die 18 Stunden vorher, war die Roddam blitzblank, schwarz und weiß gestrichen, mit einem leuchtend roten Schornstein. Jetzt war sie mehr ein Geisterschiff als sonst etwas, eine gruselige Erscheinung, bedeckt von etwas, was unsichtbarer Farbe jemals am nächsten gekommen ist. Sie war über und über in stumpfes Grau gehüllt, die wenigen Gestalten, die an Deck lagen oder umherliefen, waren komplett mit Asche bedeckt: Köpfe, Hände, Bärte, Kleidung, jeder Zentimeter.
Ich ging zum Schiffsagenten, der mich von früher gut kannte. Aber erst, als ich den Mund aufmachte und redete und er meine Stimme erkannte, wusste er, wer ich war. »Kapitän«, sagte er, »wo kommen Sie denn bloß her?« Wie er mir später erzählte, hätte ich geantwortet: »Von den Pforten der Hölle!«
Freeman, Edward W.
The awful doom of St. Pierre
in: Pearson's Magazine 14,1902
Übersetzung: U: Keller